aus: Rokko´s Adventures #9
(erschienen im Juli 2011)
Text & Interview: Rokko
Illustration: Meiko
Ungefähr einmal im Jahr passiert das: Völlig unverhofft steckt Rokko seinen Kopf nicht in was Ekliges, sondern ein Loch aus Gold. Einmal war es Joe Aufricht mit seinen unpackbaren Tapes, dann HGich.T in all ihrer Pracht - und jetzt ist es Amanda Whitt. 25.02.2013
Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.
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Prolog: Zum maximalen Aha-Erlebnis empfehle ich den sofortigen Klick auf unsere Homepage und den Genuß ohne jegliche Vorkenntnis. Den Artikel braucht man gar nicht zu lesen, höchstens hinterher.
Man nehme ein kleines Mädchen, das unter Tieren aufgewachsen ist, statte es mit den gröbsten Kenntnissen der menschlichen Sprache, dubiosem Humor und einem faszinierenden Selbstvertrauen aus, spiele ihm primitive Sounds aus dem Casio-Keyboard vor und lasse es dazu alles, was im Kopf herumgaustert, mit der dröhnenden Stimme eines gorillaähnlichen Mischgetiers nach außen tragen, während Grimassen und Powermoves das Vorankommen bestimmen: Willkommen in der phantastischen Welt von Amanda Whitt!
Zu den Hintergründen: Amanda Whitt und ihr Bruder Joseph aka Jody wuchsen in einem Kaff in Alabama, dem Süden der USA, auf. Der 15jährige Jody speicherte seine um sieben Jahre jüngere Schwester ab 1986 für die Nachwelt auf Video und Tonband, während diese den oben beschriebenen Zirkus in seinen unmöglichsten Variationen durchexerzierte. Jody ist zwar fast nie im Bilde, darf aber als Regisseur dieses ungezähmten Kosmos keinesfalls übersehen werden. Als ich mit den Whitt-Geschwistern Kontakt aufnehme, gibt auch er mir sämtliche Antworten auf meine Fragen, während Amanda - 25 Jahre später - als schweigende Zuhörerin das genaue Gegenteil ihres archivierten Wesens darstellt.
Damals, in den 1980ern, war das noch anders, erinnert sich Jody: "Meistens redete ich ihr zu, was für die Kamera zu machen, aber ab und zu ergriff sie auch selbst die Initiative. Die Musik machten wir mit einem billigen K-Mart-Synthesizer und manchmal mit einem kleinen Casio-Keyboard und all den Rhythmen, die da auf Knopfdruck verfügbar sind. Außerdem loopten wir ab und zu Schnipsel von Musik, die wir im Radio aufgenommen hatten, und beschäftigten unseren kleinen Bruder und ein paar Nachbarskinder damit, auf Töpfen aus der Küche unserer Mutter zu trommeln."
Doch das Hauptmerkmal dieser Aufnahmen ist Amandas wilde Performance und ihre schrägen Gesangseinlagen mit surrealistischen Texten, die man keinem Kind von acht Jahren zutrauen würde. Die Videos, auf denen Amanda growlt, furzt und "smell my armpits!" schreit oder mit den Worten "I´m baaahaaack!!" Bedrohungen ausstößt, wirken teilweise wie aus einem der Harmony-Korine-Filme "Gummo" oder "Trash Humpers". Holzwild und in lowest fi quality wird im Südstaaten-Slang über den "Temple of MeMe" und das "Cookieland" geträllert. Man sieht Amanda beim frommen Beten mit Ringen unter den Augen, die sie befremdlich verdreht. Trotzdem schafft sie es immer, auf ihre ganz besondere Weise charmant zu bleiben. Als wiederkehrendes Element dienen neben Bären- oder Gorillagegröle auch ihre verstörenden Gesichtsverzerrungen und Indianerschreie, die den anarchistischen Grundtenor noch unterstreichen. Sie rennt wie ein Penner mit Kriegsbemalung durch die Gegend und macht einen Jungen alle, während der Country-Song "Hug Me" aus den Boxen bläst. Ein Trio von Kreuzungen aus Zombies und Ultravixens - genannt Brenda, MeMe und Tonia Terror - jagt Mannsbilder durch die Landschaft und furzt sie zu Tode. Man ist Zeuge seltsamer Kulte in einem Wald, hört Songs, die von einer Klospülung eingeleitet werden, ratternde Töpfe, gefolterte Pizzazusteller, die Vorstufe adoleszenten Rowdytums.
