Stories_Reisebericht: Núcleo João Pinheiro/Brasilien, Pt. 2
Vergessene Welten
"Sprechen Sie deutsch?" Im tiefsten Hinterland Brasiliens durchaus: Lesen Sie den zweiten Teil von Manfred Wieningers Entdeckungsreise durch die deutsch-österreichische Sprachinsel in Minas Gerais.
12.12.2008
Siedlerhäuschen aus der Gründungszeit des Núcleo João Pinheiro - bis heute das Wohnhaus von Rudolf Elster
Da wir uns im verão - dem heißen Sommer - befinden, sind wir froh, als wir endlich bei der fazenda von Rüdiger Hegemann ankommen, die sich über das Plateau eines ausgedehnten, mit dichtem, hohem Gras bestandenen Hügels hinzieht. Alles Land ringsum, soweit das Auge reicht, gehört zu diesem großen Hof, obwohl wir den Núcleo João Pinheiro nicht verlassen haben.
"Senhor Rüdiger ist nicht nur so etwas wie ein informeller Bürgermeister der Sprachinselbewohner, sondern auch ein geradezu weiser, humorvoller Gewährsmann für Sprache und Kultur des Núcleo João Pinheiro", schwärmt Christiane M. Pabst.
Dank Senhora Ilse und der Wiener Sprachwissenschaftlerin bin auch ich zur Feier des 80. Geburtstags von Rüdiger Hegemann eingeladen. Erschienen sind mehrere hundert Personen, nicht nur die umfangreiche Verwandtschaft auch aus anderen Landesteilen, sondern vor allem jeder, der Rang und Namen hat in der Sprachinsel, die Enkel, Urenkel und Ururenkel der Kolonisten. Die Gastfreundschaft ist überwältigend, die Tische biegen sich unter den Speisen und Getränken, und alle paar Minuten werde ich auf eine neue Köstlichkeit hingewiesen, die ich unbedingt noch probieren müsse. Die Unterhaltungen werden zwar vornehmlich auf portugiesisch geführt; die Mehrheit vor allem der älteren Festgäste vermag aber blitzschnell zu switchen und die spezifische, deutsch-österreichische Sprachinselsprache zu verwenden.
"Die meisten Jüngeren und Jüngsten wenden die Sprachinselmundart nicht mehr aktiv an, können aber Gesprächen folgen, die auf deutsch geführt werden, beherrschen Grußformeln und kennen deutsche Verwandtschaftsbezeichnungen. Einige von ihnen finden wieder Interesse an der deutschen Sprache, die besonders in den vierziger und fünfziger Jahren unter einem schlechten Image in Brasilien litt, und besuchen Deutschkurse", erklärt mir Christiane. Der Gastgeber, dem ich offiziell vorgestellt werde, erweist sich als feiner und intelligenter Gesprächspartner, dem das Überleben der überlieferten Sprache und Kultur in der Gemeinschaft des Núcleo João Pinheiro ein Herzensanliegen ist und der daher die Forschungsarbeit von Pabst unterstützt. "Wir hier in den Kolonien haben den Kontakt zu Deutschland oder Österreich schon vor langer Zeit verloren. Ihr seid neue Freunde aus der alten Heimat, und es ist gut, Freunde zu haben", begrüßt er die Linguistin und mich.
Christiane M. Pabst im Gespräch mit dem aus Wien stammenden Rudolf Elster, einem der ältesten Bewohner der deutsch-österreichischen Sprachinsel Núcleo João Pinheiro
"Der Núcleo João Pinheiro ist mit keiner anderen Sprachinsel vergleichbar. Wie jede einzelne Sprachinsel ist er aufgrund seiner Entstehung, Lage, Geschichte, Kultur, Umgebung und sozialen Bedingungen ebenso individuell, vielschichtig und einzigartig wie eine menschliche Person. Wie einem lebendigen Individuum steht jeder Sprachinsel ihr Tod unausweichlich bevor, weshalb es meines Erachtens wichtig ist, ihre Mundart, Kultur und Mentalität zu beschreiben, um ihr auf diese Weise einen Platz im kulturellen Gedächtnis der Menschheit zu sichern", beschreibt Christiane M. Pabst ihr Forschungsprogramm. Mit ihrer Arbeit über den Núcleo João Pinheiro will sie sich an der Universität Hamburg habilitieren. Dazu ist der jungen Feldforscherin, die derzeit am Germanistik-Institut der Universität Wien lehrt, viel Glück zu wünschen!
Manfred Wieninger
Kommentare_
Meist werden von brasilianischer Seite ja die Bundesstaaten Santa Catarina, insbesondere Pomerode (der angeblich "deutscheste" Ort des Landes), oder Rio Grande do Sul als Fundort verbliebener deutscher Siedler angegeben, obwohl nur wenige Brasilianer aus anderen Gefilden tatsächlich einmal an betreffenden Fleckchen vorbeikommen. Sie haben somit ein sehr interessantes Fundstück aufgetan, das wohl auch die meisten mineiros überraschen würde.
Interessant fand ich an Ihrem Artikel, dass sehr locker und offen mit der deutschen Abstammung und Sprache umgegangen wurde. Aus Erfahrung (einer Reise nach Blumenau zum Oktoberfest) kann ich sagen, dass dort zwar viele Bürger der deutschen Sprache mehr oder weniger mächtig sind und auch sehr viel Wert auf ihre Wurzeln legen, sich aber eher schüchtern verhalten, wenn es um eine entsprechende Konversation mit angereisten Touristen geht. So befand ich mich im Haus einer Familie, die sich erst beim churrasco am Sonntag genug Mut angetrunken hatte, um mich mit ihren durchaus überwältigenden Sprachkenntnissen zu verblüffen. Anzumerken ist hierbei natürlich, dass die dortige Infrastruktur sehr viel weniger abgeschottet ist als im Falle der von Ihnen besuchten Sprachinsel.