Wer erinnert sich nicht an den wilden malaiischen Piraten mit den (geschminkten) Glutaugen? Sandokan stand für Abenteuer und Exotik wie kein zweiter zu seiner Zeit. SPRECHBLASE-Chefredakteur Gerhard Förster versucht zu klären, was die Miniserie so unvergeßlich macht.
19.10.2016
Der Sechsteiler "Sandokan, der Tiger von Malaysia"
Eigentlich dachte ich, daß diese Reihe, die ich kaum kannte, viele Episoden umfaßt, da "Sandokan" und sein Darsteller Kabir Bedi in den Medien immer wieder ein Thema waren.
Doch zu meiner Überraschung beruht der ganze Ruhm auf nur sechs einstündigen Folgen - ein Phänomen, das ich in dieser Form sonst nur von "Raumpatrouille Orion" her kenne. Es ist interessant, wie altmodisch der in den 70er Jahren durchaus innovativ inszenierte "Sandokan" heute wirkt, mit seinen simplen Kulissen und diesem gewissen Hippie-Touch. So manchen Zuseher unserer Zeit werden die vielen ruhigen Szenen (die sich für die gestrafften Kinofassungen, die es gab, förmlich zur Kürzung anboten) wohl auf eine harte Geduldsprobe stellen (1). Wenn man sich jedoch darauf einläßt und die ungewöhnliche Atmosphäre und Poesie der Serie auf sich wirken läßt, wird es immer schwerer, sich der Faszination zu entziehen. Dann nimmt man auch gerne einige endlos in die Länge gezogene Szenen in Kauf. Und man versteht, warum "Sandokan" auch heute noch erstaunlich viele Fans in seinen Bann zu ziehen scheint. Ein lebhaftes Zeugnis davon legen die einschlägigen Internet-Aktivitäten ab.
Regisseur Sergio Sollima (bekanntester Film: "Der Gehetzte der Sierra Madre" mit Tomás Milián) wollte sich mit "Sandokan" von den bisherigen Abenteuerfilmchen über den "malaiischen Tiger" abheben (2) und eine realistischere Version präsentieren. Er wollte auch die Grenzen von Emilio Salgaris Buchvorlage sprengen und u.a. das Aufeinandertreffen zweier völlig unterschiedlicher Kulturen zeigen. Sollima wählte die Schauspieler mit großer Sorgfalt aus. Mit dem charismatischen Kabir Bedi gelang es ihm perfekt, den Mythos Sandokan lebendig werden zu lassen. Dazu trug auch der Soundtrack der damals viel beschäftigten Brüder De Angelis bei (3).
Noch heute fällt wohl den meisten Zeitgenossen bei der Erwähnung von "Sandokan" sofort der Ohrwurm der Kennmelodie ein. Mit dem stattlichen Schauspieler Adolfo Celi ("James Bond: Feuerball"), der den historisch verbürgten "Weißen Radscha von Sarawak" James Brooke verkörperte, gelang es Sollima, dem Helden einen ebenbürtigen und vielschichtigen Gegner gegenüberzustellen. Da Authentizität für Sollima wichtig war, drehte er an den Originalschauplätzen Borneo und Indien, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Auch bei der Ausstattung der Serie war Sollima um Authentizität bemüht, doch muß man aus heutiger Sicht feststellen, daß vieles doch eher nach billig hergestellten Requisiten aussieht. Und manche der Gewänder könnten bei einer Hippie-Kommune entlehnt worden sein.
Zum Inhalt: Im Malaysia des 19. Jahrhunderts kämpft Sandokan, der letzte Überlebende einer Herrscherfamilie, als Pirat mit seinen Getreuen gegen die Engländer, insbesondere gegen den skrupellosen James Brooke, der für die Ermordung seiner Familie verantwortlich ist. Sandokan führt sein Freibeuterleben gegen die Kolonialherren von der Insel Mompracem aus. Sein treuer Gefährte ist der weltgewandte Portugiese Yanez de Gomera (Philippe Leroy).
Als Sandokan Marianna (Carole André) - die Nichte des Vertreters der gefürchteten Ostindischen Handelskompanie - kennenlernt, entflammt eine unsterbliche Liebe (4). Und so werden der "malaiische Tiger" und die "Perle von Labuan" bald ein herzerwärmendes Paar. Doch es gibt ja noch Brooke, der ihnen das Leben schwer macht ... Im Grunde scheinen alle Piratenstorys denselben Stoff zu erzählen, aber wie so oft kommt es auf das "wie" an.
