Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #105
Hinter den Büschen von Wien
Es gibt nicht nur Puffs und Swingerclubs, sondern auch die freie Wildbahn: geheime Sexorte im öffentlichen Raum, wo man sich selbst aktiv betätigen oder als Voyeur in Erscheinung treten kann. Diese Plätze zu finden erfordert Zeit, Geduld - und im besten Fall Anstand. Rokko führte ein Gespräch mit einem, der den Wiener Dschungel schon seit Jahrzehnten durchkreuzt.
18.12.2020
Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.
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Auf www.erotikforum.at postete im Juni 2011 ein Internetnutzer namens "SecretSex" unter dem Titel "Neue Homepage über geheime Sexorte und Plätze!!!!!!!": "Ich bringe in der nächsten Zeit eine neue Homepage online, auf der man sich über eine Landkarte Übersicht verschaffen kann über gut geeignete Orte, geheime Straßen, Parkplätze und vieles mehr, um sich geheim zu treffen. Diese Seite wird optimal geeignet sein für jene, die sich gerne Outdoor vergnügen, und auch für Leute ,die sich gerne beobachten lassen oder beobachten. Egal, ob Mann, Frau oder Pärchen ... Egal, ob Hetero, Bi oder Homosexuell. Jeder ist hier willkomen!
Im Laufe der Woche geht die Seite online. [...] Ich starte mal mit den Orten die ich selbst erforscht habe, aber hoffe durch rege Beteiligung der User schnell eine umfangreiche Liste zu haben, um flächendeckend zu arbeiten."
Die Reaktion auf diesen Übergriff, internes Wissen nach außen zu tragen, erfolgte nur wenige Minuten später. Ein Forumnutzer - die meisten von ihnen sind männlich - mit dem Namen "Steirerbua" schrieb: "Nimmst du irgendwelche Medikamente? Daß es keine Website gibt, auf der geheime Treffpunkte aufgeführt sind, wird wahrscheinlich daran liegen, daß die geheimen Treffpunkte keine geheimen Treffpunkte mehr sind, sobald die Adressen im Web veröffentlicht werden. [...] Schon allein die Diskrepanz zwischen 'geheim' und 'öffentlich ankündigen' sollte für Leute mit einem Funken Verstand verständlich sein." User "FotoAlex" antwortete darauf: "Wenn alles Blut im Schwanz drin ist statt im Hirn, könnt´ das schwierig werden." Und damit war das Thema gegessen. Die Seite ging nie online.
Geschenke der Götter
Das fast esoterisch anmutende Wissen über geheime Sexorte weiterzugeben, ist eine Gratwanderung. Einerseits dürfen nicht zu viele davon wissen, weil dann die spezifische Qualität der Orte verloren geht, andererseits auch nicht zu wenige, um den Kitzel des Spiels zwischen Beobachtenden und Beobachteten aufrechtzuerhalten.
Sexorte im öffentlichen Raum sind also keine statischen, sondern stets mutierende Gebilde. In Wien existieren dennoch welche, die schon fast Eingang in die offizielle Geschichtsschreibung gefunden haben. Manche dieser Plätze wurden bereits für tot erklärt, bei anderen wandelt sich bis heute, wie und von wem sie genutzt werden. Zu den bekanntesten Treffpunkten im Grünen gehören der Prater, die Lobau, die Höhenstraße, der Stadtpark, der Rathauspark, der Volksgarten, der Augarten und die Donauinsel. Parkplätze in der Ausstellungsstraße, in der Perspektivstraße, in der Krieau, in der Donauturmstraße und in der Landwehrstraße brachten es ebenso zu ihrer Reputation wie WC-Anlagen bei wechselnden U-Bahn-Stationen. Im Normalfall gibt es dabei kein finanzielles Interesse.
