Stories_Die Ukraine - Unterwegs im Osten Europas/Teil 2
"No negative effect on your body"
Historisch betrachtet ist die Geschichte der Krim etwas unübersichtlich:
Aktuell und umstritten ist sie Teil Rußlands, vorher war sie Teil der Ukraine, davor der Sowjetunion, zwischenzeitlich deutsch besetzt, früher unter osmanischer Herrschaft und so weiter. Landschaftlich betrachtet ist die Krim traumhaft. Der Reise zweiter Teil.
30.09.2014
Martin Zellhofer war 2011 unterwegs in Odessa, Dnjepropetrowsk, Jalta und Sewastopol: Nichts, aber auch gar nichts, ließ eine Ahnung zu, was dort 2014 passieren sollte. Lesen Sie hier des Reiseberichts ersten Teil: "We wish you a pleasant stay and good luck".
Der Nachtzug bringt uns von Dnjepropetrowsk auf die Krim. Bei der Abfahrt tönt aus den Lautsprechern am Bahnhof der Radetzkymarsch. Rund 7 Euro kostet die Fahrt nach Simferopol pro Person. In unserem Wagen bilden je sechs Betten ein "Abteil", aber es gibt keine Türen zum Gang hin, stattdessen jenseits des Mittelganges Betten in Längsrichtung. Von meinem Längsbett aus kann ich so dutzende Menschen in ihren Betten beobachten. Erstaunlicherweise herrscht große Disziplin, und die Nacht verläuft relativ ruhig. Das Klo wird nur jede Stunde einmal für ein paar Minuten geöffnet.
Im Halbstundentakt kommen voll besetzte Urlauberzüge mit bis zu 15 Waggons aus allen Teilen Rußlands und der Ukraine in Simferopol an. Hier ist das Eisenbahnwesen noch in Ordnung! So einen Massenauflauf per Bahn gibt es in Westeuropa nirgends mehr. Mit der längsten O-Bus-Linie der Welt fahren wir weiter nach Jalta. Ein O-Bus hat wie eine Straßenbahn einen Stromabnehmer und fährt unter einer Oberleitung. Zweieinhalb Stunden soll die Fahrt dauern, ein wenig länger braucht sie dann. Der Bus ist bummvoll, Menschen drängen sich im Gang, es ist heiß, wir schwitzen. Anfangs ist die Landschaft öde, dann wird es romantisch. Im Krimgebirge erreicht der Bus am Anharskyj-Paß 752 Meter Seehöhe, wir durchqueren Wälder, passieren schroffe Felswände und fahren schließlich die Küste entlang, mit Blick aufs Meer.
Am Busbahnhof in Jalta lassen wir uns ein Appartement vermitteln. Ich bin schon weit gereist, aber so grindig und schäbig habe ich noch nie gewohnt. In dieser Erdgeschoßwohnung ist es finster, stickig, heiß, eng, muffig, dreckig. Die Betten hängen durch, das Bettgestell drückt ins Kreuz, die Tapeten sind vom Schmutz braun gefleckt, unter den Betten stapelt sich der Müll. Direkt vor meinem Zimmerfenster ist das Klo des Nachbarn, den wir scheißen, pinkeln und Schleim husten hören. Direkt neben unserem Klo ist dafür des anderen Nachbarn winziger Innenhof. Selbst am Klo sitzend, beobachtet einer aus unserer Gruppe, wie eine Hand durch unser offenes Klofenster greift, um es von außen zu schließen. Die Nachbarn essen gerade im Hof ... Dafür ist die Bude mitten im Zentrum und einen Steinwurf vom Strand entfernt sehr, sehr billig.
Jalta hat rund 80.000 Einwohner, scheint aber überzuquellen. Durch die Stadt schieben sich Massen, auf der Küstenstraße herrscht dichter Verkehr. Ab acht Uhr morgens ziehen die Menschen an den Strand, je später der Vormittag, desto dichter der Strom der Badewilligen. Am überfüllten Strand ist es schwer, überhaupt ein Handtuch aufzurollen. Während in Odessa Alkohol auf der Straße verboten ist, gehört das öffentliche Saufen hier wohl zum guten Ton. Am Strand wird in der prallen Sonne Bier getrunken wie sonst Wasser, überall sitzen Menschen mit Dosen- und Flaschenbieren herum, morgens beobachten wir Menschen in der Fußgängerzone beim Bierfrühstück.
An der Promenade plärrt alle paar Meter Musik aus den Boxen, hunderte Essens-, Ramsch- und Vergnügungsstände reihen sich aneinander, alles ist bunt, grell, laut und eng - wie in einem riesigen Vergnügungspark. Für musikalische Unterhaltung ist gesorgt, vom Solomusiker bis zur Band ist jede Darbietungsvariante vorhanden. Am besten sind die Alten, die russische oder ukrainische Lieder singen. Das klingt pathetisch und schön. Sie singen von der Liebe und der Revolution, sagen wir. Aber in Wirklichkeit wissen wir es natürlich nicht. Gegen Entgelt kann man sich mit diversen Tieren photographieren lassen, an Riechgefäßen schnuppern, durch Teleskope die Sterne ansehen. In den schickeren Etablissements sind die Preise "westeuropäisch". Westeuropäer sehen wir aber keine. Der Reiseführer weist drauf hin, daß Russen oder Ukrainer mitunter monate- bis jahrelang auf einen Urlaub in Jalta sparen müssen.
