aus: Rokko´s Adventures #11
(erschienen im Juli 2012)
Text & Interview: Rokko
Fotos: © Wesselmania
Larry Wessel ist ein Underground-Filmemacher aus Kalifornien, der seit jeher auf randseitigen Klippen spazierengeht. Vor seine Linse holt er Gestalten wie Boyd Rice, Adam Parfrey, The Mentors, Jesus-Freaks, Toreros und Transvestiten. Diesmal stellt Team Rokko ihn ins Rampenlicht. 15.05.2014
Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.
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Larry Wessel ist ein fülliger Kerl mit ausgeprägtem Humor. Einen Mai Tai in einer Tiki-Bar läßt der Mann mit den häufig wechselnden und auffallenden Brillen nicht lange stehen. Kalifornien und seine Kultur bzw. deren Plastiknachbauten haben den 1957er-Jahrgang geformt - und er hält im Gegenzug seine Kamera darauf. Laut lachend zuckt Wessel mit den Schultern: "Wie schon Bukowski gesagt hat: 'I was born into this.' "
Die Tiki Culture - jene kitschige, teils rassistische, aber auch extrem coole und abgefahrene Version dessen, wie sich die Amerikaner ab Ende der 1940er die Musik, Bars und Frauen der großräumigen Inselgruppe Polynesien zur Erholung vorstellten - machte bereits vor seinen Trinkgewohnheiten Eindruck auf Klein-Larry, und zwar in Form von Exotica-Musik. Ganz besonders waren es aber Herb Alpert & The Tijuana Brass, die Eindruck bei ihm schindeten: "Das war für mich der Sound der Sechziger! Als Kind wollte ich unbedingt wie Herb Alpert sein - und griff deswegen zur Trompete. In der Schulband und im Schulorchester war ich immer in der ersten Reihe. Einmal habe ich vor einem vollen Saal das Trompetensolo von 'By The Time I Get To Phoenix' gespielt - und dafür Standing Ovations erhalten. Aber 1968 ist mir etwas Seltsames passiert. Ich war elf und bekam meine ersten Augengläser verschrieben. Plötzlich begann ich, die Welt um mich herum zum ersten Mal wirklich zu sehen! Auf einmal schienen alle Details um mich herum um meine Aufmerksamkeit zu wetteifern! Kieselsteine! Ameisen! Bäume! Ich bemerkte, daß alle Blätter Adern hatten, die mich an die in meinem Handgelenk erinnerten! Bald nach der Entdeckung meiner Sehkraft sparte ich das bißchen Geld zusammen, das ich als Zeitungsausträger verdiente, um mir meine erste Super-8-Kamera zu kaufen. Daraufhin setzte ich die Trompete ab - für immer."
Seine Eltern erwiesen sich in mindestens zwei Aspekten von nachhaltiger Prägung: Film galt im Hause Wessel als Religion, und Mama und Papa waren wahrhafte Kino-Freaks. Sohn Larry wurde nach des Vaters Lieblingsschauspieler Laurence Olivier benannt. Der zweite Punkt: das Saufen. Das war etwas, das sowohl Vater als auch Großvater für eine große Tugend hielten und zelebrierten. Letzterer bleute seinem Enkel ein, daß er niemandem vertrauen sollte, der kein Trinker wäre. Darauf hat sich Larry stets verlassen - und bis zum heutigen Tag versucht er konsequent, sich auch selbst zu vertrauen.
Filmisch inspirierend war für ihn der kontroverse Dokumentarfilm "Titicut Follies" (1967). Darin wird - kommentarlos - der Alltag im Bridgewater State Hospital gezeigt, einer staatlichen Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Das Werk ist eine harte Nuß: Die Patienten bzw. Insassen werden wie wilde Tiere gehalten, treten dann wieder als kostümierte Musikanten auf und müssen sich teils unangenehmen Befragungen, Untersuchungen und Behandlungsmethoden fügen. Massachusetts verhinderte die Veröffentlichung des Films für ein allgemeines Publikum bis 1991. "Titicut Follies" zeigte Wessel, daß es möglich ist, ohne Erzähler und Filmmusik zu arbeiten. Das simple Abbilden von Realität kann oft viel mächtiger sein als eine artifizielle Auffettung - ein Prinzip, dem Wessel in seinem Tun weitgehend treu bleibt.
