Stories_ Burning Down The Road/Teil 4

"Schön willkommen in Bulgarien"

Rauf, runter, rauf, runter. Hinter jedem verdammten Hügel erwarten wir den ersten romantischen Blick aufs Meer. Aber leider - das sieht man erst, wenn man unmittelbar davor steht. Und fließt die Donau eigentlich auch bergauf?    10.06.2013

Budapest - Belgrad - Schwarzes Meer. Mit dem Rad. Rund 1730 Kilometer. 23 Tage. Zehnmal die Donau und siebenmal Staatsgrenzen überquert. Fünf Länder. Zwei Platten. Ein Sturz, eine Panne, ein Sonnenbrand. Kein Problem.

 

Auf bulgarischer Seite empfängt uns ein mehrsprachiges Schild auch auf Deutsch: "Schön willkommen in Bulgarien". Russe dünkt uns Weltstadt zu sein. Es ist die erste richtige Großstadt seit Belgrad und mit rund 170.000 Einwohnern die fünftgrößte Stadt Bulgariens. Wir quartieren uns im Hotel Riga ein, einem großen Kasten direkt an der Donau. An der Rezeption komme ich mir in meiner Radlerkluft fehl am Platz vor, es wirkt alles recht nobel. Aber das Hotel bietet Zimmer in mehreren Kategorien an, und die günstigste ist uns gerade angemessen. Wir haben Blick auf den Fluß und Retrodesign im Zimmer.

Nach den vielen Kleinstädten und den endlosen Fahrten über weites Land und durch kleine Dörfer, nach der Provinzialität, den Tieren auf der Straße, den Schotterstraßen, den Bauern, die mit Pferdewagen unterwegs sind und mit dem Pferd pflügen, könnte der Kontrast nicht größer sein. Das Zentrum ist frisch renoviert, die unrenovierte Bausubstanz im Vergleich zu anderen gesehenen Städten relativ gut in Schuß. Es gibt Belle Epoque, Jugendstil, Gründerzeit, Neoklassizismus und Sozialistische Architektur. Es gibt eine belebte Fußgängerzone, belebte Straßencafés, ein großes Theater, eine Oper (wo wir bei geöffneten Fenstern einer Probe zuhören können), eine katholische Kathedrale (die der Bezeichnung Kathedrale nicht gerecht wird), eine ottomanische Kirche, einen neoklassizistischen, riesigen Bahnhof und und und. Breite, baumbestandene Boulevards durchziehen die Stadt, es gibt viel Grün und viele Parks und erstaunlicherweise wenig Verkehr in der Innenstadt. In einer echten Konditorei bestellen wir Kaffee und Kuchen und lesen in den mitgebrachten Zeitschriften. Der große Cocktail in der Bar abends kostet rund 2 Euro 50. Und Stadtluft macht frei.

Auf einer vierspurigen Ausfallstraße geht es weiter. Der Verkehr ist dicht, es stinkt, es ist laut. Der Vorteil: Die Straße ist in gutem Zustand. Der Verkehr läßt immer mehr nach, zwei der vier Spuren verschwinden bald.

In Tutrakan besichtigen wir das denkmalgeschützte ehemalige Fischerviertel, bestehend aus 48 zum guten Teil im Originalzustand erhaltenen beziehungsweise renovierten Häuschen aus dem 19. Jahrhundert. Von hier aus wurde Fisch angeblich bis nach Wien gehandelt. Hinter Tutrakan durchradeln wir eine touristisch erschlossene Region. In fast jedem Dorf gibt es Nächtigungsmöglichkeiten, jedes Dorf hat einen mehr oder weniger hübsch gestalteten Park oder Dorfplatz. Manchmal folgt unser Weg einer markierten Radroute. Die Gegend mit ihren sanften Hügeln und Tälern, kleinen Dörfern und dem fast vollständigen Fehlen von Autolärm und -gestank ist entzückend. Stellenweise befahren wir laut Reiseführer eine alte, mit Naturstein gepflasterte Römerstraße, die sich ans hügelige Donauufer schmiegt. Wir fragen uns, ob wir hier tatsächlich auf einer original erhaltenen Römerstraße unterwegs sind. Der Naturstein bremst uns auf acht Stundenkilometer.

