Stories_Reisebericht: Vom Schloßberg ins Lahntal

Infiziert vom Marburg-Virus

EVOLVER-Globetrotter Manfred Wieninger war wieder unterwegs: Nach den Straßen Ouro Pretos und der Klagenfurter Altstadt verschlug es ihn diesmal in die deutsche Universitätsstadt Marburg.    23.10.2008

Ich treffe Professor Georg Fülberth im "Café am Grün" unterhalb des Marburger Schloßberges. Das Kaffeehaus neben der Buchhandlung "Roter Stern" wird als Kooperative geführt, was man nicht nur daran erkennt, daß handgeschriebene Plakate etwa zu einem "Antifaschistischen Abendspaziergang" aufrufen oder für Neuerscheinungen von Daniel Cohn-Bendit bis Elfriede Jelinek werben, sondern vor allem daran, daß man sich zum Beispiel Kaffee und Topfentorte an einer Buffetkasse selbst holen muß und durch allerlei Schilder dazu aufgefordert wird, das leere Geschirr nach Verzehr wieder in die Küche zurückzutragen.

Für diese kleine Unbequemlichkeit entschädigt das Café aber mit einer schönen Terrasse direkt am grünen Ufer des Flusses Lahn, von der man auch einen guten Blick auf die Alte Universität mit der dahinter ansteigenden Marburger Oberstadt hat, die schließlich vom Landgrafenschloß auf dem höchsten Punkt des Burgberges gekrönt wird. Mit einigen wenigen auf der ganzen Welt verstreuten Mitstreitern arbeitet der pensionierte Soziologe und frühere Marburger Stadtrat Fülberth - übrigens ein geeichter DKP-Kader, der für die Linkspartei immer noch im Kreisrat sitzt - seit zig Jahren ehrenamtlich an der Fertigstellung der historisch-kritischen Karl-Marx-und-Friedrich-Engels-Gesamtausgabe.

Das Projekt läuft bereits seit mehr als 80 Jahren und wurde in den dreißiger Jahren das erste Mal jäh gestoppt, weil Stalin sämtliche damaligen Herausgeber und Bearbeiter liquidieren ließ. Sieben Jahre nach Stalins Tod wurde die Ausgabe von der DDR fortgeführt, was 1989 - bis dahin waren 44 von geplanten 130 Bänden bereits erschienen - naturgemäß das zweite jähe Ende der Arbeit an der Mammutedition bedeutete. Seltsamerweise sorgte danach ausgerechnet der Pfälzer Helmut Kohl für eine knappe, aber doch ausreichende Finanzierung der Weiterarbeit, weil, so jedenfalls sein Motiv, Marx ja auch fast ein Pfälzer war. "Würde etwas Vernünftiges in dieser Gesellschaft passieren, so wäre ich zutiefst irritiert, weil ich´s nicht erklären kann", erklärt Professor Fülberth lächelnd.

 

Im 12. Jahrhundert hatte die malerische Lage der Marburg auf einem hohen Bergsporn über dem waldreichen Lahntal vor allem militärischen Wert: Die Landgrafen von Thüringen sicherten mit der wehrhaften Anlage auf dem steilen Burgberg direkt am Lahnfluß Handelswege und Furten. Bald entwickelte sich unter diesem Schutz eine kleine Handwerker- und Händlersiedlung. Ein wenig aufwärts ging es mit der relativ unbedeutenden Burgsiedlung allerdings erst, als die ungarische Königstochter Elisabeth nach dem Tod ihres Gatten, des Landgrafen Ludwig IV. von Thüringen, die Stadt als Witwensitz erhielt.

Unterhalb des Burgberges ließ die tiefreligiöse Zwanzigjährige, die bereits mit vier Jahren von Ungarn in das fremde Thüringen verpflanzt worden war und sich am dortigen Hof nie richtig eingelebt hatte, ein Hospital errichten, in dem sie selbst Kranke aus allen Schichten pflegte, woraufhin ihre Familie sie für verrückt hielt. Nach dem frühen Tod (mit nur 24) im Jahr 1231 und dem raschen Aufkommen von Pilgerfahrten zu ihrem Grab in der Spitalskapelle erkannte aber das Landgrafengeschlecht das politisch-wirtschaftliche Potential, das in dieser öffentlichkeitswirksamen, wenn auch antifeudalen Haltung einer Hochadeligen lag und ließ das schwarze Schaf der Familie 1235 heiligsprechen. Über dem Grab Elisabeths in der Spitalkapelle begann man einen gotischen Dom zu errichten, bettete ihren Leichnam in einen goldenen Schrein um, zu dessen feierlicher Eröffnung sogar der Kaiser erschien, und ein wahrer Elisabeth-Kult mit einer entsprechend bedeutenden Wallfahrt zu den Gebeinen setzte ein.

