Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #40
Ein kurzer Griff nach den Sternen
Oder: Warum die Beach Boys für die Pop-Musik so wichtig sind. Dr. Nachtstrom surft für Rokko in die kalifornische Vergangenheit.
04.11.2012
Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.
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1. Vorspiel
"Die Beach Boys?" fragst du mich, mit hochgezogener Augenbraue. "Über die schreibst du einen Artikel?" "Ja, genau über die", sag´ ich und versuche mich an einem wissenden Lächeln, verziehe aber nur kläglich den linken Mundwinkel. "Ja, aber", sagst du, "sind das nicht diese alten, peinlichen Säcke, die bei so Oldie-Hitparaden auftreten, mit Matrosenmützen, Hawaiihemden, aus denen die Schmerbäuche hängen, und mit so protzigem Goldzeugs behängt?" "Natürlich", gebe ich zu. "Die Beach Boys sind ein einziges Klischee: Surfen, Kalifornien, Wellenberge. Nicht sehr zeitgemäß bei diesen riesigen, fett glänzenden Ölteppichen auf der Oberfläche unserer Meere.
Und außerdem", füge ich, ein wenig trotzig, ungefragterweise an, "alles gelogen. Außer Dennis Wilson hatte ja gar keiner von denen was mit Surfen am Hut, geschweige denn überhaupt Ans-Meer-Rausgehen zum Schwimmen oder so. Lieber hockten die drinnen und erfanden geniale Musik."
2. Eine ganz kurze Kindheits-Reflexion
Im Gegensatz zu den Beatles, den Stones, den Who, Reinhard May und Boney M. haben die Beach Boys nur eine marginale Rolle in meiner Kindheit und Jugend gespielt. Die waren weder mit den in der Pubertät für jedes Kind wichtigen aggressiven noch mit den schlüpfrigen oder schwülstigen Erfahrungen verknüpft. Cooles Insidertum gab es damals noch keines, also auch keine musikalischen Geheimtips. Das kam erst später, als man die großen Leuchtfeuer des Rock´n´Roll alle pflichtschuldig abgeklappert hatte. Ich besaß dann in den 1980er Jahren einmal eine Originalkassette von den Beach Boys namens "Keepin´ the Summer Alive" - mehr als die unaufregende Musik (ein langweiliges Chuck-Berry-Lied und andere müde Songs) faszinierte mich das Cover: alte Männer mit Goldketterln und unhippem Sommergewand auf einem Ministrand, eingeschlossen in einer kleinen Glaskuppel, ringsum nichts als karge Eiswüste. Das hätte ich sofort mit Ozymandias´ Reich in der Antarktis in Verbindung gebracht, hätte ich die famosen "Watchmen" damals gekannt, aber Alan Moore hat die ja erst ein paar Jahre danach geschrieben. Abseits dieser Spekulationen waren die Beach Boys im Jahrzehnt von Klaus Nomi, Synthesizer-Pop und Postpunk ja sowieso echt das Allerallerletzte. Erst viel später wurde mir klar, daß diese Band abseits aller Klischees in den späten 60er Jahren ein paar vollkommen unglaubliche Meisterwerke der Popmusik geschaffen hatte. Und daß die auch eine Geschichte von Dekadenz, Wahnsinn und Tod auf dem Buckel hatten. Aber alles der Reihe nach.
3. Beginnings: Wilsons = Jacksons
In ihrer Frühzeit kann man die Beach Boys ganz super mit den Jacksons vergleichen: Drei Brüder namens Brian, Carl und Dennis Wilson, Cousin Mike Love und der beste Freund Al Jardine singen neben den bei Jungs üblichen gemeinsamen Onanier-Sessions im Schlafzimmer auch heimlich Songs aus der Hitparade nach. Wilson-Stammvater Murry, Ex-Arbeiter bei Goodyear, erfolgloser Songwriter und alkoholkranker Spinner, bemerkt dies und beschließt, aus den fünf Teenagern eine berühmte Popgruppe zu machen. Er ernennt sich zum Manager der Truppe und sorgt in den kommenden Jahren mit einer Mischung aus Prügeln, Schreiattacken, eiserner Disziplin und weinerlichem Sentiment dafür, daß aus den Jungs wirklich etwas ganz Besonderes wird - wie in einer solchen Konstellation üblich, legt er aber auch gleichzeitig den Samen für spätere Exzesse und Zusammenbrüche.
