Stories_Burning Down The Road/Teil 2

"Jugoslawien? Fata Morgana!"

Was wird uns von Serbien in Erinnerung bleiben? Die toten Tiere auf der Straße oder der brennende Müll neben der Straße? Die Straßenköter? Die beste Radwegbeschriftung an der gesamten Donau überhaupt oder die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft? Oder vielleicht die wildromantische Schönheit des Eisernen Tors?    27.05.2013

Budapest - Belgrad - Schwarzes Meer. Mit dem Rad. Rund 1730 Kilometer. 23 Tage. Zehnmal die Donau und siebenmal Staatsgrenzen überquert. Fünf Länder. Zwei Platten. Ein Sturz, eine Panne, ein Sonnenbrand. Kein Problem.

 

Wir überqueren die kroatisch-serbische Grenze. Dem alten kroatischen Zöllner ist langweilig. Schmunzelnd will er wissen, ob wir Stempel haben möchten, woher wir kommen und wohin wir fahren. Die Grenzstation auf der serbischen Seite besteht bloß aus mehreren Blechcontainern, alle desolat und unbenutzt außer dem, in dem die Zöllner sitzen. Geldwechsel? Unmöglich. 200 Meter hinter der Grenze ziehen wir die T-Shirts aus und tragen Sonnencreme auf. Die Zöllner kommen aus dem Container und beobachten uns. Weit und breit ist sonst niemand. Es ist sehr heiß. Die Szene ist surreal.

 

Im ersten Dorf hinter der Grenze habe ich eine Panne. Während ich noch überlege, wie ich die Kette entwirren kann, ohne mich allzu ölig zu machen, nimmt ein Passant die Dinge in die Hand. Daß er dabei ziemlich schmutzig wird, scheint ihn nicht zu stören. Später fragt Karl, der ein paar Brocken Serbisch beherrscht, einen Mann am Straßenrand nach der zerstörten Kirche mitten im Ort. "Ist Kirche von den Deutschen. Ist schon 60 Jahre kaputt", erklärt Mihajlo und lädt uns in seinen Garten ein. "Wollt ihr Wasser, Bier, Schnaps, kleines Essen?" Wasser nehmen wir dankbar an, Weintrauben auch. Wir radebrechen über dies und jenes, unsere Tour, sein Haus. Sein Grundstück liegt direkt an der Donau, er hat ein Motorboot und einen eigenen Anlegesteg. Mehrmals müssen wir "Schnaps und kleines Essen" abwehren.

Vor Novi Sad nimmt der Verkehr zu und auch der Dreck am Straßenrand. Vorbei an dem im NATO-Bombardement zerstörten Fernsehstudio von Novi Sad erreichen wir die wie ein Schmuckkästchen daliegende Stadt mit ihren rund 220.000 Einwohnern. In der Fußgängerzone pulsiert das Leben. Im Stadtteil Petrovaradin radeln wir an einer großen Festung vorbei. Hier hat Prinz Eugen 1716 in der "Schlacht von Peterwardein" das osmanische Heer geschlagen. Der Stadtteil ist unrenoviert und präsentiert sich grau in grau.

Die nächsten rund 15 Kilometer müssen wir auf der stark befahrenen Straße Richtung Belgrad zurücklegen - ein Alptraum. Dicht an dicht rollt der Verkehr, vom Moped bis zum schweren LKW, alle gemeinsam verbreiten sie einen erbärmlichen Gestank. Jedes Mal, wenn sich hinter mir geräuschvoll ein LKW einbremst, weil er auf der schmalen Straße nicht überholen kann, steigt mir eine Gänsehaut auf. Meine volle Konzentration gilt den tiefen und somit gefährlichen Spurrinnen, die das Rad beim Drüberfahren zum Schlingern bringen. Links und rechts der Straße ist alles voller Müll. Manchmal sieht es aus, als würden wir eine Deponie durchfahren. Stellenweise ist auch eine Rast an der Donau wenig einladend. Das Wasser ist dreckig, das Ufer mit Müll übersät, wie es bei uns daheim unvorstellbar wäre. Und niemand räumt die zahlreichen verwesenden und stinkenden Tierkadaver von der Straße.

