Stories_Reisebericht: Mohács

In der schwäbischen Türkei

Der Name dieser Stadt mag vielleicht an finstere Indianergestalten aus alten Western erinnern - doch in Wahrheit verbirgt sich dahinter ein Ort, in dem Depressionen und Selbstmord einst permanent Saison hatten. Manfred Wieninger weiß Genaueres.    14.11.2008

Während des Krieges zwischen dem Milosevic-Serbien und Kroatien erlebte die Grenzstadt Mohács, der südlichste Donauhafen Ungarns, einen wirtschaftlichen Aufschwung sondergleichen. Als der Kanonendonner aus den erbitterten Belagerungsschlachten von Osijek und Vukovar monatelang in der Stadt zu hören war, kamen Tag für Tag Hunderte, ja Tausende Kroaten und Serben mit Donaufähren aus den nahen Kriegsgebieten in das ungarische Städtchen, um sich mit allem Lebensnotwendigen einzudecken.

Südlich von Mohács bildet die Donau mehr oder weniger exakt die Grenze zwischen der kroatischen Provinz Slawonien und der serbischen Vojvodina. Die Kühlschränke, Lederjacken und Fernseher, die heute wenige Meter von der Anlegestelle der Donaufähre auf offener Straße verkauft werden, sind nur eine schwache Reminiszenz an die damaligen Boom-Zeiten. Ebenso der Textilien-Straßenmarkt in der Fußgängerzone, der von Roma dominiert wird und sich fast bis zum Rathaus zieht. Fast völlig verschwunden sind auch die kleinen Gemischtwarenläden, oft nicht mehr als Bretterbuden mit Wellblechdächern, in denen man von französischem Mineralwasser über belgische Schokolade bis zu russischen Kalaschnikows alles kaufen konnte, was gerade gebraucht wurde. In der Kaffeehaus-Greißlerei neben der Fährstelle warten heute viele der Händler von damals vergebens auf Kundschaft - denn mittlerweile ist die Stadt längst wieder in eine Art von Depression verfallen, die nun schon fast 500 Jahre lang anhält.

 

Im Frühjahr des Jahres 1526 startete Sultan Suleiman der Prächtige von Istanbul aus einen Feldzug gegen das Königreich Ungarn, das sich weigerte, dem türkischen Reich Tribut zu zahlen. Wegen des in diesem Jahr meist vorherrschenden schlechten Wetters kam das osmanische Heer nur langsam vorwärts und erreichte erst im August das kroatische Osijek. Am Morgen des 29. August 1526 stellte sich der erst zwanzigjährige ungarische König Lajos II. mit einem Heer von kaum 20.000 Mann auf der weiten Ebene südlich der Stadt Mohács den Angreifern entgegen. Seine Truppen setzten sich keineswegs nur aus Ungarn zusammen, sondern auch aus Kroaten, Polen, deutschen und italienischen Söldnern, und waren den osmanischen an Zahl und vor allem an Artillerie hoffnungslos unterlegen. Zudem waren weitere ungarische Kampfverbände erst im Anmarsch.

Wäre Lajos mit seiner Armee in Buda geblieben, hätte er Suleiman wahrscheinlich einfach aussitzen können. Durch die heftigen Sommergewitter hätte es die türkische Armee in diesem Jahr gar nicht bis in die ungarische Residenzstadt geschafft. Die Osmanen, die am Morgen des 29. August 1526 ihren Aufmarsch in der Ebene von Mohács noch nicht abgeschlossen hatten, nahmen auch deshalb zunächst die angebotene Schlacht nicht an und ließen den Gegner in voller Rüstung fast einen ganzen Tag lang stehen. Währendessen bereiteten sie unbemerkt eine Defensivstellung mit rund 300 modernen Geschützen vor. Erst am späten Nachmittag reizten sie durch einen Scheinangriff einer kleineren Abteilung das ungarische Heer zu einem heroischen, aber letztlich selbstmörderischen Angriff auf das türkische Zentrum. Die wilde Attacke endete in osmanischen Artilleriesalven und in einer anschließenden Massenflucht der Magyaren. Es war eine Schlacht, bei der keine Gefangenen gemacht wurden. In kaum mehr als einer Stunde war beinahe das gesamte ungarische Heer aufgerieben; nur einige Reiter entkamen in die Mohácser Donausümpfe, wobei der unglückliche König vom Pferd stürzte und ertrank. Mit ihm fielen fast der gesamte Hochadel und die höchsten geistlichen Würdenträger Ungarns. Ein europäischer Staat hatte aufgehört zu existieren.