Ein Nachkomme der Heiligen, der hessische Landgraf Philipp der Großmütige, der 1526 in seinen Landen die Reformation einführte, ließ die populären Knochen schließlich aus der Elisabethkirche entführen, auch um sie als wertvolles Pfand bei seinen Scharmützeln mit den katholischen Machtträgern einzusetzen. Philipp war es nämlich nicht gelungen, die populäre Wallfahrtskirche, die vom Deutschen Orden getragen wurde, zu verstaatlichen, sprich in seinen Besitz zu bringen - ganz im Gegensatz zu drei weiteren katholischen Klöstern in Marburg. In den Wirren der Religionskonflikte dieser Zeit landeten die Reliquien schließlich in Wien, wo sie sich noch heute befinden.

Andere Städte haben eine Universität, Marburg ist eine Universität, heißt es, und das durchaus zu Recht. Die 1527 gegründete Philipps-Universität, einst die erste protestantische Hochschule der Welt, prägt mit ihren derzeit rund 18.000 Studenten die mittelhessische Submetropole in einem ungeheuren Maße und hat im 20. Jahrhundert immerhin neun Nobelpreisträger hervorgebracht, darunter den Chemiker Robert Wilhelm Bunsen, den Physiker Karl Ferdinand Braun oder etwa auch Emil von Behring, einen der Begründer der Serologie, der 1901 mit dem ersten Nobelpreis für Medizin geehrt wurde und drei Jahre später in Marburg ein pharmazeutisches Unternehmen gründete, das heute noch besteht und der zweitwichtigste Arbeitgeber der Region ist. Fast alle übrigen Arbeitsplätze in der Stadt hängen direkt oder indirekt an der Universität, deren Einrichtungen und Gebäude praktisch überall im Stadtgebiet zu finden sind. Etwa jeder zweite der Studenten hat Medizin belegt, doch berühmt ist die Marburger Uni seit den sechziger Jahren für ihre Leistungen in den "nichtsnutzigen Wissenschaften" (© Fülberth), also in den Geisteswissenschaften, besonders in der Pädagogik. Es gibt auch eine erstklassige Musikhochschule, die allerdings vier Fünftel ihrer Absolventen für eine meist lebenslange Arbeitslosigkeit ausbildet. "Die Geisteswissenschaften schaffen leider nur Arbeitsplätze für Geisteswissenschafter - ganz im Gegensatz zur Rüstungsindustrie", meint Professor Fülberth dazu.

Im Selbstbild der Marburger begreift man sich aber durchaus noch als städtische Gelehrtenrepublik, die seit dem Umbruch der Sechziger von einer breiten links-alternativen Mehrheit regiert wird. Mit dem in den 70er Jahren eingemeindeten katholischen Ortschaften hat man bis heute weder die Religion noch die politische Orientierung gemeinsam. Dabei kann das breite Spektrum der Marburger Linken auf so gut wie keine Arbeiterschaft oder gar Industriearbeiterschaft als Wählerklientel zurückgreifen; hier wird außer Wissen und Dienstleistungen und Mehlspeisen so gut wie nichts produziert. Schon im Kaiserreich war Marburg die Stadt mit dem zweitkleinsten Arbeiter- und dem zweitgrößten Dienstmädchenanteil aller deutschen Kommunen.

 

Die Stadt, auf deren sämtlichen Straßeneinfahrten das Ortsschild "Universitätsstadt Marburg" prangt, hat der Universität viel zu verdanken - nicht nur rund 10.000 Arbeitsplätze an Uni und Universitätskliniken, nicht nur den ältesten Botanischen Garten Deutschlands zu Füßen des Schloßbergs, nicht nur das Museum für Kulturgeschichte im Landgrafenschloß, nicht nur weitere Museen, etwa für Mineralogie, Bildende Kunst, Völker- und Religionskunde sowie das Museum Anatomicum, nicht nur bedeutende Fachbibliotheken und Archive, sondern vor allem eben den zweitgrößten Arbeitgeber, die Behring-Werke, die erfolgreichste kommerzielle Ausgliederung der Universität bis heute.

Dabei hatte die Uni bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum mehr als ein paar hundert Hörer. Erst mit der Machtübernahme der Preußen im Jahr 1866 ging es mit der hohen Schule wieder aufwärts, und damit auch mit der Stadt. Die neuen Herren legten zum einen die Lahnauen unter dem Schloßberg trocken und ermöglichen damit erst die bedeutende Stadterweiterung der Gründerzeit, zum anderen aber bauten sie vor allem Kasernen. Die Einjährig-Freiwilligen aus diesen wiederum frequentierten die Universität.