Einer, der diese Orte seit Jahrzehnten beobachtet und mitgestaltet hat, ist Frank, 57, in feinem Zwirn, Künstler und Lebenskünstler: ein Spanner und Swinger aus Leidenschaft. Wir laufen uns seit Jahren in verschiedenen Lokalen über den Weg, er ist eine tadellose Barfly mit Benehmen und Geschichten. Frank zieht an einer Zigarette und sagt enttäuscht, aber immer noch mit Feuer in den Augen: "Irgendwann ist selbst das raffinierteste Spiel zu Ende." Und dieses Ende läßt sich laut Frank, der auf gewählte Ausdrucksweise genauso Wert legt wie darauf, daß sein Name nicht deutsch, sondern englisch "wie in Frank Sinatra" ausgesprochen wird, genau datieren: "Mit Fug und Recht kann man behaupten, daß es in puncto Freizügigkeit und Toleranz - also auch in Sachen freie Liebe an öffentlichen Orten - 2003 einen ruckartigen Kippeffekt gegeben hat. Das war ein unübersehbarer Moment in ganz Wien." Womit das zu tun hatte? "Mit einer allgemeinen Verunsicherung und mit dem rasanten Fortschreiten der Technologie, dem die Gesellschaft nicht nachkommt. Photos, Handys, Nachtkameras - also Notizen im Film- und Photoformat - waren plötzlich für jeden zu allen Zeiten und an jedem Ort verfügbar. Das hat das gesamte Klima ruiniert. Aber vorher haben wir noch a Hetz g´habt."
Die technischen Entwicklungen seien aber nicht der einzige Grund, warum es im öffentlichen Raum unergiebig geworden ist, fährt Frank, der in schnellen, schier endlosen Monologen reden kann, ohne Pause fort: "Fast zeitgleich hat es auch eine massive Veränderung in Sachen Hemmschwelle gegeben: Die Beobachter haben den Respekt gegenüber den Tätigen verloren. Deswegen kann man auch eine dramatische Rückläufigkeit an Pärchen beobachten, die sich noch im öffentlichen Raum vergnügen. Diese Pärchen leiden darunter, die sind ja irrsinnig scharf drauf, sich in der Öffentlichkeit zu vernaschen, und würden es auch tun, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn nicht lauter Idioten unterwegs wären." Frank erinnert sich an eine beispielgebende Szene - nur eine von vielen - im Spätsommer 2003: "An einem Nachmittag ist ein Gewitter aufgezogen. Ein junges Pärchen, beide um die 25, wollte die Gelegenheit nutzen und es gleich neben der Ungarbrücke im Stadtpark treiben. Ich hab das gesehen und genossen - die haben genau gewußt, daß ich sie beobachte, und sie fanden es geil. Dann sind vier Buben dahergekommen - leider keine Österreicher", sagt Frank, der alles andere als ein Rassist ist. "Die wollten hingehen und mitmachen, und die Frau hat gesagt: 'Ihr seid da nicht eingeladen!' Dann haben die Burschen geantwortet: 'Rufen Polizei! Rufen Polizei! Habt ihr nix Wohnung?!' Der Mann, der sich da mit seiner Freundin eine schöne Zeit machen wollte, ist aufgesprungen, aber da sind die vier schon weggerannt. Das Pärchen hat sich dann bei mir noch entschuldigt: 'Tut uns leid, aber uns ist die Lust vergangen.' "
Das Quartett habe eine Grenze übertreten und damit diese delikate Situation für alle zerstört, sagt Frank; er hingegen sei mit dem nötigen Respektsabstand dort geblieben, wo er hingehörte. "Wobei es auch genug Situationen gegeben hat, wo ich im Zuge des Aktes eingeladen worden bin, vom Beobachter zum Tätigen zu werden, oh ja, oh ja!" fährt er grinsend fort. "Aber zu so einer Interaktion gehört eine Sensibilität. Es gibt Menschen, die dieses Geschenk als solches annehmen können, sich bei den Göttern bedanken und hinterher schweigend gehen. Aber wenn man nur mit dem Rohr in der Hose denkt, ist man am falschen Platz. Es gibt kein Recht des Betrachters." Vielmehr Glück und Geschick. Frank ging schon in den späten 1970ern auf die Pirsch und war viel in der Lobau, wo Sex im Freien gang und gäbe war. Aber es war bereits damals diffizil, meint er: "Manche wollten es im Freien treiben, aber ihre Ruhe dabei haben. Und es hat immer auch solche gegeben, die genau das Gegenteil wollten. Im Resselpark war auch sehr viel Leben, bis sie das zwischen 1994 und 1996 abgedreht haben."