Die herausgeputzte Stadt Sremski Karlovci bietet kurze Erholung: Barock und Neoklassizismus prägen das schöne, beschaulich wirkende Stadtbild, die Abendsonne leuchtet, und weil der Verkehr aus dem Stadtzentrum verbannt wurde, ist es angenehm ruhig. Nach einigen Kilometern bergauf finden wir das erste Donau-Radweg-Begleitschild in Serbien. Die uns von nun an begleitenden Schilder sind funkelnagelneu und mit genauen Kilometerangaben versehen. Wir nächtigen in Beska. Das Dorf konzentriert sich rund um eine Straßenkreuzung, an der alle wichtigen Einrichtungen wie Hotel, Post, Kirche und Geschäfte liegen. Das wirkt irgendwie amerikanisch.

 

Als wir tags darauf zum Aufpumpen eines Reifens zufällig vor einem Beisl stehenbleiben, lassen zwei Arbeiter ihr Bier stehen, drängen uns zur Seite und beginnen zu pumpen. An der Mündung der Save in die Donau in Belgrad sehen wir erstmals einen markierten Radstreifen in Serbien.

Pausentag in Belgrad. Die Stadt ist ein unübersichtlicher Moloch, sagt der Reiseführer. Und das stimmt. Abends wird Karl beim Versuch, ein alkoholfreies Bier beim Wirten zu bestellen, vom Kellner ausgelacht. Sowas gäbe es in Serbien nicht ...

So ein ganzer Tag ohne körperliche Anstrengung ist keine gute Idee. Als wir wieder auf der Straße sind, wiegt der Rucksack schwerer denn je, die Füße schmerzen, der Hintern sowieso. Auf breiten Straßen radeln wir durch Belgrad; am Sonntagvormittag ist der Verkehr nicht besonders dicht. Auf einer vierspurigen Ausfallstraße fahren wir schließlich stadtauswärts. Die Häuser werden niedriger, Gewerbegebiete, Tankstellen, kleinere Geschäfte und Märkte säumen die Straße, trotz Sonntag haben sie alle geöffnet. In einem Vorort ist Markttag: Menschenmassen wuseln links und rechts der Straße, lebendiges Vieh kann man auch kaufen, ein Bauer führt Ziegen an einem Strick über die Straße. Die Landschaft ist waldig und hügelg, das bringt lange, genußvolle Abfahrten. Die Gegend selbst wirkt zunehmend ärmlicher. Die Straßen sind von Dreck gesäumt. Menschen verbrennen am Straßenrand Unrat, Felder brennen, Böschungen brennen. Die Flüsse sind verschmutzt, die Donau wenig einladend. Baden? Sicher nicht!

Stinkende Autos, die dichten, blauen Dunst verbreiten, begegnen uns. Immer wieder sehen wir streunende Hunde. Einmal verfolgt uns ein Rudel Straßenköter, der Anführer immer knapp hinter meiner rechten Ferse. Obwohl die Hunde sehr klein sind, ist das doch sehr beunruhigend. Pausen machen wir nur noch, wenn sich weit und breit keines der Tiere zeigt. In der Stadt Smederevo liegen direkt an der Donau die Reste einer mächtigen Befestigungsanlage mit bis zu viereinhalb Meter dicken Mauern. Viele der ehemals 25 Türme der Anlage stehen noch, zumindest teilweise. Hochzeitsgesellschaften bevölkern die Stadt, Roma-Kapellen mit vielen Blechblasinstrumenten begleiten sie.  

Bei einer Pause spricht uns ein junger Berufssoldat in akzentfreiem Englisch an: "May I help you?" Ich frage ihn nach dem "US Steel"-Stahlwerk, das hier steht. "There are 2000 people working here, luckily I am not. It´s like death sentence." Warum, möchte ich wissen. "Because of the dirt in there ... Anyway ...” - er macht eine kreisende Handbewegung - "...this is not the best place to be." In den späten 1980ern haben die stahlverarbeitenden Betriebe rund um Smederevo noch mehr als 11.000 Menschen beschäftigt.