Die Mitschnitte tragen Titel wie "Once Upon a Time Before Ritalin ...", "Concrete Nipples”, "Worship Me", "Me Want Cookie", "Lightning Set My Butt on Fire", "Third Stone from Cookieland" und "Up Against the Wall Redneck Mama". An fremdem Liedmaterial hat Amanda z. B. für "Me Swinging in Cookieland" über Stellen der Beatles-Nummer "Wild Honey Pie" gebellt; Michael Jacksons "Bad" wurde zu "Mad"; bei "Sniff it Child", einer Eigenkomposition, wird´s richtig dubbig; ein andermal spielt Opa Country-Songs auf der Gitarre, während die Krätzen einen fahren lassen und wie untote Roboter dreinschauen. Jody hat als Filmregisseur außerdem seine eigenen Versionen eines Westerns und der "Masters of the Universe" mit der coolsten Schauspielerin seit Gena Rowlands zustandegebracht. Allesamt rohe, ungeschliffene Diamanten.
Einige Male bringen die Kiddies auch mittels pranks, kruden Streichen, ihre Umwelt durcheinander. So singt Amanda in ihrer Monster-Stimmlage ein "Happy Birthday" über die offizielle Sprechanlage einer Skate-Anlage, während man Jody hinter der Kamera heftig lachen hört. Professionellerweise schlägt Amandas Gorillastimme nie in die Kinderquietsche um, aber wer weiß: vielleicht hat Amanda auch eine Gorillastimme.
Me want Cookiiiiiie!
Amanda lebt heute noch in Alabama und arbeitet als Managerin in einem BBQ-Restaurant. Jody, der seit einigen Jahren in Brooklyn wohnt, sich mit Video und Kunst beschäftigt und bis zum heutigen Tage von Zeit zu Zeit pranks in Fernseh- und Radioshows macht, über die damaligen Beweggründe: "Du mußt dir vorstellen, das war mitten im Nirgendwo in einer kleinen Ortschaft in Alabama. Da gab es nichts zu tun, außer den Fernseher aufzudrehen. Die nächste Shopping-Mall war 30 Meilen entfernt. Ich denke, was wir machten, war eine Rebellion gegen die pure Langeweile, die uns sonst beherrschte. Und dabei hatten wir wahnsinnig viel Spaß! Wir machten diese Dinge mit absoluter Hingabe und ohne auch nur einmal daran zu denken, was andere davon halten würden."
Man muß ja festhalten: Viele Leute haben früher, als Kinder, selbst Kassetten gemacht. Kramt man die jetzt raus, merkt man allerdings schnell, vielleicht sogar ein wenig peinlich berührt, daß die a) nur damals lustig waren und/oder b) nur für den lustig sind, der sie gemacht hat. Anders bei den Geschwistern Whitt. Was die beiden fabriziert haben, gehört zum faszinierendsten Material, das Menschen zu speichern und teilen imstande sind. Und was besonders schön ist: Man sieht nicht nur drollige Kinder herumalbern, sondern kriegt mit, daß das sehr feine Wesen sind, die auch in ausgewachsener Form keine Vollidioten werden. Gelobt seien die Eltern, die solche Kinder hervorbringen und sie dann auch noch herumwerken lassen. "Unsere Eltern waren sehr tolerant in Bezug auf das, was wir machten ... aber wenn ich so zurückdenke, vermute ich, wir waren extrem anstrengend. Wir haben die Songs direkt über ihrem Schlafzimmer aufgenommen, und wir waren LAUT. An den Wochenenden werkten wir bis in die Morgenstunden herum", grinst Jody. Doch ab und zu gingen die Kinder auch etwas zu lange auf den Nerven der Eltern spazieren, und so gibt es auch Videoaufnahmen, in denen die Mama versucht, den Mythos der g´sunden Watschn leben zu lassen. Die Youngsters zeigen der Welt ein für allemal, daß diese Strategie verkehrt rum ist, und verarschen sie dann erst recht bis aufs Blut.
