Stories_Interview mit Paper Bird

"Ich arbeite seit frühester Kindheit daran, auf immer mehr zu scheißen"

Anna Kohlweis hat unter dem Namen Paper Bird ihr drittes Album "Thaumatrope" bei Seayou Records veröffentlicht. Mit dem EVOLVER sprach die Singer/Songwriterin über Kontrollverlusts-Paranoia, gute Worte, Film und Literatur.    30.06.2010

EVOLVER: Gib uns bitte eine Beschreibung der Person Anna Kohlweis und der Figur Paper Bird.

Anna: Anna Kohlweis ist 165 Zentimeter groß, besitzt eine lange, spitze Nase und tendenziell kurzes Haupthaar, ißt gerne gut, trinkt gerne Rotwein und raucht zuviel, erzählt seit frühester Kindheit Geschichten und hat ihrer Meinung nach noch viel Zeit dafür, selbiges in Wort, Bild und Klang zu tun. Außerdem scheißt sie auf vieles und arbeitet seit frühester Kindheit daran, auf immer mehr zu scheißen.

 

EVOLVER: Sind sich Anna und Paper Bird ähnlich? Oder verkörpert die eine, was die andere nicht verkörpern will oder kann?

Anna: Auf Paper Bird treffen all diese Dinge genauso zu, weswegen man jetzt behaupten könnte, es wäre ein und dieselbe Person.

 

EVOLVER: Wie kommst du denn zu dem Namen Paper Bird?

Anna: Das hat, glaub ich, keine Relevanz.

 

EVOLVER: Einfach betrachtet und in Schubladen gedacht, fällst du in die Kategorie Singer/Songwriterin, aber gar so simpel ist es ja nicht. Kannst du uns eine Beschreibung deines musikalischen Schaffens, deines Stils geben? 

Anna: Ich sammle, zerlege, seziere, bau auf und lösche regelmäßig wieder alles, ich bastel gerne. Ich schreibe viel Text, welcher für mich noch immer das zentrale Thema aller Musik ist, und der mindestens gleichwertig mit Melodien und allem anderen Hörbaren ist. In Schubladen denke ich ungern, spreche ich ungern, und wenn doch, ärgere ich mich danach selbst darüber.

 

EVOLVER: Deine großen Helden und Heldinnen oder Vorbilder?

Anna: Agent Cooper, Oskar Schell, Hayao Miyazaki, Charles Burns, Dave Eggers, Sasa Stanisic, Shaun Tan, Otfried Preussler, Hedwig and the Angry Inch, Saul Williams, Alison Bechdel, Janet Cardiff, Chris Ware, Roald Dahl, Sammy Harkham, Richard Erdoes, Lame Deer, Astrid Lindgren, Wes Anderson, Andy Gage, Omar Little, mein Bruder, meine Eltern, meine Großeltern und und und so weiter.

 

EVOLVER: Du hast das aktuelle Album "Thaumatrope" so wie die beiden Vorgänger alleine geschrieben, ohne ins Studio zu gehen alle Instrumente selbst aufgenommen und das Ganze auch selbst gemixt. Wieso machst du das alles alleine?

Anna: Kontrollverlusts-Paranoia und die Lust am Lernen.

 

EVOLVER: Nimmst du immer noch in Badezimmern, Schlafzimmern und auf Balkonen auf?

Anna: Ja.

 

EVOLVER: Dein erstes Album "Peninsula" klingt sehr still, sehr fragil und sehr reduziert, die beiden Nachfolger "Cryptozoology" und "Thaumatrope" voller, sie sind reicher instrumentiert und abwechslungsreicher. Eine unbewußte Entwicklung oder ein konsequentes, absichtliches Voranschreiten?

Anna: In erster Linie habe ich dazugelernt, was Technik angeht. Die Aufnahmetechnik hat sich zum Beispiel vom erdnußgroßen Ansteckmikro am Laptop mit zuwenig RAM zum Studiomikro an externer Soundkarte am leistungsstarken Computer gewandelt. Die Anzahl der Instrumente hat sich aus purer Kauf- und Ausprobierlust verzehnfacht, und meine Stimme hat sich in den letzten vier Jahren ebenfalls durch viel Gebrauch sehr gewandelt. Die Veränderung im Sound ergibt sich aus mehreren Komponenten, wobei sicherlich mehr bewußt geschieht, als ich es mir selbst eingestehen würde.

