Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #70

Underground Think Tank

Er ist mit Crispin Glover befreundet, pfeift auf Boyd Rice und macht niemals Filme über Menschen, die er verachtet. Rokko wollte Genaueres wissen und traf Larry Wessel zum Gespräch.    27.05.2014

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.

 

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Larry Wessel ist ein Underground-Filmemacher aus Kalifornien, der seit jeher auf randseitigen Klippen spazierengeht. Vor seine Linse holt er Gestalten wie Boyd Rice, Adam Parfrey, The Mentors, Jesus-Freaks, Toreros und Transvestiten. Diesmal stellt Team Rokko ihn ins Rampenlicht: Lesen Sie hier den ersten Teil.

 

 

Boiled Shice?

 

Wessels bisher letzte und ambitionierteste Filmarbeit trägt den Titel "Iconoclast" und stellt das ewige Terrorkind Boyd Rice in den Mittelpunkt. Zu dieser Zusammenarbeit kam es, da Rice von Wessels Filmarbeiten begeistert war und ihn fragte, ob er eine Doku über ihn machen wollte, worüber Wessel nicht lange nachdachte. Sechs Jahre arbeitete er daran, 200 Stunden Filmmaterial galt es zu schneiden. Herausgekommen ist ein vierstündiger Marathon von Rices Aufwachsen in Lemon Grove, seiner Tiki-Obsession sowie seinen Bekanntschaften wie Cpt. Beefheart, Charlie Manson, Adam Parfrey, Anton LaVey und Tiny Tim. Was Wessel an Rice gefällt, ist sein kontroverses Wirken: daß er die eine Hälfte zum Lachen bringt - und die andere, wahrscheinlich größere, zum Schreien, zur Fassungslosigkeit und zu einem Haß, den sie dann ihm vorwerfen.

Was sich mit der Fertigstellung von "Iconoclast" geändert hat? Rice und Wessel reden nicht mehr miteinander: Rice stellte Wessel plötzlich das Ultimatum, entweder er würde sein Freund bleiben oder der von Giddle Partridge - beides ginge sich nicht aus. Daraufhin richtete Wessel Herrn Rice ein herzliches FUCK YOU aus, und das war´s. Giddle Partridge und Rice waren mehr als 20 Jahre beste Freunde, doch als sie sich mit einem anderen Mann verlobte, war er so gekränkt, daß er ihr die Freundschaft kündigte und auch musikalische Zusammenarbeiten einstellte, die gerade in Gang waren. Diese kindisch-gekränkte Reaktion paßt zu jenem Frauenbild, das Rice in "Iconoclast" erklärt. In einer Sequenz ist die Rede über Hawerer von Rice, die mit Frauen zusammen sind, die eigentlich ihre Töchter sein könnten - Tiny Tim, Anton LaVey und Charles Manson. Rice läßt Zitate von Mr. Tiny und Manson los, in denen es darum geht, man müsse Frauen wie Hunde trainieren und ihnen als kleiner Führer die richtige Richtung zeigen. Na wuff ... vielleicht noch das Mutterkreuz und die Wewelsburg in die Mitte der Weltkarte setzen?

Ob das Arbeiten mit Rice automatisch zum Streit führen muß? "In meinem Fall ist es auf jeden Fall so gewesen. Boyd vertraute mir und sagte mir, ich wäre sein bester Freund, das Telefon läutete so gut wie jeden Tag. Diese 'Freundschaft' währte sechs Jahre - genau bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Doku fertig war. Just am Tag nach der Red Carpet World Premiere in Quentin Tarantinos New Beverly Cinema in Hollywood hörte das Telefon plötzlich auf zu läuten." Wie er nach sechs Jahren Zusammenarbeit Rice einordnen würde? "Ein einsamer, kaltherziger, prätentiöser, hypokritischer Soziopath." Ob er je mit anderen Leuten, die vor seiner Linse standen, Probleme hatte? "Nie. Die Leute lieben es, in meinen Filmen zu sein. Ich mache nie Filme über Leute oder Dinge, die ich verachte. Das überlasse ich Skandalmachern wie Michael Moore und dem ganzen anderen Scheiß, den du im Fernsehen siehst, versehen mit dem Label 'laugh at a loser'."

 

 

V Vale und Andrea Juno, die hinter dem Verlag RE/Search stecken und schon vor langer Zeit mit Rice zusammengearbeitet haben (u. a. "Pranks!" und "Incredibly Strange Films"), haben sich auch mit ihm zerkracht. Ob Wessel je mit den beiden Kontakt hatte? "Oja! Ich hatte Vale eigentlich kontaktiert, weil ich ihn in 'Iconoclast' haben wollte, und wir sprachen am Telefon miteinander. Vale erzählte mir, daß er jene Leute, die er in seinem Leben als Freunde bezeichnen würde, an einer Hand abzählen könnte. Und am Ende unseres etwa dreistündigen Telefonats sagte er, daß Boyd tatsächlich einer von seinen fünf Freunden sei, er aber nicht an der Doku teilnehmen könne, es sei denn, Boyd würde eine schriftliche Erklärung abliefern, daß er weder Mitglied einer rassistischen Gruppe noch mit einer verbunden wäre." ... was der aber nicht tun wollte oder konnte. "Vor der 'Iconoclast'-Premiere in San Francisco im Roxy besuchten Tora und ich Vale in seinem lauschigen North-Beach-Apartment, das gleichzeitig das RE/Search-Hauptquartier ist. Wir hatten einen gemütlichen Plausch, den er mit seinem Kassettenrekorder aufnahm." Wessel setzt nach einer kurzen Pause grinsend fort: "Und er war nicht unerfreut über meinen Streit mit Boyd."

