Am 29. Mai ist Karlheinz Böhm mit 86 Jahren verstorben. Für die einen wird er auf ewig "Sissi"-Ehemann Kaiser Franz Joseph bleiben. Wir erinnern uns lieber gemeinsam mit Reinhard Jud an ihn - in Michael Powells genialem Thriller "Peeping Tom".
10.06.2014
Ursprünglich wollte Regisseur Michael Powell die Rolle des Mark Lewis in "Peeping Tom" mit Laurence Harvey besetzen. Der war aber nach dem Erfolg mit "Room at the Top" bereits auf dem Weg nach Hollywood. Powell lernte Karlheinz Böhm bei einem Cocktailempfang in London kennen. In seiner schüchternen, übersensiblen Art schien er ihm ideal für die Rolle; doch der Regisseur spekulierte auch mit der Last des berühmten Vaters, des Dirigenten Karl Böhm.
Zur Handlung: Mark Lewis ist der Sohn eines angesehenen Psychoanalytikers, der sich auf dem Gebiet der Angstforschung hervorgetan hat. Er arbeitet als Kameraassistent in einem Filmstudio und verdient sich nebenbei als Photograph von unter dem Ladentisch gehandelten Aktbildern etwas Taschengeld, um seine Obsession zu finanzieren: das Festhalten von Angst mit einer kleinen 16mm-Kamera.
Mark ist Voyeur und macht sich den Zuschauer zum Komplizen. Zu Beginn folgt er einer Prostituierten aufs Zimmer, wir sehen nur sein Auge, den Griff zur Kamera, den Rest aus seiner Perspektive auf Filmmaterial. Die Prostituierte entkleidet sich, Mark richtet ein Bein vom Stativ auf und enthüllt ein Stilett am Ende, dann nähert er sich der Prostituierten. Nach knapp fünf Minuten Laufzeit wird bereits sein Gesicht identifiziert, als er am Morgen vor dem Haus steht und den Abtransport der Leiche filmt.
Der Schwerpunkt des Films liegt nicht in der Ermittlung des Täters, sondern in der Annäherung an dessen gequälte Persönlichkeit. Die polizeiliche Arbeit nimmt ihren routinierten Verlauf, der Wiener Psychiater, der hinzugezogen wird, erweist sich als Trottel und trägt nichts weiter zur Aufklärung bei. Eigentliche Gegenspielerin von Mark ist die blinde Untermieterin, die Mutter von Helen, dem unscheinbaren Mädchen, zu dem Mark Vertrauen faßt. Helen will nicht zum Film und sich auch nicht zu anstößigen Zwecken photographieren lassen. Das steht für ihn außer Frage. Ihre Mutter sieht nichts, jedenfalls nicht mit den Augen, aber sie spürt Marks Angst.
Mark wurde als Kind von seinem Vater als Versuchsobjekt benutzt. Er warf ihm Schlangen und Spinnen ins Bett, um seine Reaktionen mit der Kamera festzuhalten. "Geht es noch schlimmer?" fragten sich Kritiker damals. Sie beschrieben ihr Bedürfnis, das Kino zu verlassen, empfahlen, den Film im Klo runterzuspülen, ihn im Kanal zu versenken.
Für Michael Powell bedeutete "Peeping Tom" mit 55 Jahren das Ende seiner Karriere. Der Effekt auf die weitere Entwicklung von Karlheinz Böhm wird oft fehlinterpretiert. Er ging nach Hollywood, bekam jedoch wegen eines schlechten Agenten mit Ausnahme einer Nebenrolle in Vincente Minellis "The Four Horsemen of the Apocalypse" keine Gelegenheit, sich zu profilieren.