Bald wurde dieser Ort überhaupt zur sterilen Touristenschneise herausgeputzt und man hat sämtliche Zeitlupencowboys mit blauen Lippen vertrieben, woraufhin sich die Behörden beschwerten, daß Drogensüchtige nun an anderen Orten ihren Geschäftig- und Tätigkeiten nachgingen. Interessanterweise wurden die Junkies durch defensives Verhalten damals wieder zurückgelassen, da die Polizei plötzlich den Vorteil einer gewissen Faßbarkeit der Szene schätzen lernte, nachdem sie diese in unüberschaubare neue Sprengsel verteilt hatte. Die Swingerszene hingegen wurde in der Karlsplatz-Gegend nicht mehr toleriert. Mittlerweile sieht man hier weder die eine noch die andere Sippschaft: aus dem Auge, aus dem Sinn - und g´schissener für alle Beteiligten.
Um die Höhenstraße, die sich durch die Wald- und Hügellandschaften an den nordwestlichen Rändern Wiens zieht, ranken sich ebenso zahlreiche Mythen. Die an sich sinnlose Panoramastraße war ein austrofaschistisches Paradeprojekt von Dollfuß und seinen Arbeitsbeschaffern, die aber sicher nicht im Kopf hatten, daß sie nach dem Zweiten Weltkrieg Menschen zum Pudern verhelfen würde. Eine sich aus der Szene mittlerweile zurückgezogen habende Dame, die anonym bleiben möchte, meint: "Ich erinnere mich, daß ein Restaurant an der Höhenstraße, das es noch heute gibt, vor Jahrzehnten ein beliebter Promi-Sextreffpunkt gewesen ist. Dort hat angeblich der Sportreporter Kurt Jeschko (1919-1973) beim 'einarmigen Liegestütz' auf einer bekannten Sportlerin einen Herzinfarkt erlitten ..." Zuvor hätte sich Jeschko noch im ORF für die "Schach dem Herztod"-Kampagne stark gemacht.
Die Höhenstraße hat Frank nie interessiert: "Ich bin nicht motorisiert, und außerdem: So viel tu ich mir nicht an. Wenn die Jagd zur Pflicht wird, dann ist sie keine Lust mehr, sondern Arbeit. John Cale hat einmal verzweifelt für Wochen versucht, einen Ton zu treffen - gut, bei ihm zahlt sich das sogar aus, und Lust, Ton und Bild liegen sehr nah beieinander, aber ich arbeite nicht für die Lust! Da ist ein Widerspruch."
Regeln im Dschungel
Den Strafbestand "Erregung öffentlichen Ärgernisses" im Zuge seiner Aktivitäten hält Frank für äußerst fragwürdig. Er bläst abschätzig Rauch aus dem Mund und sagt: "Erregung öffentlichen Ärgernisses ist für mich, wenn ein Hausmeister seine Wamp´n auspackt und einem das Speiben kommt. Bitte, im Park können die Büsche wackeln, Hauptsache, es geht ihnen gut. Besser, als sie wackeln, weil eine Oma überfallen wird." Nur eines hat klar zu sein: "Das ist eine Erwachsenenwelt, die von Kindern ferngehalten werden muß. Eine Interaktion dieser beiden Welten hat entsprechend bestraft zu werden."