Seine Freundschaft zu Crispin Glover allerdings ist eine konstante: Wessel bewundert dessen schauspielerische Leistungen - besonders aber jene als Regisseur. "Ich stehe sogar in den Credits seines surrealistischen Meisterwerks 'What Is It?', das für mich in einer Reihe mit 'Un Chien Andalou', 'Freaks' und 'Auch Zwerge haben klein angefangen' steht. Er hat mir deswegen gedankt, weil ich in seinem Think Tank war: Er hat mich und andere Think-Tank-Mitglieder in sein wunderbares Haus in den Hügeln über Silverlake eingeladen, um jeden einzelnen Schnitt seines Glanzstücks zu besprechen. Und das ging viele Jahre so!"

Glover hat sich in den vergangenen paar Jahren einen Zweitwohnsitz in Europa aufgebaut - in einem Schlößchen unweit von Prag. Auch Wessel plant, mit seinem Herzikratzi Tora nach Schweden zu ziehen. Trotz der Verarbeitung der kalifornischen Kultur in seinen Filmen hat er seine größten Fans in Europa. "In den USA werde ich fast gänzlich ignoriert, was mir aber ziemlich egal ist. Woody Allen hat einmal angemerkt, daß der einzige kulturelle Vorteil des Lebens in Kalifornien der ist, daß man hier bei Rot rechts abbiegen darf!"

Doch noch hat er nicht mit seiner Heimat abgeschlossen. "Jede Doku erfordert Jahre und Jahre, in denen ich Material sammle. Meine erste digitale Kamera habe ich 1999 gekauft - und mit ihr habe ich bereits das Material für drei weitere gesammelt. Die eine ist über obsessive Sammler, die andere über die unglaubliche Künstlerin Beth Moore-Love, die dritte eine Fortsetzung von 'Ultramegalopolis'. In der Doku über die Sammler spielt der großartige Photograph Michael Montfort die Hauptrolle, der die letzten 15 Jahre von Charles Bukowski sein bester Freund war und eine der weltweit größten Bukowski-Sammlungen hat: rare Bücher, Gemälde, Skizzen, Manuskripte und aberhunderte faszinierende Fotos. Wenn du auf die letzte Seite eines Bukowski-Buches siehst, wirst du neun von zehn Mal ein Foto von Montfort sehen. In der Doku ist außerdem ein Interview mit Buks Witwe Linda."

 

Bukowski wurde ebenso vom kalifornischen Wahnsinn gefüttert und spuckte ihn, verdaut und in Buchstabenform gegossen, in genialischer Weise wieder aus. In Europa wäre ihm schon längst - aber mit Sicherheit erst nach seinem Tod - ein Denkmal gesetzt worden, das er selbst verachtet hätte. Doch in Los Angeles, der schnellebigen Glitzerstadt, hat man keine Zeit für so etwas, nicht wahr? "Glaub es oder nicht, aber die Stadt Los Angeles hat gerade ihre erste historische Sehenswürdigkeit deklariert: Charles Bukowskis Hollywood-Apartment in der DeLongpre Avenue, wo er 'Post Office' geschrieben hat!"

Los Angeles wird alt. Es ist Zeit, zu gehen ...

 

 

Epilog: Nachdem dieser Artikel fertig verfaßt worden war, tauchten harte Gerüchte um Tora und Larry Wessel auf: sie behauptete, er hätte sie krankenhausreif geprügelt; er sagte aus, sie habe seine 83jährige Mutter verdroschen. Die Szene spaltete sich auf. Tora+Larry gibt es nicht mehr: Tora ODER Larry hieß die Entscheidungsfrage. Wer jetzt wirklich der Beidl/die Muschi ist von den beiden, bleibt derweil offen. Tora war zu keinem Statement bereit, Larry hingegen meinte: "Unfortunately for legal reasons I am not allowed to say anything right now. However, I might suggest that at the end of the current interview you make a dramatic announcement about 'Larry Wessel Interview Part Two: Divorce American Style'.

Once my divorce is finalized I am going to want to discuss all the gory details with you. Until then, I must remain silent."

Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #11

(erschienen im Juli 2012)


Text & Interview: Rokko

Fotos: © Wesselmania

Links:

Watchlist


Alle Filme von Larry Wessel können bestellt werden unter www.wesselmania.net

 

"Taurobolium" (1994): Stierkämpfe in Tijuana

"Sugar & Spice" (1995): Transvestiten, Drag-Queens und Transsexuelle

"Carney Talk" (1995): Robert Williams erzählt über Sideshow Freaks, Benzedrin und seltsame Einlagen mit abgeranzten Huren.

"Ultramegalopolis" (1995): Zweieinhalbstunden-Marathon über den krankhaft geilen Moloch Los Angeles

"Tattoo Deluxe” (1995): Tatü Tata Tattoo!

"Sex, Death & The Hollywood Mystique” (1999): James Dean, Charles Manson, Horrorwood, Karloffornia

"Song Demo for a Hellen Keller World" (1999): über die Erektion von Blinden

"Hollywood Head Bash" (2008): 1991 gedrehtes, aber erst 2008 veröffentlichtes Material über The Mentors!

"Iconoclast" (2011): über Boyd Rice, Scherzkeks und Finstermann vor dem Herrn

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