In einem kleinen Studio dürfen die Pendletones - so der Bandname, den sich die Jungs nach "Carl & The Passions" ausgedacht haben - ein paar erste Songs aufnehmen, wovon einer, "Surfin´", Gnade vor den Ohren der anwesenden Produzenten findet, die der Papa vorsorglich zu den Recording-Sessions eingeladen hat. Ein paar Tage später erfährt die frischgebackene Band sowohl, daß ihre Single veröffentlicht werden wird, als auch, daß Paps zusammen mit den Produzenten den Bandnamen auf Beach Boys geändert hat - natürlich ohne Rücksprache mit den Protagonisten. Aller Protest ist sinnlos, zähneknirschend müssen die Jungs das hinnehmen. Das wird nicht immer so sein, aber einstweilen ist Murry Wilson der uneingeschränkte Alleinherrscher.
In den Jahren darauf werden die Beach Boys durch harten Drill zu Ikonen der amerikanischen Oberflächlichkeit, gnadenlos glatt- und weichgebügelt. Adrette, uniforme Kleidung, ein g´scheiter Haarschnitt und das Image der sportbegeisterten, netten Jungens von nebenan, die nichts Ärgeres im Sinn haben als den Mädels am Strand nachzujagen. Das ist die große Lüge der Beach Boys, die außer Dennis samt und sonders kein Interesse an Sport haben, nicht surfen und in einzelnen Fällen nicht einmal schwimmen (!) können. Dieses Image, teilweise gehaßt und andererseits bis zum Erbrechen bedient, wird ihre Krux und gleichzeitig der Motor ihrer Kreativität, aber auch ihres Wahnsinns sein.
"Surfer Girl", "Surfin´ Safari", "In My Room", "Little Deuce Cope", "Fun, Fun, Fun", "I Get Around" und so weiter und so fort - die Liste ihrer Frühsixties-Hitsingles ist ebenso end- wie belanglos und dient heute nur noch als Füllmaterial für einschlägige Oldie-Sender. Die Beach Boys jener Zeit werden genauso gnadenlos verheizt wie jede x-beliebige Boyband heutzutage. Aufnahmen, Photosessions, Meet-and-Greets, Fernsehshows, Live-Auftritte, Tourneen, das Komponieren neuer Hits, die gleich klingen wie diejenigen zuvor; es ist eine endlose, furchtbare, alles verschlingende Maschinerie. Zeitmangel macht Haupt-Songwriter Brian zum Sound-Dieb: aus Chuck Berrys "Sweet Little Sixteen" wird "Surfin´ USA", aus "When You Wish Upon A Star" wird "Surfer Girl". Zum Glück ist der schüchterne junge Mann ein dermaßenes musikalisches Naturtalent, daß ihm das Verändern und Variieren leicht fällt, aber er ist nicht glücklich. In ihm brodelt ewas, das sich Raum schaffen will, ein kreativer Samen, der in der kargen Wüste der Aufrechterhaltung der Image-Lüge bisher keine Chance hatte - aber, wie man weiß: Löwenzahn bohrt sich ja sogar durch dicke Betonblöcke.