In High-School-Zeiten arbeitete er im Mad House, einem Laden für Scherzartikel und Zauberei, wo er Plastikkotze, Juckpulver und gezinkte Karten verkaufte. Später designte er Prototypen kleiner Spielzeugfigürchen, die dann in chinesischen Kinderarbeitslagern massenproduziert wurden, um später, verpackt in Happy-Meal-Tüten, wieder zurück nach Amerika verschifft zu werden. Außerdem war er eine Zeitlang Kammerjäger und verfaßte eine "How to Kill Rats"-Fibel.
1985 machte ein gemeinsamer Freund Wessel mit Raymond Pettibon bekannt. Daraufhin bat Pettibon Wessel, die Regie für seine Drehbücher "The Whole World Is Watching - Weathermen '69" und "Sir Drone" zu übernehmen. Der langen Rede kurzer Sinn: Die beiden zerkrachten sich, doch Wessel verbrachte eine lehrreiche Zeit.
Als lehrreich im negativen Sinn sollte sich sein Besuch der Filmklasse an der University of Southern California erweisen. Dort spürte er schon recht früh, daß sein kreativer Spirit unter der Institution litt. Der Filmprofessor beschuldigte Wessel aufgrund seiner Arbeiten "moralischer Probleme" - doch es sollte noch drei Jahre dauern, bis er der Bildungsstätte mit Ekel von hier nach da den Arsch zukehrte. Kein Platz für Individualität, sondern eher Gehirnwäsche Richtung Konsens und Massenkompatibilität; man kennt diesen Quatsch ja in sämtlichen Sparten, seien es die Ausbildung zum perfekt funktionierenden Musiker, Schauspieler, Schreiber ("Qualitätsjournalismus") oder Künstler. Gääääähn.
Truth is stranger than truth
Die kompromißlose Realisierung eigener Ideen funktioniert oft nicht in vorgefertigten Rastern, weswegen man sich seine eigenen Strukturen schaffen muß, in Wessels Fall seine eigene Produktionsfirma: Wesselmania. Über die werden sämtliche seiner Filme veröffentlicht und vertrieben. Der erste davon war "Taurobolium" aus dem Jahr 1994. Dafür fuhr er zwischen 1991 und 1993 zu den sonntäglichen Stierkämpfen in die mexikanische Grenzstadt Tijuana. 216 Kämpfe hat er auf seiner Kamera festgehalten, doch auch das Umfeld, das oft noch ausschlaggebender ist als die Mitte der Arena, spart der Film nicht aus: "Taurobolium" zeigt Massenschlägereien auf der Tribüne, Kinder, die hinter den Kulissen mit den toten Tieren spielen - und wie die (also die Stiere, nicht die Kinder ...) nachher systematisch auseinandergenommen und verladen werden. Wessel dokumentiert, anstatt zu analysieren. Er muß mit den dargestellten Menschen und Meinungen nicht unbedingt d´accord gehen. Die Einordnung und Wertung liegt individuell am Rezipienten und übergibt diesem eine gewisse Verantwortung, verkauft ihn also nicht für dumm. Man wird bei Wessel vergeblich nach einem alles erklärenden und allwissenden Erzähler suchen - zum Glück. Er fühlt sich damit dem Cinéma vérité nahe, in dem eher konkrete Sachverhalte und Personen gezeigt werden, als diese gleichzeitig zu erklären. Er erlaubt sich kein autoritäres Voice-over, kein moralisches Gewerte, keine Inszenesetzung der eigenen Persönlichkeit - die Kamera übernimmt das Sprechen. Wessel hört man höchstens dahinter lachen, wenn mexikanische Rauschkugeln vom Wahnsinn gepackt werden.