Beschauliche Dörfer wechseln mit beschaulicher Landschaft ab, bloß das ewige Auf und Ab ist mühsam. Vom Landesinneren kommend münden immer wieder Bäche und kleine Flüsse in die Donau, die im Laufe der Zeit eine Talsohle gebildet haben, hinter der das Gelände wieder ansteigt. Mitten in Äckern und Wiesen ist plötzlich Endstation: Vor uns erstreckt sich ein weit links und rechts des Feldweges in die Äcker hineinreichender See. Hier muß es vor kurzem extrem geregnet  haben. Wir versuchen unsere Räder durch ein Kukuruzfeld zu schieben und nehmen sie schließlich auf die Schulter. Der Schlamm verklebt die Reifen und Gabeln, unsere Schuhe sind dreckverkrustet und schwer. Nach der Umgehung machen wir die Räder provisorisch fahrfähig, später waschen wir in einem Brunnen unsere Schuhe.

 

In einer Ortschaft namens Popina nächtigen wir direkt an der Donau in einem noblen und funkelnagelneuen kleinen Hotel. Unser Zimmer hat einen Balkon zur Donau hin. Beim Abendessen im hoteleigenen Restaurant sind wir die einzigen Gäste. Wir lassen uns bulgarischen Rotwein bringen ... Die Sümpfe und der See im nahen Srebarna sind UNESCO-Weltnaturerbe, wirken aber nicht besonders beeindruckend.

Prinzipiell wirkt die bulgarische Seite, vor allem die ländliche Gegend, etwas gepflegter und wohlhabender als die rumänische Seite. Bulgarische Dörfer weisen ein immer wiederkehrendes Erscheinungsbild auf: Es gibt einen zentralen Platz mit Denkmal (meist  zu Ehren der Soldaten und Werktätigen) und drumherum ein paar "repräsentative" Bauwerke. Die stehen oft leer und verfallen zusehends. Waren das Parteiheime? Oder Geschäfte? 

Mittags erreichen wir die Grenzstadt Silistra und gelangen wieder nach Rumänien. Wir folgen der kaum befahrenen Straße Nummer 3, die uns bis nach Constanta bringen wird. Hügelauf, hügelab, hügelauf, hügelab. Durch lange Alleen. Durch ärmliche Dörfer. Vorbei an grüßenden Kindern, gaffenden Erwachsenen, kläffenden Hunden. Vorbei an Weingärten, Wäldern, Äckern, Wiesen, Seen, Klöstern und Kirchen. Geht es bergauf oder bergab, ist der Straßenbelag aus Kopfsteinpflaster, wohl eine Art natürliche Bremse oder ein Signal für Autofahrer. Für uns jedenfalls ein hinderlicher Umstand.

Wir rasten im Hof des Klosters Dervent und malen uns schon bei der Anfahrt aus, welche kulinarischen Köstlichkeiten wir im Klostershop kaufen werden. Aber es gibt nur Heiligenbilder und Schnitzereien. Das Kloster wurde in den 1930ern errichtet, 1959 in ein staatliches Gebäude umgewandelt und wird seit 1990 wieder als Kloster verwendet. Vor den Toren warten bettelnde Kinder in respektvollem Abstand zum Kloster. Abends erreichen wir das Etappenziel Ion Corvin. Wir beziehen das einzig mögliche Quartier im Ort, eine relativ neue Pension. Die Betreiber scheinen vom Radtourismus zu leben, es sind auch ein paar Fernradler hier. Zum Abendessen werden wir gerufen, die Betreiber grillen für alle Gäste ein gemeinsames Mahl.

 

Hinter jeder Hügelkuppe Richtung Constanta vermuten wir das Meer, aber ein ums andere Mal werden wir enttäuscht. Zunehmend wird das Land flacher. In Basarabi überqueren wir den Donau-Schwarzmeer-Kanal, eine Abkürzung vom natürlichen Lauf der Donau ins Schwarze Meer. Mit dem Bau wurde 1949 begonnen, gebaut wurde mit 10.000 Zwangsarbeitern. Lange Zeit geschah dann gar nichts, erst 1987 konnte der Kanal eröffnet werden. Je näher wir Constanta kommen, desto dichter wird der Verkehr. Die letzten 20 Kilometer in die 300.000 Einwohner zählende Stadt verlaufen auf einer vierspurigen, sehr stark befahrenen Straße. Zwei Prostituierte am Straßenrand feuern uns an. Oft werden wir angehupt. Was ich zuerst als "Begrüßung" interpretiere, ist der Versuch, uns von der Straße zu verscheuchen. Einheimische Radler verlassen bei Hupen die Straße. Das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage. Hier wäre angesichts des starken Verkehrs und der Busse, die ebenfalls im Stau stecken und die wir immer wieder überholen, ein leistungsstarkes öffentliches Verkehrsmittel gefragt, aber die Straßenbahn in Constanta wurde vor kurzem komplett eingestellt und abgetragen.