Der Skandal von "Peeping Tom" war sicher nicht geplant, weder vom Regisseur noch von den Geldgebern. Michael Powell wußte aber von der Notwendigkeit, eine neue Richtung einzuschlagen. Von 1942 bis 1957 betrieb er mit seinem Drehbuchautor Emeric Pressburger die Produktionsfirma The Archers. Ihre erfolgreichsten Filme, auch künstlerisch, erschienen unmittelbar nach Kriegsende: "A Matter of Life and Death", "Black Narcissus", "The Red Shoes", "Gone to Earth" - und das mit einem Absolutheitsanspruch an das Medium, einem Ausreizen der Mittel, mit dem sie Handlungen in die Abstraktion überführten, in maßlose Übersteigerungen, choreographierte Bewegungen und Einstellungsfolgen nach Farbpartituren. Das nahm in den 50er Jahren mit den Tanzfilmen "Hoffmann´s Tales" und "Oh Rosalinda" immer exzentrischere Züge an.
Michael Powell wußte vom Ende des klassischen Kinos. Die letzten Archers-Produktionen waren kaum noch erfolgreich gewesen; Ende der 50er Jahre machte sich in England eine neue Generation, Vertreter des Free Cinema, mit ihren ersten Filmen bemerkbar: Jack Clayton mit "Room at the Top", Karel Reisz mit "Saturday Night und Sunday Morning", Tony Richardson mit "The Loneliness of the Long Distance Runner".
Diese Kitchen-Sink-Dramen standen in ihrem Realismus in krassem Gegensatz zur Romantik und Eleganz der Archers-Produktionen. Realistische Außenaufnahmen kommen in Peeping Tom" erst gegen Ende vermehrt zum Einsatz, im Sinne einer Bedrohung für Mark Lewis, als sich die polizeilichen Ermittlungen auf ihn konzentrieren. Für seine Innenwelt, die in fetischistischen Fixierungen verfangen ist, bieten sie keine Entsprechung.
Powell dreht 1969 in Australien das erotisch angehauchte Künstlerdrama "Age of Consent" und 1972 noch einmal mit Emeric Pressburger den Kinderfilm "The Boy Who Turned Yellow". Neben Alfred Hitchcock und Carol Reed gilt er als einer der großen britischen Regisseure der klassischen Periode. Reed versank nach "Our Man in Havana" von 1959 in der Bedeutungslosigkeit amerikanischer Großproduktionen; Hitchcock geriet in den 60er Jahren mit flauen Agentenfilmen auf einen künstlerischen Tiefststand und arbeitete jahrelang, inspiriert von Michelangelo Antonionis "Blow Up", an "Kaleidoscope", einem stilisierten Sex & Crime-Film über einen psychopathischen Frauenmörder, dessen Realisierung von den Studios strikt verweigert wurde - bevor er schließlich 1972 in London "Frenzy" drehte: die Geschichte eines Krawattenmörders, mit expliziten Sexszenen und Anna Massay, der Darstellerin von Helen in "Peeping Tom", in einer maßgeblichen Nebenrolle. Der Film wurde allgemein als Comeback des essentiellen Hitchcock gefeiert, von Aufregung gab es keine Spur mehr.
Import-Tip GB: Optimum Home Entertainment (GB 1960)
DVD Region 2 101 Min. + Zusatzmaterial, engl. OF
Features: Audiokommentar von Ian Christie, Einführung von Martin Scorsese, Featurettes: "Eye of the Beholder" & "The Strange Gaze of Mark Lewis"-Featurette, Interview mit Thelma Schoonmaker u. a.
Regie: Michael Powell
Darsteller: Karlheinz Böhm, Moira Shearer, Anna Massey u. a.
(Anm. d. Red.:) Die britische Special Edition von Optimum Home Entertainment ist derzeit die am besten ausgestattete Heimkino-Variante von "Peeping Tom" bzw. "Augen der Angst". Der Film liegt auch als "50th Anniversary Edition"-Blu-ray vor. Alternativ dazu gibt es ihn als US-Import aus dem Hause Criterion (mit Audiokommentar von Laura Mulvey und der Dokumentation "A Very British Psycho") oder als schwach bestückte deutsche DVD-Veröffentlichung von StudioCanal im Rahmen der Arthaus Collection Klassiker.
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