aus: Rokko´s Adventures #2
(erschienen Dez. 2007)
Text: Rokko
Photos: Klaus Pichler
Sie kommen aus Oakland/Kalifornien und nennen sich Sleepytime Gorilla Museum. EVOLVER-Kollege Rokko ging auf Affenjagd und sprach mit den Experimental-Rockern zwischen Voodoo-Theater und rituellen Feuertaufen. 03.12.2008
Wo also anfangen bei Sleepytime Gorilla Museum, Teil eines Rhizoms, das in alle Richtungen die möglichsten und unmöglichsten Verbindungen hat, sich aus diesen speist, um wiederum andere zu ernähren? Beginnen wir dort, wo es am meisten wehtut - bei den einzelnen MitgliederInnen. Sie sind nämlich allesamt Königinnen und Könige ihres Faches und haben schon mehr gefickt, als sie gepißt haben (kleiner Scherz am Rande).
Nach dem Einleitungs-Gag bitte die volle Aufmerksamkeit auf den weiteren Text richten! Fangen wir an mit einer lieblosen Aufzählung der Museumsbelegschaft in zufälliger Reihenfolge: Matthias Bossi (Schlagzeug, Percussion, Glockenspiel, Xylophon), Michael "everything but the violin" Mellender (alles außer Violine und hauptsächlich Percussion), Carla "negative space to Michael" Kihlstedt (außer Violine noch Gitarre und Zither), Dan "I am the metaller" Rathbun (Baß, Laute) und Nils Frykdahl (Hauptstimmgeber, Gitarre, Flöte). Zudem setzt jedes Individuum noch seine Stimme ein und werkt in höchster Eleganz und Perfektion an selbstgebauten oder -gefundenen Instrumenten herum.
Gegründet wurden sie 1999 in Oakland, California ("Smaller and cheaper than San Francisco") und sind damit Bestandteil der berühmten Bay Area Scene, wo so wunderbare wie leider bereits verstorbene Labels wie Vaccination und Amarillo zu Hause waren und eine noch immer ziemlich lebhafte Szene netzwerkt, so Little Danny Rathbun: "Natürlich ist nicht alles, was aus Oakland kommt, große Klasse. Man hört auch viel Scheiß in der Gegend, aber es gibt tatsächlich einen Haufen guter Projekte, und die Umgebung hat eine Geschichte: The Residents, Negativland, Dead Kennedys und Primus, um nur einige zu nennen. Mit Vaccination Records war das zusätzlich noch so wie eine große Familie von Bands: Giant Ant Farm, Idiot Flesh, Charming Hostess - viele von denen habe ich auch im Studio aufgenommen."
Diesem Morast an Eigenständigkeit, Zusammenarbeit und Sumpffieber ist schließlich Sleepytime Gorilla Museum entwachsen. Projekte wie Skeleton Key, Tin Hat (Trio), Faun Fables, 2 Foot Yard, Book of Knots, Acid Rain und inkBoat haben dabei neben den bereits erwähnten Charming Hostess und Idiot Flesh eine gewichtige Rolle gespielt bzw. tun das noch immer. Eine unsichtbare Ansiedlung zwischen obsolete Begriffe wie U- und E-Musik liegt bei dieser künstlerischen Streuweite von Experimentaltheater bis Schweinchenröck auf der Hand - und es verwundert auch nicht weiter, daß Carla Kihlstedt im November 2007 das alljährlich stattfindende Festival Music Unlimited in Wels kuratierte, das seit 1987 einen ähnlichen Anspruch, einen angenehm offenen, auf sehr sympathische und erfolgreiche Weise vertritt: Zwischen Fred Frith, Bulbul, Peter Brötzmann, Irène Schweizer, Dälek und The Ex werden keine Grenzposten aufgebaut, sondern unverbindliche wie verbindende Experimente gewagt.