 

EVOLVER: Worum geht es in deinen Stücken, worüber singst du? Ich hab mich durch deine Texte gelesen, brauche aber Hilfe, das Abstrakte in Verstehbares zu übersetzen.

Anna: Um Alles - um Beziehungen zur eigenen Umwelt, um Kontrolle und Kontrollverlust, um Rollenbilder, um Selbstverletzung, um sehr viel Angst und sehr viel Wut, um Horrorfilme und das Fernsehprogramm, um Werbeanzeigen und vermeintliche Unabhängigkeit. Um das verzweifelte Festhalten an angeblichen Fixpunkten, die in Wirklichkeit instabiler sind als Horrorfilme und das Fernsehprogramm, um Bücher, um Urahnen, um Pseudorituale um das Unkontrollierbare zu kontrollieren, ums Scheitern, um gute Erinnerungen.

 

EVOLVER: Du postest auf MySpace, was du gerade gelesen und welche Filme oder Serien du gerade gesehen hast. Beeinflussen Lesen und Sehen deine Arbeit?

Anna: Ja. Ich fühle mich von Film, Fernsehen und Büchern sehr viel mehr beeinflußt als von anderer Musik, ich konsumiere aber auch sehr viel mehr von diesen Dingen als Musik.

 

EVOLVER: Welche Bücher, welche Filme beeinflussen dich?

Anna: Wenn ich an das letzte Album denke, bin ich mir ziemlich sicher, daß es sehr eindeutig von untrashigen und trashigen Horrorfilmen beeinflußt wurde, von "Suspiria", "Das Omen", "Der Exorzist", "Psycho", "Rosemary's Baby" etc. "Devil" (ein Stück des aktuellen Albums, Anm.) zu schreiben war anfangs in erster Linie ein Horrorfilm-Zitierspaß. Weiters wichtig sind Serien wie "Twin Peaks". Vermutlich am wichtigsten sind Comics von Charles Burns, Chris Ware, Daniel Clowes oder Winsor McCay. Und "Everything is illuminated" von Jonathan Safran Foer.

 

EVOLVER: Der Titel des aktuellen Albums "Thaumatrope" verweist auf das eine optische Täuschung erzeugende Thaumatrop, bei dem durch schnelles Drehen einer Scheibe zwei verschiedene Bilder zu einem zu verschmelzen zu scheinen. Was hat das mit deinem Album zu tun?

Anna: Da darf man während des Hörens sich selbst was dazu ausdenken. Menschen, die die CD direkt über mich bestellen, bekommen übrigens ein "Thaumatrope"-Bastelset dazu, das kann man dann zusammenbasteln während man hört und sich selbst was dazu ausdenkt.

 

EVOLVER: Du schreibst in deinem MySpace-Blog, daß du dich gerade wegen der intensiven Beschäftigung mit deinen Stücken in der Produktionsphase von diesen entfernt hast und ab einem gewissen Punkt nicht mehr einschätzen konntest, ob die Lieder nun "gut" oder "schlecht" sind. Kann das auch so weit führen, daß du dich dann bewußt gegen ein Stück entscheidest?

Anna: Ja, im Arbeitsprozeß während den Aufnahmen entstanden ungefähr 17 Songs. Ein paar wurden dreimal in verschiedenen Versionen aufgenommen, nur um es im Endeffekt doch nicht auf das Album zu schaffen, weil ich sie ab einem gewissen Punkt selbst langweilig beziehungsweise irrelevant fand oder sie nicht ins Gesamtbild des Albums paßten.

 

EVOLVER: "It was so fucking important to get this material out of my system", verlautbarst du. Suchst du Abstand nach dem Beendigen der Aufnahmen?

Anna: Nein, suche ich nicht. Das funktioniert auch kaum, da nach dem Beenden der Aufnahmen das Artwork entsteht, das ja ebenfalls von mir kommt, und mir dieses Mal besonders am Herzen lag, weil ich Ideen für Videos sammle, für Konzerte probe, etc. Ich höre mir die Platte selbst ab einem gewissen Punkt nicht mehr an, arbeite aber weiterhin mit dem Material. Weiters heißt der Versuch, gewisse Dinge aus einem rauszubringen, ja nicht, daß dies auch geglückt ist. Im Fall von "Thaumatrope" ist ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung unheimlich viel in meinem Leben passiert, quasi die thematische Weiterführung der Dinge, von denen das Album handelt.

 

EVOLVER: Die Präsentation vom "Thaumatrope" fand im Wiener Konzerthaus statt – das ist ein sehr schöner, aber eher ungewöhnlicher Platz für eine Release-Show. Wie bist du dazu gekommen?