Sollimas "Sandokan" gibt keineswegs eine 08/15-Geschichte wieder, sondern bietet eine ambitionierte Handlung mit guten Dialogen und etlichen überraschenden, z. T. auch tragischen Momenten, auf die ich hier nicht näher eingehen will, um niemandem die Spannung zu rauben. Regie, Kameraführung und "Choreographie" sind nicht alltäglich und irgendwie sehr italienisch. (5)
Sollima und Salgari sind bestimmt keine Pazifisten; ihre Piraten sind nicht gerade zimperlich, und doch durchzieht "Sandokan" eine große Sehnsucht nach Frieden und Harmonie. Schließlich kehren auf Mompracem tatsächlich paradiesische Zustände ein, allerdings nur für kurze Zeit. Seltsam erscheint der eindrucksvolle, aber relativ kurze Auftritt des jungen Tremal-Naik (Ganesh Kumar) bei der Tigerjagd. Der Zuschauer spürt sofort, daß es sich hier um eine weitere charismatische Heldenfigur handelt. Als Sandokan Tremal-Naik einlädt, mit ihm nach Mompracem zu ziehen, meint dieser, daß er seinen eigenen Weg gehen muß, aber den "Tiger", wenn nötig, gerne unterstützen wird. Man erwartet weitere Auftritte, doch diese finden zumindest in dem Sechsteiler nicht statt.
"Sandokan, der Tiger von Malaysia" entstand im Jahre 1976 für den Sender RAI und ist eine sechsstündige Koproduktion zwischen Italien, Frankreich, Deutschland und England, von der in Italien auch eine vierstündige Kinofassung zu sehen war. Hierzulande wurde die Miniserie erst 1979 von der ARD ausgestrahlt. Zuvor kam ein auf 82 Minuten radikal gekürzter Zusammenschnitt unter dem Namen "Il Tigre" in die deutschen Kinos, der nicht ohne Grund floppte.
Schon 2004 erschien der TV-Kult bei Koch Media auf DVD. Die preisgünstige "Sandokan"-Box ist äußerlich nicht sehr eindrucksvoll. Doch das täuscht, bietet sie doch nicht nur die sechsteilige Serie, sondern auch eine Menge hochinteressanter Extras, was der engen Zusammenarbeit mit der Fanpage www.kabir-bedi.com zu verdanken ist. Begeisternd ist vor allem das lange, zweiteilige Interview mit dem alten, aber noch immer stolzen und energischen Regisseur Sergio Sollima (einem typischen italienischen Macho - etwas großspurig, aber sympathisch), der mit kämpferischer, linkspolitischer Gesinnung spannende Einblicke in die Produktion gibt.
Darsteller: Kabir Bedi, Philippe Leroy, Adolfo Celi, Carole André u. a.
Fußnoten:
(1) Zum Beispiel werden bei Sandokans Hochzeit malaiische Stammesriten in allen Details gezeigt. (2) In den 40er, 50er und 60er Jahren gab es zahlreiche italienische "Sandokan"-Billigfilme, u. a. mit "Herkules" Steve Reeves als "Tiger". Und es gab Filme, die sich um Salgaris anderen Helden Tremal-Naik drehten, gespielt von Lex Barker. 1974 entstand ein etwas anderer Sandokan-Film von Ugo Gregoretti. Er handelt davon, wie Salgari 1883 "Le Tigri di Mompracem" für das Verona-Tagblatt "La Nuova Arena" schreibt. Ab den 90er Jahren wurden auch diverse Animationsreihen mit Sandokan für das Fernsehen produziert. Infos zu jeder einzelnen Verfilmung sind zu finden auf: www.mompracem.de (3) Guido & Maurizio De Angelis kreierten die Musik für über 170 Filme, darunter zahlreiche Bud Spencer/Terence Hill-Produktionen (u. a. "Vier Fäuste für ein Halleluja"). Auch der eindringliche Soundtrack des Italowestern "Keoma" stammt von ihnen. Unter dem Namen Oliver Onions waren sie auch in den Hitparaden vertreten (erfolgreichster Titel: "Santa Maria"). (4) Carole André wirkte auf mich anfänglich wie eine Fehlbesetzung, eine graue Maus. Doch durch ihre "Tiefe" revidierte ich bald meine Meinung.
(5) Wie so oft bei italienischen Comics oder Filmen wurde hier Triviales mit Anspruch verbunden. In Italien trennt man zwischen "hoher" und "niedriger" Kultur nicht so sauber wie im Land der Dichter und Denker.
Mit Dank an Bianca Gerlich fürs gründliche Überprüfen der Daten und Korrekturlesen.
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