Blendet man den Trubel aus, erkennt man schnell den Reiz der Gegend. Der Küstenstreifen, an dem die Stadt liegt, ist nicht besonders breit. Das Gebirge erhebt sich fast unmittelbar hinter der Küste, die Wohnbauten ziehen sich daher die Ausläufer der Berge hinauf. Schroffe Felsen und Berge bilden einen spannenden Kontrast zum Meer. Es ist grün, Palmen und bunte Blumenbeete säumen die Promenade. In der Altstadt läßt sich noch ein wenig Belle Époque erkennen, und die sozialistische Moderne und Platte finde ich sowieso spannend.
Mit dem Schiff besuchen wir das Wahrzeichen der Krim, das "Schwalbennest". Das ist ein 1912 von einem deutschen Unternehmer für seine Geliebte errichtetes Schlößchen, das malerisch auf einem Felsvorsprung am Meer thront. Urlaubende schießen nicht nur hier tausende Photos: alle Familienmitglieder gemeinsam oder einzeln vor dem Schlößchen, alle Familienmitglieder auf dem Schiff, alle Familienmitglieder im Hafen, vor der Imbißbude und vor Denkmälern, die blankgegriffen sind, weil fürs Foto immer irgendwer seine Hand auf einen Teil der Statue legt, und vor denen die Menschen Schlange stehen, um ein Bild mit wem oder was auch immer zu machen. Schreckliche Urlaubsbilder. Wer will das sehen?
Nach ein paar Tagen fahren wir mit dem Bus ins nicht weit entfernte Sewastopol. Die Küstenstraße windet sich, hinter vielen Kurven lauert der Abgrund. Die Ausblicke sind super: links das tiefblaue Meer, rechts ziehen sich steile, schroffe Felsen hinauf in die Berge. Nach der Quartiers-Schlappe in Jalta wohnen wir jetzt Upper-Class. Als wir das feudale Hotel betreten, öffnet ein Page die Tür und begrüßt mich mit einem "Welcome, Sir!" Ich sehe nicht aus wie ein Sir und bin nicht gekleidet wie ein Sir - das hat Stil.
Die Stadt wurde nach ihrer fast völligen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg im sogenannten Zuckerbäckerstil wieder errichtet. Der Zuckerbäckerstil wird auch als Sozialistischer Klassizismus oder Stalin-Gotik bezeichnet. Er imitiert regionsbezogen mitunter ältere, früher gebräuchliche Stile, die eine Stadt - oft vor der Zerstörung im Krieg - geprägt haben. Das ungeübte Auge glaubt aber auf den ersten Blick, etwas tatsächlich Altes vor sich zu haben. Die vielen strahlend weißen Gebäude, die ich für klassizistische Bauten aus der Zeit um 1800 halte, sind tatsächlich nicht einmal 70 Jahre alt. Die Moderne fehlt im Zentrum fast vollständig, dadurch wirkt Sewastopol gar nicht "östlich".
Sewastopol ist eine von 12 "Heldenstädten", eine Ehrenbezeichnung, die die Sowjetunion für den Kampf gegen die deutsche Wehrmacht verliehen hat. Ein monumentales Denkmal, bewacht von sehr jungen Menschen in Uniformen, hält das Gedenken aufrecht. Sewastopol ist auch Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Bei einer Hafenrundfahrt in einer Nußschale verspricht man uns, diese zu zeigen - allein, wir glauben nicht, daß die paar Kriegsschiffe tatsächlich die russische Schwarzmeerflotte darstellen.
Alles hier ist sauber und gepflegt, friedlich und beschaulich. Nachmittags baden wir direkt im Hafengebiet am Stadtstrand. Häfen sind normalerweise nicht meine bevorzugten Badeplätze, aber das Wasser ist blau und klar - und alle tun es. Nur das Sonnen auf dem harten Asphalt der Promenade ist unbequem.
Am 24. August 2011 erleben wir den Unabhängigkeitstag. Sewastopol galt schon vor der Okkupation 2014 als "russische" Stadt, was vielleicht erklärt, warum bei den Feierlichkeiten kein großer Andrang herrscht. Aber alle Programmpunkte verlaufen friedlich, es gibt keine Polizei in den Straßen, keine Stänkerer, keine Gegendemo. Für uns Touristen deutet nichts, gar nichts darauf hin, daß es hier drei Jahre später zu Spannungen kommen wird beziehungsweise jetzt schon gestichelt wird.
Rund alle 30 Minuten verlassen enorm lange Nachtzüge den Bahnhof von Simferopol, den wichtigsten auf der Krim. Sie bringen die Urlauber zurück nach Kiew, Odessa, Moskau, Minsk, Donezk oder Lemberg. Rekordhalter ist das fast 2700 Kilometer Luftlinie entfernte Murmansk am Nördlichen Eismeer. Der Zug dorthin braucht mehr als 60 Stunden ... Im Nachtzug Richtung Flughafen Odessa reisen in unserem Abteil eine Mutter und ihre 15jährige Tochter ebenfalls nach ihrem Urlaub nach Hause. Verständigen können wir uns kaum, aber auf den Digitalkameras zeigen wir uns gegenseitig Urlaubsbilder. Wir bekommen Kekse angeboten, und als sie meine Verkühlung bemerken, bekomme ich Wodka. Damenhaft führen die beiden bloß eine kleine Flasche mit ...
Obwohl ich es mittlerweile besser wissen sollte, esse ich am Heimflug wieder dieses Ding, das "no negative effect on your body" haben soll. Noch am nächsten Tag ist mir schlecht.
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