Unsere Zeit geht den umgekehrten Weg. Die letzte Kaserne wurde bereits 1994 geschlossen, die Gebäude verkauft. Studien wie Orientalistik, Sinologie und Japanologie sind längst wegrationalisiert, und die Zusammenlegung der Universitäten Marburg und Gießen ist beschlossene Sache. Die angestrebten Synergieeffekte, so fürchtet man in beiden Städten, werden wohl da wie dort Stellen kosten. An die ehemalige Garnisonsstadt Marburg erinnert noch die so genannte "Pioniermischung", die in manchen Lokalen zuweilen auf der Getränkekarte zu finden ist: ein Drittel Kümmel, ein Drittel Goldwasser, ein Drittel Korn.

 

Stolz ist man in Marburg nicht zuletzt vom Standpunkt der Fremdenverkehrswerbung auf die vielen großen Geister der deutschen, ja der europäischen Kulturgeschichte, die die Universität im Laufe ihrer Existenz angezogen hat. Alle, alle waren sie hier, wenn auch die meisten nur kurz, ein paar Monate, ein, zwei Semester, wenige Jahre: von A wie Hannah Arendt, die 1924/25 in Marburg studiert hat; über B wie Bettina von Armin, die hier zwei Jahre bei ihrer Schwester gelebt hat; über G wie Jakob und Wilhelm Grimm, die Anfang des 19. Jahrhunderts studienhalber drei Jahre lang in der Barfüßergasse 35 zubrachten; über H wie Martin Heidegger, der drei Marburger Jahre lang an seinem Hauptwerk "Sein und Zeit" feilte; über L wie Michail Wassiljewitsch Lomonossow, der einige Zeit an der Philipps-Universität studierte; über O wie José Ortega y Gasset, der 1906/07 ein paar Semester lang Philosophie hörte; über P wie Boris Pasternak, der hier 1912 ein Sommersemester einlegte; über S wie Ferdinand Sauerbruch, der hier einen Teil seines Medizinstudiums absolvierte; bis zu W wie Alfred Wegener, der in seinen Jahren als Privatdozent an der Marburger Universität seine Kontinentalverschiebungstheorie entwickelte.

In den Fremdenverkehrsprospekten fehlen aber andererseits auch Namen - wie etwa der von Roland Freihsler, dem Präsidenten des NS-Volksgerichtshofes, der einst als kommunistisch angehauchter Student in Marburg Jura gehört und im Laufe seines Studiums in einem koscheren Hotel am Steinweg 12 ganze Fässer an Freibier erschnorrt hatte. Oder auch der des Marburgers Otto Glöckel, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Marburg aus als erster explizit antisemitischer Abgeordneter den Sprung in den deutschen Reichstag schaffte. Oder auch der des "Schlächters von Lyon" Klaus Barbie, der nach Kriegsende von den amerikanischen Besatzern im Marburger Grimm-Haus in der Barfüßergasse 35 aufgestöbert und verhaftet worden war. Nachdem man den ehemaligen Gestapochef von Lyon einige Tage in Gewahrsam hatte, erkannte der CIC, daß man ein Kaliber wie ihn ganz gut im Kalten Krieg gebrauchen könnte. Auf dem Marburger Hauptbahnhof inszenierte daher der Geheimdienst eine spektakuläre Scheinflucht des hochrangigen NS-Gefangenen - und ließ ihn die nächsten vier Jahre für sich arbeiten.

 

Ich verabschiede mich schließlich von Prof. Fülberth und seinen Marburger Geschichten und trage brav mein Tablett zurück. Vom Café mache ich ein paar Schritte bis zum zentralen Rudolphsplatz, an dem sich die gotischen Mauern der Alten Universität vor mir auftürmen und dahinter hoch bis in den Himmel das mittelalterliche Marburg, die sogenannte Oberstadt, gekrönt vom mächtigen Landgrafenschloß, der ehemaligen Marburg des 12. Jahrhunderts. Diese Oberstadt vor mir, das sind steile Gassen, eine Vielzahl von Treppen, buckeliges Steinpflaster und eine Architektur wie zur Zeit Martin Luthers, der hier 1529 mit Zwingli und Melanchthon das berühmte "Marburger Religionsgespräch" führte, aber wegen einer ausgebrochenen Seuche die Stadt floh.