Um solche und andere Übertretungen zu vermeiden, gibt es in einschlägigen Onlineforen bereits erste Versuche, Verhaltensregeln für Sex im öffentlichen Raum zu etablieren. In vier Abschnitten wird auf www.erotikforum.at erläutert, wie man sich in freier Wildbahn zu verhalten hat: "Das Handy bleibt im Auto oder, wenn man das aus Sicherheitsgründen nicht möchte, auf LAUTLOS in der Tasche. Man macht insbesondere KEINE Photos oder Videos ohne die vorherige explizite Einwilligung aller Anwesenden. Man ruft NICHT einfach weitere Personen per Telefon hinzu, falls sich irgendetwas tut." Außerdem: "Die überwiegende Mehrheit der Frauen und Paare schätzt es überhaupt nicht, mit Ausdrücken wie Fotze, Schlampe, Stute, Sau, Fickstück u. ä. angesprochen zu werden. Paare und Frauen, die das möchten, werden das deutlich machen. Andernfalls gibt es KEINEN Grund dafür, jemanden auf einem Parkplatz anders und abfälliger anzusprechen als z. B. in einer Bar." Und noch ein Punkt: "Für die Herren gilt: Man preßt NICHT ungefragt seinen Schwanz an die Scheiben und ejakuliert auch NICHT auf fremde Autos."
Genauso hätte man zu akzeptieren, abgewiesen zu werden - und auch jener kritische Punkt, an dem Geschmacks- zu Sicherheitsfragen werden, wird behandelt: "Man versperrt NIEMALS einem Auto die Fahrt und fährt KEINEM Auto hinterher, es sei denn, es wurde mit den anderen Personen ausdrücklich besprochen, daß man gemeinsam woanders hinfährt." Diese Regeln werden allerdings nicht immer befolgt, wie User "Kira6" im Juli 2014 mit Verweis auf seine Erfahrungen in der Lobau schreibt: "Fahrt´s Raffineriestraße z´ruck bis zum letzten Parkplatz, da habt ihr dann 15-20 Zuschauer, 90 % aufdringliche Ausländer, die verfolgen euch dann bis nach Hause! Genau da ist das Problem in Wien, um richtig swingen zu können, müssen Paare dauernd ausweichen, wie vor 10 Jahren einen PP [Parkplatz] an der Raffineriestraße anfahren geht einfach nicht mehr, weil zuviele Notgeile dort warten und aus der Not keine Frau zu finden, vertreiben´s die einzige, die sich einmal dorthin verirrt, weil´s durch Fake-Posting neugierig gemacht wurde [...] hatten gleich einen Schwanz von gut 15 Männern hinter uns hergezogen, von denen ca. 10 schon den Schwanz heraußen hatten, wenn eine Frau nicht gerade auf´s Überfallenwerden steht, ist das ziemlich abtörnend und wird dort nicht mehr auftauchen, das passiert in der Lobau jetzt auch und damit verwandelt´s den Ort zum reinen Schwulentreff."
Auch Frank, der generell nichts gegen Homosexuelle hat, sagt: "Am Konstantinhügel ist früher alles zwischen Frau und Mann passiert, was Gott verboten hat, bis die Schwulen übernommen haben. Das war um 2000 herum, daß die die Schirmherrschaft über den Hügel übernommen haben. Die haben generell die schönsten Orte, auch die Lobau, unter Beschlag genommen. Der Schweizergarten hinter dem ehemaligen Südbahnhof - was war da los, ein Geschenk! Heute ist es dort so gut geheizt, daß nicht einmal im Winter mehr Schnee liegen bleibt - nur Warme."