 

In Požarevac fragen wir eine Frau, die gerade einem Wagen mit Wiener Kennzeichen entsteigt, nach dem Weg. Wir haben eine Landsfrau getroffen! In breitem Wiener Dialekt erklärt sie den Weg und begleitet uns ein Stück. 30 Jahre ist die Serbin schon in Wien, derzeit wohnt sie im 16. Bezirk. Sie spricht fließend deutsch, obwohl sie in Serbien geboren wurde. "Ich treff´ immer Trotteln in Wien, die sich weigern, deutsch zu lernen", schimpft sie. "Ich frage mich, was das soll und was sich die erwarten." Wir fragen sie nach den Wegweisern, die hier in der Gegend vermehrt auf Kyrillisch auftauchen. "Früher waren die meistens in lateinischer Schrift. Seit dem Scheißkrieg gibt es eine Betonung des Kyrillischen als serbische Schrift ... Gute Fahrt, und paßt auf euch auf!"

 

Weiter geht es ins Braunkohle-Tagbaugebiet rund um Kostolac. It´s the end of the world as we know it. Der Tagbau hat seine besten Zeiten hinter sich - die Gegend wirkt wie aus einem Endzeitfilm. Überwachsene Bahnanlagen, unterbrochene Schienenstränge, Züge, die nie mehr irgendwo hinfahren können, stillgelegte Förderbänder, verrostete Schaufelbagger, leerstehende und verfallende  Werksiedlungen - jetzt von Roma behaust - prägen das Bild. In der örtlichen Polizeistation fragen wir nach dem Weg in das "Hotel Kostolac". "Follow me", sagt der Polizist, steigt in seinen Wagen und fährt im Schritttempo voraus - bis vor den Eingang.

Das 1980 eröffnete Hotel besteht aus zwei riesigen Blöcken und ist ziemlich heruntergekommen. Das gesamte Gebäude ist desolat, die Parkanlagen rundherum sind ungepflegt, die Zugangswege rissig und rillig, die Außenbeleuchtung funktioniert nicht. Die Zimmer und die Einrichtung sind ebenso verkommen, die Bettwäsche zerschlissen, aber sauber. Alles hier ist im Stil der 80er Jahre. Schwarzes, klobiges Holz, eckiges Design, eckige Lampen; hier wurde vermutlich nie etwas investiert. "Der real existierende Sozialismus existiert", stellt Karl fest. "Man muß ihn nur sehen wollen" ... ein Spruch, den wir noch öfter anbringen werden.

Abends sind wir im hoteleigenen Restaurant die einzigen Gäste, trotzdem dürfen wir unseren Platz nicht frei wählen. Ein Tisch wird uns zugewiesen. Es gibt eine vergilbte Speisekarte auf Englisch, ein mit Schreibmaschine getipptes A4-Blatt, bloß versteht hier niemand englisch, weder der Rezeptionist noch das Personal. Der ehemals große Speisesaal wurde bereits erheblich verkleinert, und ein Teil des Restaurants steht leer. Der Rest ist spartanisch und völlig schmucklos mit braunen Möbeln, brauner Wandvertäfelung und braunem Teppich eingerichtet. Das Essen wird auf einem Wagen serviert, die Kellnerin ist mit weißer Bluse und schwarzem Rock korrekt gekleidet. 

Über der Rezeption hängt ein vergilbtes Plakat mit dem Schriftzug "Entlang der Donau durch Jugoslawien". "Jugoslawien? Fata Morgana!" kommentiert der Rezeptionist trocken, als wir das Schild entdecken. Wir zeigen auf den Wegweiser zur Snack-Bar. "Snack-Bar? Illusion", tönt es ebenso trocken.

Auch beim Frühstück sind wir die einzigen Gäste. Die heutige Rezeptionistin spricht ein paar Brocken Englisch. Ich kann ihr entlocken, daß im zweiten Flügel des Hotels dauerhaft Arbeiter der Grube wohnen. Rund um die Rezeption hängen Bilder aus vermutlich besseren Tagen. Eines zeigt ein Gruppenbild der ehemals sehr zahlreichen Angestellten des Hotels, ein anderes den früher großen Speisesaal. feierlich für eine Festivität herausgeputzt. Ein Blick von außen in den gesperrten Teil des Saals ergibt: hier wird nie wieder ein Fest stattfinden.