Im Schatten von Lordi
Drei Besetzungswechsel hat es seit Band-Gründung gegeben, aber mit dem jetzigen Line-up ist das Quintett sehr zufrieden, so Matthias Bossi: "Ja, das ist jetzt eine tolle Crew. Jeder von uns tourt gerne, was auch sehr wichtig ist. Wir sind zwar gerade zum ersten Mal in Europa, aber die USA und Kanada haben wir ja schon oft durchkreuzt." Und wie funktioniert das mit den Zusammenkünften, wenn jedes aktive Mitglied tausend Projekte nebenherfährt? "Wir proben unregelmäßig und intensiv, vor einer Tour oft zehn Abende hindurch - aber zwischen den Touren passiert meistens nichts. Es kann schon sein, daß wir uns innerhalb von sechs Monaten gar nicht sehen."
SGM haben die Ehre, The End Records - dasselbe Label wie Lordi - zu bespielen. Bossi: "Das sind ja echte Superstars bei euch in Europa, die haben eigene Lordi-Restaurants, Lordi-Cola, Lordi-Kredidkarten ... und sie klingen wie Kiss. Ich nutze gleich diese Gelegenheit, um die Eröffnung meines Franchising-Hühnerrestaurants anzukündigen: 'Father Bossi´s All Time Chicken'. Danach machen wir eine Flasche Lordi-Cola in unserem Tourbus auf, die wir uns extra für so einen besonderen Moment aufgehoben haben. Es wäre auch super, wenn wir in Europa ihren Support liefern könnten, das wäre eine wundervolle Erfahrung - auch wenn unsere Kostüme im Vergleich zu denen von Lordi ziemlich abgetragen wirken."
Nils Frykdahl: "Ich würde mir eine andere Nase auf der Bühne aufsetzen, aber das wär´s auch schon gewesen. Nein, im Ernst: The End wollten, daß wir ein neues Album für sie machen, und im Zuge dessen haben wir auch ein altes bei ihnen wiederveröffentlicht (Anm. d. Verf.: es handelt sich um "The Grand Opening and Closing", das Debütalbum von 2001). Sie sind wirklich gute Leute, arbeiten sehr hart. Sie sind begeisterte Musik-Fans, die auch noch das Glück haben, gute Geschäftsleute zu sein. Früher haben wir immer mit befreundeten Künstlern zusammengearbeitet, die selbst ein Label gegründet, aber keinen Geschäftssinn hatten. Unser erstes Label zum Beispiel druckte nur seinen Namen auf die Rückseite der CD, um den Vertrieb zu gewährleisten. Das war auch super zu der Zeit, aber jetzt haben wir das Glück, daß wir mit einer Plattenfirma zusammenarbeiten, die sich auch geschäftlich gut orientieren kann und uns aktiv unterstützt."
An dieser Stelle der Unterhaltung schleicht ein Kerl auffällig-unauffällig um SGMs Tourbus herum, und wir beobachten den potentiellen Autodieb schon eine Zeitlang - bis er auf einmal seinen Hosenstall öffnet und voller Elan und mit was für einer Freude auf das Vehikel uriniert. Erst schauen sich die Busbesitzer perplex an, bis Matthias Bossi losläuft und schreit: "Das Schwein hol´ ich mir aber!" Das Schwein macht den Reißverschluß zu und läuft davon. Nach zehn Minuten kommt Bossi verschwitzt und schnaufend zurück: "Der geht heute ins Konzert, das weiß ich jetzt. Den werde ich mir von der Bühne schnappen, der ist so was von im Arsch. Ich werde ihn aufrufen: 'Unseren nächsten Song widmen wir dem Typen, der uns auf den Bus gepißt hat.' "
Leider ist der Typ dann zu feige, um sich zu melden, und versucht sich mit seinen zwei Metern hinter einer zierlichen Dame zu verstecken. Das alles sieht so armselig aus, daß Matthias Bossi mit einer lockeren Handbewegung ein "wurscht is´" in den Raum wirft, während er den Kopf schüttelt und seine Augen kurz geschlossen hält.
Das Konzert selbst übertraf meine Erwartungen. Ich hatte zuvor Bedenken, daß die schwierigen Arrangements live ziemlich gezwungen wirken könnten: Eine Avant-Rock-Supergroup mit Hang zur Performance-Art hockt in einem clever verpackten Panzersafe, musiziert zum Gabelgeklapper des Landadels und hält dazu ernstes Mienenspiel. Doch die Show machte trotz des hohen Anspruches ziemlich viel Spaß; die Inszenierung mit den geheimnisvollen Masken und Roben wirkte nicht übergestülpt, sondern schien frei von der Leber zu kommen, zwischen Voodoo-Theater, Grindcore, Industrial-Gehämmer, Death-Metal-Gegrunze, rituellen Feuertaufen und Cabaret-Tonleitern wurde tonnenweise Lärm geparkt und in Stichflammen gesetzt. Um ein paar Namen zu nennen, die im Zuge mit SGM immer wieder auftauchen: Mr. Bungle (auf ernst), King Crimson (rückwärts), Swans (mal zwei) und Residents (auf oag).