Der Teil der Altstadt, der die Abrißpläne aus der Epoche Ceaușescus wenigstens zum Teil überstanden hat, verkommt. Sehr wenige Gebäude sind renoviert, der Rest der Belle-Epoque-Eleganz verfällt oder liegt bereits in Ruinen. Durch die zerbrochenen Scheiben eines ehemals noblen Hotels kann man ins prunkvolle Innere sehen, das Jugendstil-Casino direkt am Meer steht leer. Seit 2005 ruht der Casinobetrieb, seit kurzem auch das dazugehörige Restaurant. Die Synagoge zerfällt. Durch ein kaputtes Fenster sieht man, daß das Innere einst bunt ausgemalt gewesen ist. Dutzende repräsentative Gebäude und Wohnhäuser stehen leer. Wenn hier nicht bald etwas passiert, kann man das ganze Viertel schleifen. 

 

Wir radeln an der rumänischen Schwarzmeerküste nordwärts, teilweise direkt auf der Uferpromenade, nach Mamaia, das auf einem schmalen Landstrich liegt. Links ist ein großer See, rechts das Meer. Der Strand ist sauber, eine hippe Bar reiht sich an die nächste, man hört  Lounge-Musik und TripHop. Oft stehen nicht Liegestühle am Strand, sondern Himmelbetten oder große Wippen. Noch ist es hier relativ günstig: Die Cocktails an der Bar kosten von drei Euro aufwärts. Das sehr große, funkelnagelneue Apartment, in dem wir einen Off-Day verbringen, liegt direkt am Strand mit Balkon Richtung Meer, zwei großen Flachbildschirmen in Schlaf- und Wohnzimmer und einer Küche. 45 Euro pro Apartment kostet eine Nacht inklusive reichhaltigem Frühstücksbuffet. Die Räder sollen wir über Nacht draußen stehenlassen, an ein Geländer gekettet. Auch das kommt überhaupt nicht in Frage. Wir dürfen sie schließlich in der Besenkammer abstellen.  

Am Tag unserer letzten Etappe ist Schulschluß. In den Dörfern beobachten wir herausgeputzte Eltern und Kinder mit ihren Zeugnissen in der Hand rund um die Schulen. Es ist heiß, und den ganzen Tag schon fahren wir von Greißler zu Greißler, um uns mit Wassernachschub zu versorgen. Es geht bergauf und bergab. Ob die Donau auch bergauf fließt? Abends halten wir am Ortsrand von Tulcea, um uns vor dem Ortsschild zu photographieren. Wir sind am Ziel. Rund 1730 km. 23 Tage. Bis zur tatsächlichen Mündung der Donau in das Schwarze Meer muß man ein Schiff nehmen. Das von Seen und Wasserstraßen durchzogene Donaudelta kann man nicht erradeln. Wir bleiben noch zwei Nächte, um das Delta per Boot zu erkunden ...

 

Ein Nachsatz zur An- und Abreise, die uns im Vorfeld großes Kopfzerbrechen bereitet haben: Offiziell nimmt der internationale Eisenbahnverkehr Richtung Osten keine Fahrräder mit. So verkehrt zum Beispiel von Wien nach Budapest unverständlicherweise kein einziger direkter Zug mit Fahrradtransport - es muß daher umgestiegen werden. Auch die internationalen Buslinien von Wien Richtung Osten nehmen keine Räder mit. In Serbien werden laut Homepage der Serbischen Eisenbahn überhaupt keine Räder transportiert. Einmal im "Osten" angekommen, ist der Fahrradtransport allerdings überhaupt kein Problem mehr. Wir haben Räder - obwohl offiziell verboten - in Schlaf- und Liegewagenabteilen und in jedem Nahverkehrszug unterbringen können. Unsere Räder fanden auch in den Gepäckfächern von Autobussen Platz. Vieles davon funktionierte "offiziell". Bei besonderem Entgegenkommen haben wir aber auch ein finanzielles Dankeschön gegeben ...

 

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Martin Zellhofer

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