aus: Rokko´s Adventures #9
(erschienen im Juli 2011)
Text & Interview: Rokko
Photos: Klaus Pichler
Vergessen Sie Bilderberger, Illuminati und andere halbgare Schattenmächte. Tauchen Sie lieber mit Rokko in die erheiternde Welt der Schlaraffia ein: einer weltweit vernetzten Organisation, bei der Stil und guter Ton zu den Grundfesten gehören und Frauen nichts verloren haben. 08.07.2013
Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.
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Die Schlaraffia ist ein 1859 gegründeter Männerverein mit eigener Zeitrechnung, eigenen Ritualen - und eigenem Humor. Fast 11.000 Schlaraffen sind in der ganzen Welt vertreten, und überall spricht man deutsch, respektive verulkt dieses im "Schlaraffenlatein". Bei den wöchentlichen Treffen werden die Bürger zu Narren, der Spaß wird dabei sehr ernst genommen. Die Schlaraffia allerdings zu beschreiben, fällt selbst Schlaraffen schwer. Eine Mischung aus Dada, Freimaurer und Ritterspiel? Auch nicht wirklich. Das einzige, was hilft: Teilnahme am Dienst.
Ich kontaktierte den "Oberschlaraffen für Inneres" der Schlaraffia Vindobona. Sein bürgerlicher Name ist Schaffer, sein Vereinsname Ritter Staphylo der Kokkenjäger. Als ich ihn anrufe, meldet sich eine Frauenstimme: "Guten Tag, Ordination Dr. Schaffer." "Ähm ... guten Tag. Den Herrn Dr. Schaffer hätt´ ich gern gesprochen." "Worum geht es denn?" "Um eine ... Schlaraffen-Sache." Die Stimme wird hellhörig: "Ah, verstehe. Kann der Herr Doktor Sie zurückrufen? Er hat gerade einen Patienten."
Kurze Zeit später schellt das Telefon, und Ritter Staphylo und ich verabreden uns zu einem ersten Kennenlernen. In einem Wiener Café im 8. Bezirk stelle ich mich vor. In dieser Stadt alleine gibt es drei Schlaraffen-Vereine, sogenannte "Reyche", erzählt er. Die Schlaraffia Vindobona ist mit zirka 100 Mitgliedern die größte und wurde 1880 als 24. Reych gegründet. Weltweit existieren um die 265 Reyche - von Klagenfurt über Paris bis nach San Francisco und Rio de Janeiro. In Deutschland gibt es 151, in Österreich 49, in der Schweiz 11, in Nordamerika 33, in Südamerika 9. Daneben existieren auch noch Reyche in Schweden, Belgien, Frankreich, Spanien, Australien und Thailand. In Österreich leben um die 2500 Schlaraffen, in Deutschland 6650, in der Schweiz 470, in Lateinamerika 190, in Nordamerika 666. Die wöchentlich stattfindenden Vereinssitzungen heißen "Sippungen", die Vereinslokale "Burgen".
Die Schlaraffia wurde 1859 von jungen, deutschsprachigen Künstlern in Prag, das damals zur k.u.k.-Monarchie gehörte, gegründet. Ihre Zeitrechnung setzt im Gründungsjahr der Schlaraffia an: 2011 ist also das Jahr 152 a. U. ("anno Uhui"). Die Gründer, auch genannt Urschlaraffen, hatten genug von der etablierten Institution Kunst und stampften die Schlaraffia als augenzwinkernden Gegenschlag, als "Persiflage auf Anmaßung und Standesdünkel" aus dem Boden. Freundschaft, Kunst und Humor wurden als Grundstatuten festgelegt - und blieben bis heute unverändert. Die Schlaraffia ist ein reiner Männerverein, der Wert auf Tradition legt. Die meisten Mitglieder sind 60 Jahre und älter und gehören zum (gehobenen) Bürgertum: Uniprofessoren, Architekten, Juweliere, viele bereits in Ruhestand. Die Schlaraffia Vindobona tagt jede Woche am Donnerstagabend. Die Zusammenkünfte finden in allen Reychen von Anfang Oktober bis Ende April ("Winterung") statt, von Mai bis September ist Sommerpause ("Sommerung"). Das hat ganz profane Gründe, wie Dr. Schaffer bei einem Soda erzählt: "Damals wie heute sind Theaterleute im Sommer oft in Provinztheatern und verlassen die Stadt. Also setzte man die Sippungen da aus – es wären einfach keine Leute da gewesen."