Sebastian, Anfang 50, Kurzhaar- und Hornbrillenträger, besonders in den 1980er und 1990er Jahren in der Wiener Homosexuellenszene aktiv, erklärt seine Sicht der Dinge: "Traditionell fand schwuler Sex wegen fehlender Alternativen oft im öffentlichen Raum statt. Wohnte man nicht allein oder in Untermiete, konnte man den Partner meistens nicht in die eigene Unterkunft mitnehmen. Daher kommt mir die Behauptung, daß die Homos die Plätze der Heten 'übernommen' hätten, etwas übertrieben vor. Sowohl die Lobau als auch der Konstantinhügel und andere Orte im Prater sind seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in Strafakten und Polizeiberichten als schwule Treffpunkte belegt."
Der Schweizergarten, jener andere von Frank als einst "himmlisch" beschriebene Ort, hat unbestritten eine extreme Wandlung durchgemacht: Bis kurz nach der Jahrtausendwende verhalf der Park noch sämtlichen Orientierungsgruppen zum Sex, seither wurde er immer mehr zum "Bubenstrich" für junge Roma und Sinti, die dort der Armutsprostitution nachgehen.
Internet und Biedermeierei
Die goldenen Zeiten der teils recht unbedarften, vom Geist der 1960er gespeisten Freiluftsexorte scheinen aus verschiedenen Gründen vorbei zu sein. Das liegt nicht nur am gestiegenen Risiko, von einer Kamera festgehalten oder von überaufmerksamen Beobachtern bloßgestellt zu werden, sondern auch daran, daß es heute (neben bezahlter Prostitution) in Form zahlreicher Online-Plattformen neue Möglichkeiten zu schnellem und sicherem Sex gibt. Das gilt sowohl für die Hetero- als auch für die Homosexuellenszene, so Sebastian: "Das Aufrißverhalten hat sich durch das Internet bei allen verändert. Hat man früher schnellen anonymen Sex gesucht, ist man an Orte gegangen, wo man Gleichgesinnte zu treffen hoffte. Heute sucht man im Internet. Hat man dann Lust auf den besonderen Kick, es im öffentlichen Raum zu treiben, verabredet man sich an einem Ort, der aber nicht unbedingt einer dieser traditionellen Treffpunkte sein muß. Man sucht sich irgendeinen Park oder eine versteckte Straße. Daraus ergibt sich aber auch, daß die traditionellen Treffpunkte wie zum Beispiel die Parkplätze beim Ölhafen, vor allem von internetaffinen Jungen, die früher aus Geilheit diese Orte frequentiert hatten, nicht mehr besucht werden. Übrig bleiben die weniger mobilen, meist Älteren, was auch den Frust einiger Leute erklärt."
Diese Entwicklungen haben auch das Verhalten von Frank beeinflußt - er hat sich mit den Problemen seiner Zeit arrangiert und seine Interessen verlagert. Ab und zu geht er noch in Swingerclubs, aber draußen legt er sich nicht mehr auf die Lauer: "Wozu? Was mich interessiert, ist schon alles ruiniert." Doch dann holt er noch einmal aus: "Sexualität ist ein elementarer Bestandteil des Daseins. Nur Essen und Trinken - dann ist man ein Viech. Nur Geld - das ist noch schlimmer. Sex ist eine eigene Kraft, die die niederen Instinkte natürlich in sich trägt, aber eben noch etwas, was ich als Zauber bezeichne, etwas, das sich nicht beschreiben läßt, etwas Metaphysisches, das darüber schwebt. Lust ist für mich wie Kunst, etwas Unaussprechliches: es ist da, und es ist auch nicht da. Alle freuen sich, und niemand ist enttäuscht. Im Swingerclub ist dieser Weg asphaltiert und deswegen einfach, da kennt sich jeder aus. Wenn wer nicht brav ist, bekommt der Lokalverbot auf ewig, und davor haben die Gäste Todesangst. So halten sie sich zwangsläufig an die Etikette, was sie im öffentlichen Raum oft nicht tun. Aber im Dschungel, wo man die Gesetze selbst erkennen und achten muß, ist es dennoch ungleich spannender. Das ist eine undefinierte Zone, in der man sich zurechtfinden muß. Und die, die sich drüber aufregen, sind meistens die, die zwischen ihren Beinen Spinnweben besitzen. Niemand vergönnt jemand anderem etwas. Ich hatte vor kurzem eine Bindehautentzündung und bin tagsüber in einem Park mit Spielplatz gesessen. Da kam ein junges Pärchen und schaukelte auf der Schaukel, schmuste ein bißchen herum und lachte. Was man da gesehen hat, war pure junge Lebensfreude - kein Funken Bösartigkeit. Aber dann ist ein alter Herr dahergekommen und hat sich aufgeregt - nur, weil er frustriert war, daß er schon lange keine Frau mehr gehabt hat und gar nicht mehr weiß, was Spaß heißt, à la: 'Was ich nicht hab´, soll jemand anderer schon gar nicht haben.