 

Durch den Tod des kinderlosen Königs ging die ungarische Krone gemäß alten Erbverträgen nominell an die Habsburger. Doch der größte Teil des führungslosen Landes wurde in den folgenden Jahren von den Osmanen besetzt; 1541 nahm Suleiman der Prächtige kampflos die Hauptstadt Buda. An den Grenzen zwischen den beiden Machtblöcken herrschte die nächsten 150 Jahre lang Krieg, der jeweils nur im Winter ruhte.

"Több is veszett Mohácsnál! - Bei Mohács ist mehr verlorengegangen!" lautet ein Sprichwort, das jeder Ungar kennt. Man verwendet es, um einem Gesprächspartner über einen Verlust hinwegzutrösten - es sei schon Schlimmeres passiert, eben der Waffengang von 1526. Die Trauer über die desaströse Niederlage, die der ungarischen Eigenstaatlichkeit bis 1867 bzw. 1918 ein Ende setzte, gehört bis heute zur ungarischen Populärkultur, ja zur ungarischen Seele. Nicht nur in den Schulen und nicht nur im 19. Jahrhundert wurden elegisch-patriotische Gedichte wie das von Mihály Vörösmarty intensiv rezipiert: "Mohács, du Feld der Trauer/Getränkt von Heldenblut/Fortgeschwemmt die Recken/Von der Osmanen Flut."

 

Mit Mohács schuf sich eine Nation, in der die Depression und der Selbstmord sowieso immer Saison hatten, einen besonders traurigen Mythos. Vor allem im 19. und 20. Jahrhundert wurde die südungarische Stadt geradezu ein Pflichtreiseziel für jeden Ungarn. Auch die jeweiligen Eliten und die Spitzen des Staates versammelten sich Jahr für Jahr zu eindrucksvollen Trauerkundgebungen in dem Donaustädtchen.

Dabei gab es lange Zeit außer ein paar grimmigen Statuen magyarischer Recken und dem Mohácser Rathaus im maurisch-orientalischen Stil kaum etwas zu sehen, was wirklich konkret an die Schlacht erinnert hätte. Erst 1926 wurde eine Gedenkkirche im byzantinischen Stil am Hauptplatz gegenüber dem Rathaus errichtet. Bis zu 3600 Menschen konnten dort gleichzeitig dem nationalen Mythos erliegen, und an jedem Jahrestag der Schlacht war das Gotteshaus auch wirklich voll. In den sechziger Jahren entdeckten Archäologen endlich in einem Hopfenfeld einer Kolchose einige Kilometer südlich von Mohács vier Massengräber mit rund 800 Köpfen gefallener ungarischer Soldaten. Es war dies der erste und bisher einzige konkrete Hinweis auf das Schlachtfeld, über dessen genaue Lage man bis dahin nur spekulieren konnte.

Bis heute hat man in und um Mohács aber kein einziges türkisches Kriegergrab gefunden. Der Kolchose wurde natürlich sofort der Hopfenanbau verboten, die Felder wurden in eine riesige nationale Trauerstätte umgewandelt. Auf zig Hektar umgibt ein dichter Wald aus Schwarzkiefern ein im Stil des sozialistischen Realismus hingeklotztes Besucherzentrum, eine Art gigantomanisches Betonfoyer, sowie vor allem ein weites Wiesenrund, auf dem 120 überlebensgroße, geschnitzte Holzstelen, Totems gleich, das einstige Schlachtgewimmel symbolisieren. Den Anfang macht eine abstrahierte, schreckenerregend große Sultan-Suleiman-Stele, die in einer Art Einkaufsnetz blutende Ungarnköpfe eingesammelt hat. Nach Südosten massieren sich die verwitterten Stelen - nur wer in diese Himmelsrichtung floh, überlebte, wer eine andere Richtung einschlug, wurde massakriert und geköpft.