Schon im 19. Jahrhundert sind Schlaraffen aus beruflichen oder privaten Gründen umgezogen, doch anstatt ihrem Verein lange nachzutrauern, gründeten einige von ihnen eigene Reyche in anderen Städten - und es kam langsam zum weltumfassenden Schlaraffia-Phänomen. Den Wochentag, an dem die Sippung stattfindet, legt jedes Reych strategisch fest. In der Wiener Umgebung etwa kann man von Montag bis Freitag jeden Abend an Sippungen in verschiedenen Reychen teilnehmen. "Sassen”, also Vereinsmitglieder, sind jederzeit in allen Reychen auf der ganzen Welt willkommen. Dr. Schaffer: "Für einen Vertreter ist das ideal: Wenn der ein bißchen geschickt ist, kann er jeden Abend in einem anderen Reych unter Freunden verbringen, anstatt einsam und alleine im Hotelzimmer zu sitzen."
Wie sich im Laufe des Gesprächs zeigt, gefällt es Dr. Schaffer einerseits, die Schlaraffia medial vorzustellen, andererseits scheint er - im Namen des Vereins - zu befürchten, lächerlich wegzukommen. Doch nach einer Stunde Abschnuppern wird es zur beschlossenen Sache: Schon am nächsten Tag darf ich zur Sippung in die Burg kommen. Einzig meine Garderobe muß ich noch ändern - nicht mit abgetragenem Kapuzenpullover soll ich erscheinen, sondern in Anzug und Krawatte.
Gesagt, getan. Es ist kurz nach 19 Uhr, und ich nähere mich wohlgekleidet dem Vereinshaus in der Währingerstraße im 18. Bezirk. Es ist "Uhutag" und es gilt, ins Reych "einzureytten". Vor mir ein älterer Herr mit Aktenkoffer, hinter mir ein älterer Herr mit Aktenkoffer. Wir wollen alle in dasselbe Gebäude - markiert mit einem großen Uhu, dem Vereinszeichen. Nacheinander durchschreiten wir das Eingangstor, durchkreuzen einen Hof und erreichen nach einer weiteren Tür die Garderobe der Burg. Wie alle anderen auch gebe ich meinen Mantel ab, verhalte mich möglichst unauffällig und falle trotzdem sofort auf. Jeder Schlaraffe hat sein eigenes Kärtchen mit Foto bei der Garderobe - nur ich bekomme eine lieblose Nummer. Meine Begleiter öffnen ihre Aktentaschen und entnehmen ihre Uniformen, ich zögere kurz. Doch die Garderobendame hat mich schon fokussiert und fragt von der Seite, auf wessen Geheiß ich hier sei. Ich antworte mit "Dr. Schaffer", und sie stutzt mich gleich zurecht: "Den Ritternamen! Der bürgerliche zählt hier nicht."
Als "Pilger" - der untersten Stufe - wird mir eine Muschel an einer Kette überreicht, die ich den ganzen Abend um den Hals zu tragen habe. Die Dame führt mich in die Burg. Die Wände sind mit Ritterwappen behängt, am Plafond eine massive Holzdecke, mehrere Uhus stehen im beeindruckend großen Saal, alles ist sehr "ritterlich" eingerichtet. Im Seitenflügel befindet sich die "Nebenburg" (Besprechungszimmer), daneben ein Museum mit Ausstellungsstücken berühmter Schlaraffen wie Schauspieler Paul Hörbiger und Komponist Franz Lehár. Weitere berühmte Schlaraffen waren Gustav Mahler, Peter Rosegger und Gustl Bayrhammer ("Meister Eder"). Das Reych Vindobona hat eine der größten Burgen weltweit und zählte nach dem Ersten Weltkrieg beinahe 600 Mitglieder. 1923 wurde das gesamte Vereinshaus käuflich erworben, bis heute finden hier die Sippungen statt.