Im Krieg gegen die Nudel
Der Name Sleepytime Gorilla Museum kommt der Legende nach von einer Künstlergruppe, die zwischen Futurismus und Dadaismus dem Bürgertum einen kurzen Schrecken einjagte, etwa mit der Ausstellung "The Grand Opening And Closing", die am Tag der Vernissage gleich wieder niedergebrannt wurde. Über den Wahrheitsgehalt dieser stets aufs Neue behaupteten Reminiszenz könnt ihr mit eurem zerbrechlichen Köpfchen selbst grübeln, ich mißbrauche diese Angabe als billige Brücke zu einer zweischneidigen Widmung, die SGM den italienischen Futuristen auf ihrem Zweitling (das Live-Album nicht mitgezählt) "Of Natural History" umgehängt haben und die ich mit Hilfe Carla Kihlstedts gerne etwas genauer untersuchen würde: "Ja, die Futuristen finden wir tatsächlich interessant, sie waren so enthusiastisch und gleichzeitig so engstirnig. Aber ein paar von ihnen waren wirklich phantastische Künstler mit einer Affinität zur Sprache."
Nils Frykdahl: "Ein Teil der glorreichsten Ergebnisse kommt immer von komplett durchgedrehten Typen, die ihre halbdurchdachten Ideen ohne Kompromiß und ohne sie zu überdenken ausführen. Dieser Bombast, diese Extremität und ihre Sprache sind ein wahrer Genuß, das waren begeisterte und brillante Idioten zugleich. Es war auch klar für sie, daß sie von jüngeren, stärkeren Männern fortgeschafft werden würden - und das ist dann doch konsequent."
Carla Kihlstedt: "Sie waren außerdem total unterdrückt vom italienischen Traditionalismus und von den Zwängen zur schönen Kunst, deshalb wollten sie alles Traditionelle vernichten, allen voran nackte Frauen und die Pasta: keine nackten Frauen mehr zeichnen, keine Spaghetti mehr essen. Sie meinten, daß die Dinge, die wir als selbstverständlich erachten, uns davon abhalten, frei zu sein - und das finde ich schon eine überlegenswerte These. In dem Song, in dem wir uns direkt auf die Futuristen beziehen, geht der Text so: 'Hör´ nicht auf uns, verwirkliche deine eigenen Ideen, nicht unsere!' Sie wettern also gegen den Institutionalismus, und das ist es, was wir uns rausgepickt haben."
Rokko: "Und jetzt werden sie selbst in den Museen ausgestellt ..."
Kihlstedt: "Genau, das ist schon ziemlich zynisch."
Also doch wieder alle Museen abfackeln, am besten mit dem Kerl im Haus, der auf die wehrlose maccina gewischelt hat. So eine Drecksau.
Epilog: Immersion Composition Society
Auf irgendeiner alten Kassette unbekannten Ursprungs habe ich einen Song, angeschrieben mit "Wiggle it - Dan Rathbun", der mir schon immer ziemlich gut gefallen hat. Also woher kommt der, Herr Urheber? "Da gibt es diese Organisation, die Nicholas (Dobson) und Michael (Mellender) gegründet haben: Immersion Composition Society (ICS). Man versucht dabei an einem Tag alleine soviel wie möglich aufzunehmen; 'Wiggle It' habe ich auch in nur wenigen Stunden geschrieben und aufgenommen. Wir haben relativ viel auf diese Weise gearbeitet. Jeder, der mitmacht, steht am frühen Morgen auf und nimmt soviel Musik auf, wie er kann. In den USA haben wir auf der SGM-Tour auch ein paar Tapes von der ICS verkauft."
aus: Rokko´s Adventures #2
(erschienen Dez. 2007)
Text: Rokko
Photos: Klaus Pichler
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