4. Das Problem mit Brian und erstes Erblühen
Nach fünf Jahren der unmenschlichen Maloche zeigen sich Risse: Managervater Murry säuft wie ein Loch. Seine gelallten, gesabberten Anweisungen verlieren sich in der Obskurität, und durch die zunehmende Nichtbeachtung verliert sich Murry wiederum im weinerlichen Alkoholikerland. War nicht er derjenige, der alles ins Rollen gebracht hatte? Die Welt ist hart und ungerecht. Oftmals finden nun Aufnahmesitzungen statt, von denen er nichts weiß; manchmal taucht er aber dann plötzlich doch im Studio auf. In diversen Outtakes haben sich ein paar Streitgespräche zwischen Murry und Brian erhalten, in denen der besoffene Vater vergeblich versucht, das Ruder zu seinen Gunsten herumzureißen, doch gegen den aufbegehrenden Brian keine Chance mehr hat. Für Paps ist der Zug abgefahren, der verewigt sich 1967 noch als Möchtegern-Crooner auf der Soloplatte "The Many Moods of Murry Wilson" (ein großartiges Stück Outsider-Musik, nebenbei) und vertschüßt sich 1973 von der Welt und vor allem seinen Söhnen im zarten Alter von 55 Lenzen durch einen massiven Herzinfarkt.
Murry Wilsons Absenz ab der zweiten Hälfte der Sixties ist ein ganz wichtiger Einschnitt für Brian, der sich nun getraut, seine Inspirationen immer mehr in die Kompositionen einfließen zu lassen. Denn im Gegensatz zu seinen eher einfach gestrickten Brüdern ist Brian immer an den Enwicklungen der Popmusik interessiert. Das Erdbeben, das der Besuch der Beatles in den Staaten 1964 ausgelöst hat, ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen; aufmerksam beobachtet er seitdem die Entwicklung der Fab Four. Während die Band auf den unzähligen Parties neben den nassen Zungen der willigen Mädchen zum ersten Mal auch die plötzlich überall erhältlichen Drogen kostet, bemerkt Brian nebenbei auch noch, was die allgemeine Bewußtseinserweiterung mit der Beatles-Musik anstellt: Zwischen 1965 und 1966 startet deren Kreativität einer Rakete gleich auf das nächste Level. Man mag kaum glauben, daß "Rubber Soul" und natürlich "Revolver" von der gleichen Band stammen, die vor kurzer Zeit noch "Yeah Yeah Yeah" gesungen und dazu debil die lächerlichen Pilzkopffrisuren geschüttelt hat.
Sieht man sich heute frühe, konservierte Auftritte der Beach Boys an, sticht das Unwohlsein Brian Wilsons an der Live-Situation im Gegensatz zu seinen professionell-juvenil agierenden Bandkollegen geradezu heraus. Selbst Dennis Wilson, der als Schlagzeuger über noch weniger Talent verfügt als sein britischer Kollege Ringo Starr, haut voller Begeisterung in die Felle. Bloß Brian sitzt introvertiert an seinem Klavier, man merkt ihm an, daß er nicht hierher gehören will, als Projektionsfläche für die kreischenden Teenies im Publikum. Dabei ist er damals noch leidlich gutaussehend, so in der Richtung schüchtern-linkischer Bär; während sich später zuerst unglaubliche Arroganz, dann senile Weltabgerücktheit und heute sowas wie T. S. Eliots "Wasteland" in seinem Aussehen und seinen Augen widerspiegeln.
Zurück in die zweite Hälfte der Sechziger: Brian hat während einer der Touren einen hysterischen Anfall und sieht sich nun nicht mehr in der Lage, seine Brüder und Kumpels bei ihren Knochenjobs auf den zahllosen Bühnen jener Zeit zu unterstützen. Inwieweit er damals simuliert hat, ist heute schwer einzuschätzen; Tatsache ist, daß er für sein Leben gerne im Studio und zu Hause mit Sounds experimentiert und keinen Grund mehr sieht, sich an Live-Aktivitäten zu beteiligen, weil er auch zusehends in die Rolle des alleinigen Produzenten des evolvierenden Beach-Boys-Sounds hineinwächst - die eh schon immer bescheidenere Rolle der anderen an den Kompositionen reduziert sich innerhalb kurzer Zeit auf Null. Und da tut sich eine Kluft auf, denn wo Brian hin will, da können die anderen nicht mit. Er beschäftigt sich mit experimenteller Musik, verfertigt Endlos-Loops aus Tonbändern, hört sich selbst aufgenommene Sounds stundenlang rückwärts an. Die mehrstimmigen Vokal-Arrangements, das Markenzeichen der Beach-Boys-Hits, werden immer komplexer - Brian sieht sich hier als Bewahrer des stimmlichen Klangideals der Lounge-Gesangsgrupe Four Freshmen, deren phantasievolle und komplizierte Stimmarchitektur er geradezu religiös verehrt.