Anna: Ich wurde gefragt; wie genau das vonstattengegangen ist, kann ich gar nicht sagen. Ich war auf jeden Fall sehr froh darüber und bin noch immer sehr sehr dankbar für diese Möglichkeit und den von vorn bis hinten absolut wunderbaren Abend.

 

EVOLVER: Wie wird das Album bei Kritikern und Publikum aufgenommen?

Anna: Das kann man ja selbst googeln.

 

EVOLVER: "Peninsula", "Cryptozoology" und "Thaumatrope" – wieso tragen deine Tonträger so ausgefallene Namen?

Anna: Ich mag gute Worte.

 

EVOLVER: Du wirst in der Szene in einem Atemzug mit Soap&Skin oder Gustav und Clara Luzia genannt, die ja doch etwas zum Teil völlig anderes machen. Ein berechtigter Vergleich?

Anna: Vergleiche sind Mittel für Leute, die schlecht darin sind, das zu beschreiben, was sie hören. Wer so schlecht im Beschreiben ist, daß er vier Frauen in einen Topf stecken muß, weil es so offensichtlich ist, daß sie musikmachende Frauen sind, der tut mir ja schon auch ein bißchen leid.

 

EVOLVER: Eine Frage zum Erfolg: Paper Bird war gleichzeitig mit Snoop Dogg und Paul McCartney ein MySpace-"Artist of the week". Wie findest du das?

Anna: Lustig!

 

EVOLVER: Deine Zukunftspläne?

Anna: Zufriedener werden, glücklich werden, arbeiten, mehr reisen, weniger fernsehen!

 

Martin Zellhofer

Paper Bird - Thaumatrope

Leserbewertung: (bewerten)

Seayou Records (Ö 2009)

Links:

Kommentare_

Print
Kurt Bauer - Der Februaraufstand 1934. Fakten und Mythen

"Wenn morgen, Montag, in einer oberösterreichischen Stadt mit einer Waffensuche begonnen wird (...)"

Am 12. Februar 2018 jährte sich der Aufstand von Teilen der österreichischen Sozialdemokratie gegen die Regierung Dollfuß zum 85. Mal. Das 2017 abgehängte Dollfuß-Porträt im Parlament, die heute noch nach Aufständischen benannten Plätze und Bauwerke, Gedenktafeln für die linken Kämpfer und die regelmäßige mediale Wiederkehr des Themas beweisen: Das Ereignis ist uns näher, als es auf den ersten Blick scheint.  

Stories
Distance Project - Trail Running Experience

Don´t stop!

"Meine Musik ist eine Danksagung an alle, die mir so viel schöne Momente durch ihre Musik schenken." Braucht es mehr Gründe, um eine Leidenschaft zu erklären? Folgen wir Hannes Zellhofer durch 30 Jahre musikalische Entwicklung.  

Stories
Claudia Sikora im Interview

"Ich kenne keinen Autor, der sich nicht für talentiert hält"

Die Schriftstellerin Claudia Sikora spricht mit Martin Zellhofer über Talent, Inhalte, Geld, den Buchmarkt, Social Media und Schildbürger.  

Print
Manfred Wieninger - St. Pöltner Straßennamen erzählen

Where the streets have a name

1034 St. Pöltner Straßen-, Gassen- und Platznamen klopft der Schriftsteller und Theodor-Kramer-Preisträger Manfred Wieninger in seinem Nachschlagewerk "St. Pöltner Straßennamen erzählen" auf deren Bedeutung ab. Eine trockene Materie? Gar nicht! Wieninger nimmt uns vielmehr mit auf eine informative Reise durch Raum und Zeit, Geschichte, Politik und Gesellschaft.  

Stories
Väterkarenz im Selbstversuch

"Die Mama bin ich, verdammt!"

Sag mir, wo die Väter sind ... denn während meiner Karenz sehe ich kaum welche. 19 Prozent der 2016 in Karenz weilenden Elternteile waren Väter. Viel ist das nicht. Dabei versäumen sie was!  

Stories
Wien - Salzburg, zu Fuß, über die Berge

Der Weg ist (nie) das Ziel

Martin Zellhofer will von Wien nach Salzburg: 50 Minuten mit dem Flugzeug, zwei Stunden 22 mit dem Zug, rund drei Stunden mit dem Auto, drei Wochen zu Fuß. Er wählt letzteres.