 

Wie es sich für eine Trauerstätte gehört, fehlen gastronomische Einrichtungen völlig. Aber auch außer Eßbarem und Getränken kann man nichts kaufen, Ansichtskarten, Reiseführer oder Zigaretten etwa - hier ist der diskrete Charme sozialistischer Freizeitgestaltung noch höchst lebendig. Bis 1989 ritualisierte hier die ungarische Staatsspitze an jedem 29. August die nationale Trauer inklusive Übertragung in Rundfunk und Fernsehen.

Mittlerweile ist diese Inszenierung in der Mottenkiste verschwunden. Heute sind es vor allem ungarische Schulklassen, die sich für Mohács interessieren müssen. Relativ gelangweilt verlieren sich die Schülerinnen und Schüler in dem riesigen Areal und benützen lustvoll ihre Handys, um sich wiederzufinden. Mohács ist nicht mehr der Mythos dieser Generation. Das merkt man auch an der jahrzehntealten, pädagogisch schwerfälligen Geschichtsdokumentation im Besucherfoyer, die - von der Sonne ausgebleicht und von zahlreichen Graffiti verziert - ihrem endgültigen Abwrackdatum entgegensieht.

Blickt man allerdings vom sogenannten Knochentor der Gedenkstätte in die unendlich weit scheinende Ebene von Mohács hinaus, kann man sich die Panik und Todesangst der auseinanderstiebenden, um ihr Leben rennenden und reitenden Ungarn schon ein wenig vorstellen. Ganz fern am Rande der Ebene ist blaßblau eine nicht allzuhohe Bergkette gerade noch zu erkennen. Am Fuße dieser Berge mußten 1687 die Türken um ihr Leben rennen. Ein habsburgisch-bayerisches Heer unter dem genialen Feldherren Karl von Lothringen und Kurfürst Maximilian II. Emanuel drängte sie bis nach Serbien zurück. Die habsburgische Propaganda nannte das die zweite Schlacht von Mohács. Als die Reconquista abgeschlossen war, war die Region um Mohács und Pecs nur mehr eine menschenleere, abgebrannte, im wahrsten Sinne des Wortes verheerte Kulturwüste.

Aus Deutschland, besonders aus Schwaben, aus Kroatien, aus Nordungarn und aus Serbien mußten Siedler, Bauern und Handwerker gerufen werden, um das verödete Land von Grund auf neu aufzubauen. Bis heute nennen die letzten Nachkommen der deutschsprachigen Siedler, deren Gros 1945 vertrieben wurde, ihre Heimat die schwäbische Türkei. Auch die serbische Minderheit in der Stadt Mohács hat ihre besten Zeiten schon lange hinter sich und ist heute von Überalterung und Auswanderung geprägt. Aber mit Pawel Milosevic verfügt die Gemeinde über einen nicht einmal vierzigjährigen Popen, der erst vor wenigen Jahren aus dem Mutterland gekommen ist und auch im unaufhaltsam scheinenden Niedergang sein Engagement nicht aufgibt. Mittlerweile mußte er bereits sechs serbisch-orthodoxe Gotteshäuser in der Stadt aus Mangel an Pfarrkindern schließen. Ihre Ikonen und sonstigen religiösen Kultgegenstände hat er in der siebenten und letzten serbisch-orthodoxen Kirche konzentriert, die nicht weit von der Anlegestelle der Donaufähre in einem fast dörflich wirkenden, alten serbischen Vorort der Stadt liegt. Ein Verkehrsschild vor der Kirche erklärt die Straße zur Fahrverbotszone für Pferdekutschen.

Pawel Milosevic spricht die meisten ungarischen Verben zwar noch immer ausschließlich in der Nennform aus, aber er erzählt bei Führungen so leidenschaftlich und intensiv über die von ihm geretteten Kunstschätze, daß er und seine Gattin von den Spenden der Besucher und den verkauften Ansichtskarten und Kirchenführern leben können, wenn auch mehr schlecht als recht.

Seine schwindende Gemeinde könnte ihm jedenfalls kein Gehalt mehr zahlen.

Manfred Wieninger

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