Als 1965 das Beatles-Album "Rubber Soul" und danach "Revolver" erscheint, ist Brian wie paralysiert; obwohl er sich inzwischen in seiner selbstgewählten Isolation als einen der größten Komponisten der Pop-Geschichte sieht, ist er ehrlich genug, die Meisterschaft dieser beiden fundamentalen LPs anzuerkennen. Aus jener Zeit überliefert ist seine Aussage: "I´m gonna make the greatest album! The greatest rock album ever made!" Das Resultat dieser ebenso hochtrabend wie verzweifelt wirkenden Aussage heißt "Pet Sounds" und galt viele Jahre zu Recht als eines der ganz großen Pop-Alben.
5. Wahnsinn und Meisterschaft
Hat er bis dahin vielleicht noch ein wenig mit "Wahnsinn" kokettiert, befindet sich Brian nun auf dem ernsthaft beschrittenen Weg dorthin. Sehr schnell entfremdet er sich von seinen Bandkollegen, da diese die meiste Zeit auf Tournee sind, während Brian sich in seinem Haus seinen megalomanischen Sound-Phantasien hingibt. Er braucht sein Domizil auch nicht mehr zu verlassen, da er sich ein Studio bauen hat lassen, in dem er die meisten Demos verfertigt; für diverse Aufnahmen mit Studiomusikern, Orchester etc. werden dann andere Studios in Los Angeles angemietet. Diese Art des Musikmachens übertreibt Wilson bis zum Exzeß: Für die damals mega-erfolgreiche und unter Kritikern und Fans bis heute höchst geschätzte Single "Good Vibrations" werden gleichzeitig drei Studios benutzt, in denen die selben Teile immer wieder von vorne aufgenommen werden. Das verschlingt Unmengen von Musikern und kostet mehr als eine gesamte LP-Produktion der damaligen Zeit.
Für die restlichen Beach Boys bleibt nicht viel mehr, als die Vocal-Spuren einzusingen, die Brian Wilson ihnen strikt vorgibt. Am Kompositionsprozeß sind sie nun gar nicht mehr beteiligt, sie haben außerdem die größten Probleme, die musikalische Richtung zu verstehen, in die Brian den Beach-Boys-Sound treibt. Mühsame Streitereien sind die Folge. Mühsam deshalb, weil Brian inzwischen durch exzessiven Drogenmißbrauch kaum mehr zugänglich für logische Argumente ist. Die meiste Zeit sitzt er weggetreten an seinem weißen Klavier in seinem Wohnzimmer, um das herum er sich eine riesige Sandkiste bauen hat lassen. Vor allem Bruder Carl ist strikt gegen den Kompositionsstil seines Bruders, gibt aber einstweilen noch nach; Cousin Mike Love hingegen ist verletzt, weil er keine Lyrics mehr zu den Songs beisteuern darf. Seine Enttäuschung wird später dazu führen, daß er gegen Brian Stimmung macht, wo er nur kann; noch später wird er sich sogar soweit herabwürdigen, gegen seinen einstigen besten Freund und Bandkollegen gerichtlich vorzugehen. Dazwischen herrscht jahrzehntelang eisiges Schweigen, obwohl zumindest auf dem Papier beide noch Mitglieder der gleichen Band sind.