In der Burg werde ich von Ritter Staphylo an den "Ceremoniemeister" - so die schlaraffische Schreibweise - Ritter Tschien übergeben. Ritter Staphylo leitet die heutige Sippung und hat keine Zeit, sich als Pate um mich zu kümmern. Ritter Tschien sitzt beim Eingang, alle Ankömmlinge werden auf eigenen Kärtchen genau registriert. Er zählt mit 47 Jahren zu den jüngsten Schlaraffen. Zwischen ihm und Ritter CondeQuent, einem Gast aus einem deutschen Reych, nehme ich Platz. Die Schlaraffen begrüßen einander mit Handschlag und einem herzlichen "Lulu!" - der offiziellen Begrüßungs- und Jubelformel. Alle Schlaraffen sind Brüder im Geiste. Den einen kennt man besser, den anderen weniger - aber alle sind gleich. Bei den Begrüßungen sitzt wie den ganzen Abend über ein altmodischer Schalk im Nacken. Selbstironie ist eines der Hauptkennzeichen der Schlaraffen. Worte werden gedreht, Sprichwörter neu ausgelegt, man foppt sich mit schneller Zunge, aber nie beleidigend. CondeQuent: "Die Schlagfertigkeit ist essentiell; den Mut, sich zu äußern, lernt man in der Schlaraffia." Ich sitze hier wie ein Fremdkörper, aber trotzdem: Alle Schlaraffen sind sehr liebenswürdig und freuen sich, mir ihr Reych zu zeigen. Sie tragen sogenannte Helme - Stoffmützen, auf denen ihre Ritternamen zu lesen sind. Beim Reych Vindobona haben sie die Farben weiß, rot, gelb, blau; andere Reyche haben andere Farben. Amtsträger tragen zusätzlich Ketten, Orden und Schärpen.
Woher der Vereinsname kommt, bleibt Spekulation, genauso wie die Frage, warum der Uhu zum Symbol der Schlaraffia wurde. (Der (echte) Uhu namens Roland im Tiergarten Schönbrunn wird übrigens von der Schlaraffia gesponsert.) Ritter Staphylo: "Es könnte sein, daß in dem Lokal, in dem die ersten Treffen der Schlaraffia waren, ein Uhu gestanden ist. Solche Fragen werden nie geklärt werden, da sämtliche Aufzeichnungen vernichtet wurden." In ihrer mehr als 150 Jahre langen Geschichte mußte sich die Schlaraffia durch den Ersten Weltkrieg quälen - im Zweiten wurde der Verein verboten, da Hitler bekanntlich keinen Humor hatte. 1939 wurde die Schlaraffia aufgelöst und das Vereinshaus enteignet - geheime Stammtische fanden trotzdem statt. Die Schlaraffen nennen diese Jahre die "uhufinstere Zeit". 1946 konnte die Vereinstätigkeit wieder aufgenommen werden, 1947 bekam die Schlaraffia Vindobona ihr Haus zurück. Auch im Kommunismus ging man streng gegen die Schlaraffen vor - eine ähnlich witzlose Sache.
Ritter Staphylo blickt auf die Uhr, gleich ist es acht. Bevor er auf die Kanzel steigt, warnt er mich noch: "Die ersten Male verzweifelt man und denkt sich wahrscheinlich: 'Die gehören alle auf die Baumgartner Höhe.' Erst nach vier bis fünf Jahren fängt man an, es zu verstehen." Ritter CondeQuent zuckt mit den Schultern: "Also, wenn mich jemand fragt, was die Schlaraffia ist, sage ich immer: 'Ich bin seit 32 Jahren dabei – und ich weiß es noch immer nicht.' " Was er aber weiß ist, worüber man zu schweigen hat: "Keine Politik, keine Religion, keine Zoten."
Fortsetzung folgt ...
aus: Rokko´s Adventures #9
(erschienen im Juli 2011)
Text & Interview: Rokko
Photos: Klaus Pichler
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Kommentare_
Gut beschrieben. Bin zwar noch kein Schlaraffe,habe aber fest vor, bei meiner Rückkehr nach Wien einer zu werden und stehe mit Rt. Staphylo bereits in einem engen Kontakt.