Wir radeln los, die Straße verkommt bald zu einem sandigen Weg, einer Schlaglochpiste. An einer Kreuzung zieht ein Pferdegespann an uns vorbei, Hunde laufen hinterdrein, Kinder sitzen hinten oben. Es sind Roma, sie mustern uns wie Aliens, wir mustern sie wie Aliens. Lecke Leitungen, aus denen zischend Dampf entweicht, begleiten den Weg. Die Luft ist von einem ständigen Surren erfüllt, wir fragen uns, was das sein kann. Es ist ein riesiges Kraftwerk, das vor uns in einer Talsenke auftaucht. Industrieschrott und brennende Müllkippen überall. Auf grasüberwachsenen Gleisen steht in einer Industrieruine eine Lokomotive, aber das Gleis führt nirgendwo hin. Im Tagbaugebiet stehen moderne Bergbaumaschinen, groß wie Dinosaurier.

 

Rund 30 Kilometer weiter flankiert eine Burgruine im 300-Seelen-Ort Ram den Eingang zum Eisernen Tor. Die Passage durch das Engtal des Eisernen Tors ist einer der idyllischsten Abschnitte an der gesamten Donau überhaupt. Die Gegend sieht aus wie die Wachau: grün, sanft und hügelig, idyllisch und beschaulich - nur ohne Weinbau, ohne Zersiedelung, ohne Bundesstraße, so gut wie ohne Autoverkehr, ohne Einkaufszentrum. Der starke Gegenwind allerdings macht uns stumpf gegen die Schönheit der Landschaft, verbissen treten wir in die Pedale: 100 Meter bis zum nächsten Schild, 200 Meter bis zum nächsten Haus. Dabei gibt es viel zu sehen: intakte Dörfer mit kleinen Geschäften und Gasthäusern, Bauernhöfe mit Gänsen, Hühnern und Schafen und immer wieder große Wasservögel.

Die durchfahrenen Orte sind alle auf Tourismus eingestellt, was zahlreiche Campingplätze, Hotels, Pensionen, Restaurants, Touristen-Informationsstellen und Tennisplätze belegen. Noch ist Vorsaison und nicht viel los. Für rund drei Kilometer gelingt es uns, im Windschatten eines Traktors zu fahren, was der Bauer mit wohlwollendem Grinsen gutheißt. Kilometer um Kilometer folgen wir der Uferstraße, dutzende Kilometer, ohne durch einen Ort zu kommen. Es ist still und einsam.

Mittagsrast in Lepenski Vir. Hier hat man im Zuge des Baus des weiter donauabwärts gelegenen Derdap-Staudamms eine steinzeitliche Siedlung entdeckt. Mehr interessiert uns aber die schreibmaschinengetippte englischsprachige Speisekarte des angeschlossenen Wirtshauses.

Später sorgen 21 Tunnels für Abwechslung, vor allem die längeren sind unheimlich. Fährt gleichzeitig ein Auto durch, glaubt man, der Motorenlärm kommt aus allen Richtungen. Links und rechts der Donau sind Nationalparks, der auf unserer, der serbischen Seite heißt "Nationalpark Đerdap" und bietet bewaldete Hügel, 1000 verschiedene Pflanzenarten, Bären und tiefe Schluchten. Am Höhepunkt der Passage ziehen sich schroffe Felswände links und rechts der Donau bis auf 600 Höhenmeter. An der engsten Stelle des Donaudurchbruchs ist die Donau nur 150 oder 220 Meter breit (die Quellen widersprechen einander) und bis zu 82 Meter tief.

In der untergehenden Abendsonne erreichen wir Tekija, beziehen in einem Motel Quartier und gehen essen. Ein Mann vom Nebentisch gesellt sich zu uns, spricht fließend Englisch und übersetzt alle unsere Speisewünsche ins Serbische. Abends hören Jugendliche vor dem Hotel aus ihren Autoradios laut melancholischen Balkan-Pop.   

 

Fortsetzung folgt ...

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Martin Zellhofer

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