Ende 1966 engagiert Brian Wilson den Songwriter Van Dyke Parks, mit dem er sein nächstes Projekt namens "Smile" verwirklichen will. Brian ist stark unter Druck: "Pet Sounds", das ja als Reaktion auf "Revolver" von den Beatles erschienen ist, hat diese wiederum zu der LP "Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band" inspiriert, deren Sessions damals gerade in den Abbey Road Studios stattfinden. Die psychedelische Meisterschaft dieser Platte, die im Mai 1967 erscheint, wird nicht nur Konkurrenten wie die Rolling Stones dazu bringen, sich vor lauter Verzweiflung in eines ihrer schlechtesten Projekte namens "Their Satanic Majesties Request" zu verrennen, es wird auch einer jener Hammerschläge sein, der den bröckeligen Schutzwall von Brian Wilsons geistiger Gesundheit endgültig zum Einsturz bringt. Nach monatelanger Untätigkeit und der Unfähigkeit, mit Brian auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, verläßt Van Dyke Parks das "Smile"-Projekt, und der ehemalige Beach-Boys-Chefkompositeur verirrt sich zwischen tausenden Tonbandschleifen, kleinen Zetteln mit Textfragmenten und winzigen Splittern dessen, was das größte Pop-Meisterwerk des damaligen Jahrhunderts werden sollte.
So avanciert "Smile", das niemals als reguläre Platte erscheint, für die nächsten Jahrzehnte zu einer famosen urbanen Legende, da sich jeder Pop-Interessierte die Genialität des Gesamtwerks in glühendsten Farben selbst ausmalen kann.
Wenn man sich bemüht, kann man einzelne Teile von "Smile" auf den späteren Beach-Boys-Releases der damaligen Zeit zusammensuchen. Da Brian Wilson nicht mehr zu kongenialem Output fähig war und der Rest der Band sich noch keine Kompositionen im großen Stil zutraute, wurden einzelne Stücke, zusammen mit älteren Aufnahmen und ersten kreativen Versuchen der anderen Bandmitglieder, auf Platten wie "Smiley Smile", "Wild Honey", "Friends" und "20/20" veröffentlicht. Wilson selbst releaste "Smile" als Soloprojekt im Jahr 2004; diese Neuaufnahme hat aber nichts mehr vom psychedelischen Geist der Originale zu bieten und kann getrost übergangen werden. Capitol Records plant übrigens eine Neuveröffentlichung der gesamten, orignalen "Smile"-Sessions im heurigen Jahr, man darf gespannt sein, ob es wirklich zu einer Veröffentlichung kommen wird.
6. Brian, Brian und Syd
Das verlöschende Geisteslicht Brian Wilsons zum Ende der 1960er Jahre kann man durchaus mit dem anderer, berühmt-berüchtigter Drogenkonsumenten jener Zeit vergleichen. Zum Beispiel mit den unrühmlichen letzten Jahren des einstigen Rolling-Stones-Gründers Brian Jones, der zwar unbestrittenermaßen ein musikalisches Genie war, vor lauter Pillenschlucken aber an den meisten Tagen nicht mehr aus dem Bett kam, da er nicht mal fähig war, zwei Socken der gleichen Farbe über seine aufgeschwemmten Füße zu streifen; wenn Jones dann einmal plötzlich im Studio auftauchte, wurde er von seiner Band ignoriert oder unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ruhiggestellt (berühmt jene Szene der "Sympathy for the Devil"-Sessions, festgehalten von Filmemacher Jean-Luc Godard: Brian Jones sitzt in einer eigenen Box und spielt selbstvergessen Gitarre; man nimmt allerdings seine Gitarrenspuren nicht auf, was er nicht bemerkt).
Auch mit jenem anderen, legendären "Pop-Einsiedler", Syd Barrett, darf man Brian Wilson getrost vergleichen: So wie Barrett durch exzessivsten LSD-Konsum bei diversen Pink-Floyd-Gigs durch sein erratisches Benehmen nicht mehr tragbar war und von seinen Mitstreitern eines Tages einfach nicht mehr abgeholt wurde, als wieder ein Konzert zu spielen war, fällt auch der aufgedunsene, linkisch und seltsam agierende Brian Wilson bei den wenigen Beach-Boys-Konzerten unter seiner Teilnahme der frühen Siebziger dermaßen unangenehm auf, daß er fortan durch diverse Studiomusiker ersetzt wird.