Die Umstände jener einzigartigen Zwickmühle, in die es die Whitts geschafft haben, sehen ungefähr so aus: Eigentlich wären sie noch nicht alt genug, als daß ihnen solch abgedrehter Wahnsinn einfallen dürfte und sie den auch noch äußern können; andererseits: Wenn man alt genug ist, dann läßt man diesen aufgrund sich langsam herausbildender gesellschaftlicher Achtungswünsche nur mehr alleine zu Hause unter der Bettdecke raus. Zum Glück lebten die beiden so abgeschieden vom Rest der Welt und mit einem Altersabstand von sieben Jahren, was es erst ermöglichte, daß sich das volle Potential der durchdrehenden Amanda und des archivierenden und aufscheuchenden Jody entfalten konnte.
Die Band Rolling Scabs fällt mir in diesem Zusammenhang als anderes Beispiel ein. Dabei handelt es sich um eine Combo mit zwei 13jährigen Früh-Punks, in der aber auch Erwachsene mitspielten. Ihr Erbe besteht nur aus einer 7"-Single, die Karriere war kurz: Einer der beiden Jungs hatte mit 15 einen tödlichen Unfall, als er in einem Abrißhaus Unfug trieb. Die Rolling Scabs sind zwar extrem amüsant, wenn sie Lieder wie "My Mom Smokes Pot" und "I Hate My Teacher" losbrüllen, aber viel faßbarer als die Whitts, weil die Scabs ganz klar in einer gewissen Punk-Tradition stehen, während hingegen Amanda und Jody ... völlig ... anders ... sind. Nicht nur im Machen an sich, sondern auch in der Vermarktung: "Wir haben nie Kassetten verkauft. Jede war ein Einzelstück. Aber wir machten Auftritte in der Garage, in unseren Zimmern und ab und zu auf der Veranda unserer Großeltern." Das schließt mit ein, daß sie im Moment des Produzierens nie daran dachten, damit auf irgendeine Weise "Erfolg" einzufahren (man erinnere sich: Damals gab es noch keine Casting-Shows im Fernsehkastl), was absolute Schaffensfreiheit - und in diesem Zusammenhang: vollkommene Kompromißlosigkeit - bedeutet. So schnell natürlich, wie dieser Ausweg aus purer Langeweile gekommen war, ging er dann auch wieder vorbei, und es wurde nicht mehr über diese Aufnahmen nachgedacht. Für eine sehr lange Zeit. Jody: "Eigentlich gab es gar keinen speziellen Grund dafür, daß ich die Kassetten, die fast 20 Jahre in einem Schrank lagen, vor etwa fünf Jahren rausholte. Ich glaube, ich suchte in meinem Elternhaus nach alten Comics und fand diese Kiste mit einem Dutzend Kassetten." Und die gute Nachricht: "Wir haben bis heute sicher noch nicht alle gefunden."
Wegen Amandas Schweigen erkundige ich mich zum Abschluß noch, ob es den beiden unangenehm ist, wenn da jemand wie ich nach zwei Dekaden kommt und sich begeistert zeigt von diesen Aufnahmen aus Kindheitstagen: "Nein, nicht falsch verstehen! Es ist wirklich eine Ehre, wenn das jetzt jemand genießt. Die Aufnahmen lagen so lange versteckt, bevor ich sie rausholte, und in der Zwischenzeit sind wir erwachsen geworden. Sozusagen. Na ja, eigentlich nicht wirklich", grinst Jody und läßt noch einmal den Wahnsinn in seinen Augen aufblitzen, der all das ermöglicht hat.
aus: Rokko´s Adventures #9
(erschienen im Juli 2011)
Text & Interview: Rokko
Illustration: Meiko
Es gibt nicht nur Puffs und Swingerclubs, sondern auch die freie Wildbahn: geheime Sexorte im öffentlichen Raum, wo man sich selbst aktiv betätigen oder als Voyeur in Erscheinung treten kann. Diese Plätze zu finden erfordert Zeit, Geduld - und im besten Fall Anstand. Rokko führte ein Gespräch mit einem, der den Wiener Dschungel schon seit Jahrzehnten durchkreuzt.
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Wenn etwas weggeschmissen wird, heißt das nicht, daß es weg ist. Erst dann fängt nämlich ein interessanter Verwertungsprozeß an, der auf mehreren Ebenen funktioniert. Diesen Vorgang wollte sich Team Rokko genauer ansehen.
Preisfrage: Was haben Mike Tyson, Nikola Tesla und Willy Brandt gemeinsam? Richtig: allesamt Taubenzüchter. Team Rokko hat für Sie einige spannende Geschichten zum Thema "Männer, ihre Vögel und die Pigeon Fancier Convention in Blackpool" auf Lager. Fliegen Sie mit ihm los!
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