Man hat ja Ohren auch, nicht nur Augen, und ich wohne mittlerweile schon lange Zeit in einem Zinshaus. Ich habe schon viele Parteien kommen und gehen sehen, und da war genau dieselbe Entwicklung, die 2003 gekippt ist: Genau bis zu dem Jahr haben sie in der Nacht noch im Stiegenhaus gefickt, und man hat sie durch die Wände gehört, wie sie Spaß aneinander und miteinander gehabt haben. Seit 2003, scheint es, würden sie sich lieber die Stimmbänder ohne Narkose rausreißen lassen, als einen Ton zu machen. Sie leben wie in konstanter Angst vor der Sittenpolizei. Das ist ein absurder Zustand: Im Internet diskutieren sie über ihr letztes Wimmerl im Darm, als ob das niemand sehen würde, und als ob sie in der 'Cloud' irgendeine Art der Kontrolle hätten. Gleichzeitig schotten sie sich so extrem ab, als ob sie alle Mini-James-Bonds in permanenter Bedrohung wären und nicht einmal mehr alltägliche Sachen zelebrieren könnten. Das einzige, was ich nicht verstehe - und das hat nichts mit Heimlichtuerei zu tun, aber es gibt Sachen, die nur für dich bestimmt sind, die gehen die andern einen Scheißdreck an: Woher kommt diese freiwillige Outing-Geilheit? Wo ist die Belohnung für sämtliche persönlichen und privaten Informationen?"
Für Frank ist diese Entwicklung im Sexualverhalten "nur der Eisberg für die Gesellschaft, und es ist äußerst raffiniert, wie sich das auf das Gesamtverhalten auswirkt - auch auf das eigene. All das, was die Leute anstreben, ist im Grunde vorhanden. Wozu Ersatzartikel jagen, also Konsumartikel? Das sind nur Ersatzbedürfnisse. Das Handy z. B. ist das, was Huxley als 'Soma' bezeichnet, Massenhypnose. Ich meine, nehmen wir einmal hundert 16- bis 25jährigen ihr Handy weg. Das ist, als würde man ihnen ein Stück aus ihrem eigenen Körper reißen. Die wissen dann nicht mehr, was sie plötzlich mit sich anfangen sollen, wenn diese Ablenkungsmanöver nicht mehr greifbar sind. Die Wirtschaft setzt auf Ersatzhandlungen und ist in dem Fall mächtiger als die Politik. Ovid beschreibt in seinen 'Metamorphosen', daß niemand dem anderen um etwas neidisch war, deswegen hat man auch keine Richter, keine Polizei, keine Gewalt gebraucht. Eben, weil alles, was man fürs Paradies braucht, schon da ist. Aber wenn man Wohlbefinden - und da gibt es unendlich viele Spielarten - wegnimmt, was heißt das für die Gesellschaft? Das sollte man sich überlegen. Glückliche Menschen sind schwerer zu regieren als unglückliche und frustrierte."
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