Seine Fähigkeit zur Komposition ist inzwischen vergangen; seit der LP "Sunflower" im Jahr 1969, zu der die restlichen Beach Boys unter vereinter Anstrengung und mit guten Ergebnissen eigene Songs beigetragen hatten, wurde der einstige Kreativkopf der Band nicht mehr benötigt. So beginnt also jene mythenumwobene Zeit von Brian Wilson als Eremit; in den vielen Jahren des kompletten Rückzugs von der Öffentlichkeit wiegt er zeitweise mehr als 200 Kilogramm, verläßt das Bett nicht mehr und wird erst durch einen seltsamen "Wunderdoktor" namens Eugene Landy wieder mehr oder weniger zurück "ins Leben" gebracht. Das hat seinen Preis: Landy verlangt so viel Geld, daß die Beach Boys ein Konzert pro Monat nur dafür geben müssen, um Brians Rechnungen an den Scharlatan zu bezahlen. Der seltsame Doktor übernimmt auch sonst die Kontrolle über seinen Patienten, wird zu dessen Manager und produziert seine legendäre "Comeback"-Solo-LP im Jahr 1988. Mit viel Mühe (und der Hilfe vieler Anwälte) kann man Landy schließlich aus dem Leben seines berühmten Patienten drängen. Er stirbt im Jahr 2006 in Hawaii an Lungenkrebs.
7. Transzendentale Medition, Charles Manson und Tod
Meine liebsten Pressephotos der Beach Boys stammen aus der Zeit der frühen 1970er Jahre: Man hat Mühe, in den struppigen Hippies mit den extralangen Bärten und bunten Schals, oftmals mit gefalteten Händen oder in lächerlich übertriebener meditativer Pose, die glattrasierten Strandboys von einst zu erkennen. Letztendlich hatte auch der Rest der Band begonnen, so wie Brian exzessiv bunte Pillen zu schlucken und sich (vor allem Mike Love) mit östlicher Weisheitslehre und transzendentaler Meditation des in Pop-Kreisen so beliebten Gurus Maharishi Maresh Yogi zu beschäftigen (die Beatles hatten den zu jener Zeit aber schon längst durch).
Man verfiel zwar nicht kollektiv dem Wahnsinn wie Brian, aber hauptsächlich für einen der restlichen Beach Boys, Dennis, den ältesten der Wilson-Brüder und einzigen wirklichen passionierten Surfer der Gruppe, hatte jene Zeit wirklich schlechte Auswirkungen. Er mutierte zum schweren Alkoholiker; seine Exzesse jener Zeit gruben entsetzliche Spuren in das einstmals so jugendlich wirkende Gesicht. Vor seinem Tod im Alter von 39 Jahren sah Dennis Wilson bereits aus wie ein sehr, sehr alter Mann. Dennis traf seinen Todesengel bereits im Jahr 1968; da nahm er zwei weibliche Anhalterinnen mit zu sich nach Hause; später stand der "Guru" dieser Frauen auf seiner Türschwelle - dabei handelte es sich um niemand anderen als den "Todespropheten" Charles Manson.
Dennis Wilson fand Manson sympathisch und bewunderte den charismatischen Mann für seine Ansichten und für sein musikalisches Talent. Der selbsternannte Guru bezog für eine gewisse Zeit lang Quartier bei dem Beach-Boys-Drummer, was der widerspruchslos hinnahm (die zahlreichen weiblichen Manson-Anhängerinnen dürften dabei eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben). Es geht auch die Legende um von zahlreichen Sessions, die Dennis mit Manson zusammen im Heimstudio seines Bruders Brian aufgenommen haben soll - bis heute ist davon allerdings nichts veröffentlicht worden. Wenigstens "Cease to Exist", ein originaler Manson-Song, hat als umgeschriebene Version unter dem Titel "Never Learn Not To Love" Eingang in das Werk der Beach Boys gefunden, als Single-B-Seite und auf dem Album "20/20" aus dem Jahr 1969. Als Dennis hinter Charlie Mansons wahre Natur kam, hinter seine Manipulationsversuche und seinen Drang, andere zur Gewalttätigkeit zu zwingen, verließ er die Manson-Family, indem er aus seinem eigenen Haus auszog und die Anhänger dort einfach zurückließ. Den Kontakt abzubrechen erwies sich allerdings als fatale Idee: Der zurückgewiesene Guru hinterließ einem Hausangestellten Wilsons eine Pistolenkugel zusammen mit einer kryptischen Botschaft, die bis heute unbekannt ist, vom Beach-Boys-Drummer aber eindeutig als Fluch oder Todesdrohung verstanden worden sein dürfte.