Schon Boris Pasternak hat Marburg nicht zu Unrecht "ein mittelalterliches Märchen" genannt. Jakob Grimm, der hier allerdings länger als Pasternak lebte, erkannte auch die praktischen Nachteile einer Ansiedlung auf einem steilen Burgberg: "Ich glaube, es sind mehr Treppen auf der Straße als in den Häusern." Ich erkenne diese Nachteile auch, verzichte daher zunächst einmal auf einen Aufstieg, gehe an der Alten Universität vorbei und befinde mich nach wenigen Metern auf einer breiten Einbahnstraße unterhalb des steilen Schloßbergs, die den ungewöhnlichen Namen Pilgrimstein trägt - heute nicht mehr als ein mittelstädtischer, relativ verkehrsreicher Hauptverkehrszug, für mittelalterliche Verhältnisse wohl fast ein Boulevard, pilgerten hier einst Menschen aus nah und fern zum Grab der Heiligen Elisabeth in die gleichnamige Kirche, die heute als früheste reingotische Hallenkirche Deutschlands gilt. Heute pilgern hier Studentenscharen und bequeme Marburg-Besucher wie ich zu einem Aufzug, der direkt in die historische Altstadt führt, und zwar von sechs Uhr früh bis Mitternacht.

Als ich schließlich am historischen Marktplatz der Oberstadt - auf dem einst im Jahr 1248 Sophie von Brabant, die älteste Tochter der Heiligen Elisabeth, das Land Hessen ausgerufen hat - auf halber Höhe des Schloßbergs angekommen bin und ins Lahntal blicke, kann ich die Euphorie des ehemaligen Oberstadtbewohners Clemens Brentano nachvollziehen, der da einst gemeint hat: "Ach, wo ist´s in der Welt so schön, als hier in diesem Frühling hoch in den Lüften zu schweben, dem Himmel so nah, daß jedes der sechs Fenster meiner Stube eine prächtige Landschaft unter Rahmen und Glas bringt."

Im "Local Central" am Oberstädter Marktplatz genieße ich eine Kartoffel-Lauch-Suppe mit hineingeschnittenen Debrezinern, gratinierte Broccoli-Spätzle und Duckstein-Bier. Die Speisekarte ist im übrigen wie in praktisch allen Marburger Lokalen international, von Calamari griglia über bayrischen Leberkäse bis zum Baguette Hawaii ist alles zu haben. Die angebotenen Cocktails haben meist Namen wie "Swimming Pool", eine türkisblaue Höllenmischung, oder "Real Orgasm", was eindeutig nach studentischem Humor klingt. Der Jahrhunderte währende Einfluß der Studenten- und Professorenschaft aus halb Deutschland, ja Mitteleuropa hat so etwas wie eine spezifische Regionalität aus Küche und Sprache der Marburger verdrängt. Einzig und allein im Restaurant "Zur Sonne" am Marktplatz wird so etwas wie eine Marburger Küchentradition zelebriert, vor allem für amerikanische Gruppenreisende. So mancher Ur-Marburger fühlt sich ein bißchen überfremdet, von den einen wie den anderen. Ausdrücken wird er diese Ansicht allerdings nicht mehr in einem Stadtdialekt auf mittelhessischer Grundlage, sondern in einem Hochdeutsch, das seine Vorfahren etwa von Clemens Brentano, Sophie Mereau-Brentano, Caroline Schlegel-Schelling und vielen anderen zeitweiligen Gästen seiner Stadt übernommen haben.

Überrascht bin ich von der Belebtheit dieses mustergültig renovierten mittelalterlichen Stadtkerns. Die Hauptlinien der Siedlung wie Wettergasse oder die Barfüßergasse mit dem Grimm- und dem Luther-Haus oder auch die Mainzergasse pulsieren vor Menschen. Die vielen Buchhandlungen, Bierlokale und In-Treffs weisen auf das studentische Publikum als Hauptträger der Stadtkultur hin. Überhaupt ist Kultur in Marburg weit mehr, als sich Wochenende für Wochenende im Erwin-Piscator-Haus am Lahnufer abspielt, in der Marburger Stadthalle, so gewöhnlich wie wohl alle mittelstädtischen Stadthallen, wo die üblichen Tourneeproduktionen wie etwa Peter Steiners Theaterstadl, ein Flamenco-Ensemble, das Symphonieorchester der National-Philharmonischen Gesellschaft der Ukraine und die Kleine Oper Bad Homburg mit "Max und Moritz" gastieren. Die wirkliche Szene hat sich längst in den Lokalen und Beiseln der Altstadt verschanzt.

Kein Zweifel, das Marburg-Virus hat mich erwischt. Zum Glück ist das heute ein anderes Virus als dasjenige, das Ende der sechziger Jahre aus Forschungslabors der Behring-Werke entkommen ist und sieben Marburger getötet hat.

Manfred Wieninger

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