Das schlichte Zeigen der Matadore bewirkte bei mir im Laufe des Sehprozesses von "Taurobolium" ein gehöriges Kippen der Wahrnehmung. Die Ultra-Macho-Attitüde der Stierkämpfer verkehrte sich in ihr totales Gegenteil, und das blutige Fest wurde zum schwulen Karneval. Die Männer in ihren barock anmutenden rosa Kostümen mit Schleifen und Mascherln sowie engen Leggings, durch die es Eier und Arsch hoch zehn drückt, hopsen mit bunten Tüchern im Kreis, tanzen schrullig mit den Tieren. Sie nehmen sich dabei so ernst, daß sie unabsichtlich ihre eigene Komik zur Schau stellen, ähnlich dem Charakter Jesus aus "Big Lebowski". Wessel nickt: "So habe ich darüber noch nie nachgedacht, aber ich verstehe, was du meinst. Man könnte schnell meinen, der Stier wäre ein Schürzenjäger! Das ist eine sehr seltsame Dynamik: Sobald der Stier die Arena betritt, setzt eine komische Verwandlung ein. Der Matador nimmt die Rolle der femme fatale ein, die den Stier mit einem Capote verhöhnt. Der Stier versucht den Matador zu penetrieren - vergeblich, wenn der Stierkämpfer einen glücklichen Tag hat. Sobald dann der Moment der Wahrheit kommt und das Schwert tief ins Herz des Stiers gebohrt wird, gibt es allerdings keinen Zweifel, wer die Hosen anhat. Obwohl es ein paar weibliche Matadore in der Geschichte des Stierkampfs gegeben hat, kann ich mir keine maskulinere Beschäftigung vorstellen. Wie viele Männer würden sich trauen, mit einer gigantischen Bestie mit Hörnern, die dazu gezüchtet worden ist, Menschen zu töten, in eine Arena zu steigen? Ich nicht!" lacht Wessel und schnippt dem Kellner für den nächsten Cocktail zu.
Schon in diesem frühen Film werden Wessel Arbeitsweisen sichtbar: lange Einstellungen als bewußter Gegenentwurf zur Videoclip-Ästhetik und den schnellen Schnitten, die das gegenwärtige Kino beherrschen, oft richtiggehend vergewaltigen. Er arbeitet praktisch ohne Budget, hat aber den Mangel an hochqualitativen Equipment und an $$$ nie als Ausrede verwendet, keine Filme zu machen, sondern eher als Chance verstanden, keine Mittelwege mit Produzenten eingehen zu müssen. "Ich liebe die Freiheit, alles selbst zu machen. Ich habe nie verstanden, warum Leute meinen, Filmemachen wäre eine gemeinschaftliche Kunstform. Für mich ist Filmemachen wie Malen oder Schreiben. Kannst du dir vorstellen, daß jemand Picasso über die Schulter sieht und ihm sagt, welche Farben er verwenden soll? Das wäre doch absurd!"
Zur Fortsetzung ...
aus: Rokko´s Adventures #11
(erschienen im Juli 2012)
Text & Interview: Rokko
Fotos: © Wesselmania
Watchlist
Alle Filme von Larry Wessel können bestellt werden unter www.wesselmania.net
"Taurobolium" (1994): Stierkämpfe in Tijuana
"Sugar & Spice" (1995): Transvestiten, Drag-Queens und Transsexuelle
"Carney Talk" (1995): Robert Williams erzählt über Sideshow-Freaks, Benzedrin und seltsame Einlagen mit abgeranzten Huren.
"Ultramegalopolis" (1995): Zweieinhalbstunden-Marathon über den krankhaft geilen Moloch Los Angeles
"Tattoo Deluxe” (1995): Tatü Tata Tattoo!
"Sex, Death & The Hollywood Mystique” (1999): James Dean, Charles Manson, Horrorwood, Karloffornia
"Song Demo for a Hellen Keller World" (1999): über die Erektion von Blinden
"Hollywood Head Bash" (2008): 1991 gedrehtes, aber erst 2008 veröffentlichtes Material über The Mentors!
"Iconoclast" (2011): über Boyd Rice, Scherzkeks und Finstermann vor dem Herrn
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