Überhaupt, als 1969 dann die Tate/La Biance-Morde geschahen, dürfte Dennis seine Koketterie mit Manson furchtbar leidgetan haben; aus seinem Umfeld durfte niemand mehr den Namen des einstigen Freundes erwähnen. Dennis trank mehr als jemals zuvor; die Angst vor einer Vergeltungsmaßnahme der Manson-Family gegen ihn hatte sich zu einer fixen Idee verdichtet. Selbst als Manson und seine Anhänger längst im Gefängnis saßen, konnte der ehemalige Sunnyboy sich nicht mehr erholen; seine letzten Jahre waren eine traurige Aneinanderreihung alkoholischer Exzesse. 1983 ertrank Dennis Wilson beim Tauchen unter seiner Yacht; ein bizarrer Tod, wenn man bedenkt, dass er der einzige der Beach Boys war, für den Wasser ein natürliches Element darstellte, in dem er sich gerne und oft sportlich bewegte. Unbedingt erwähnen sollte man seine zwei Soloplatten "Pacific Ocean Blue" und "Bambu", wo er, fast am Ende seines Lebens, mit rauher Stimme in furchtbar wehmütigen Songs noch einmal über die schönen Zeiten, aber auch schonungslos über seine persönlichen Fehler reflektiert. Diese zwei LPs gehören meiner Einschätzung nach zum Traurigsten, was die Popgeschichte bisher hervorgebracht hat.
8. Das unentdeckte Erbe
Und damit ist auch schon wieder alles Interessante über die Beach Boys erzählt. Brian Wilson ist seit vielen Jahren soweit wiederhergestellt, daß er Songs schreiben und aufnehmen kann; von seiner einstigen Größe und vor allem Stimme ist allerdings kaum etwas übriggeblieben. In den wenigen Interviews mit dem einstigen Pop-Gott merkt man, daß Brian zwar aufgrund von bis heute andauernder Medikation wieder ein Leben hat, dieses aber nur einen ganz kleinen Abglanz der früheren Megalomanie darstellt - und das wird sich auch bis zu seinem Lebensende nicht mehr ändern.
Der Rest der Beach Boys, unter der Führung von Mike Love, verdingt sich, wie eingangs erwähnt, als schmerbäuchige, Hawaiihemden-tragende, Goldketterl-behängte Oldiestruppe bei diversen Live-Konzerten - man trällert da mit vom Alter wacklig gewordener Stimme allerdings nur die Surf-Liedchen der Frühphase. Die genialen kleinen und großen Pop-Diamanten der "Pet Sounds"- und "Smile"-Phase scheinen ausradiert, gelöscht, so als hätten sie nie existiert. Und so ist es zu erklären, daß man von den meisten Menschen schräg angesehen wird, wenn man von der "Genialität" der Beach Boys schwärmt und manche ihrer Songs als "Meisterwerke" bezeichnet. Das Tor zur psychedelischen Glückseligkeit, das sich da für einige Jahre in den wilden sechziger Jahren öffnete, hat sich halt allzuschnell wieder geschlossen, hauptsächlich durch das eigene Verschulden ihres einstigen Herrn und Meisters Brian Wilson. Aber zumindest hat er versucht, nach den Sternen zu greifen - und sei dafür wenigstens von den Eingeweihten für immer verehrt.
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