Verein Neue Landesbahn
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"Der Karl und sei Pimperlbahn ..."
... ärgert sich meine Großmutter, wenn ich bei ihr auf Besuch bin. "Für nix hat er a Zeit, im Garten hilft er mir nicht, im Haushalt auch nicht, und wenn ich ihn um den Tod schicken würd, vergißt er vor lauter Eisenbahn im Kopf auch darauf!" Martin Zellhofer über "Pufferküsser" und die Leidenschaft auf Nebenstrecken. 25.06.2010
Je nach Laune stimme ich dann in ihre Sticheleien mit ein, steuere eine Anekdote über seine Passion bei oder erwähne, daß man solche Menschen auch boshaft Pufferküsser nennt. Dann lachen Großmutter und ich über ihren Schwiegersohn: meinen Vater, einen der beiden Obmannstellvertreter des Vereins Neue Landesbahn.
Die "Landesbahner" setzen sich seit 2003 in ihrer Freizeit für diverse Eisenbahn-Projekte im Weinviertel ein - aus Idealismus, und natürlich unbezahlt. In erster Linie geht es um die Strecke zwischen Korneuburg und Ernstbrunn, die 1988 eingestellt wurde. Seit ein paar Jahren finden dort Nostalgiefahrten statt (von Mai bis Oktober, an Wochenenden und Feiertagen); die angestrebte Wiedereröffnung für den regulären Personenverkehr scheiterte bislang an den Sparplänen der ÖBB.
Doch der Verein bleibt hartnäckig, wie unter anderem die vielen Medienberichte zeigen. Nicht nur Fachzeitschriften im In- und Ausland schreiben regelmäßig über die Aktivitäten der Landesbahner; auch der ORF strahlte bereits einen Beitrag aus, und der "Standard" listete die ErlebnisWeltBahn als Ausflugstip.
Sonntagmorgen, 8 Uhr, Südbahnhof/Ostseite; strahlender Sonnenschein. Ausflügler - viele mit Fahrrad - und Eisenbahnjünger sammeln sich am Bahnsteig, Letztere an vor den Bäuchen baumelnden Fotoapparaten zu erkennen. Und an ihrer Ausdrucksweise: "5042.14, 5145.11, DT 1.07; 2050.09, 93.1420, - 93.1420? 378.120! 2143.35, 2062.33 ... "; nur dem Kundigen erschließt sich der tiefere Sinn jener Zahlenfolgen, die Experten einander im Gespräch zuwerfen. (Es handelt sich um Bezeichnungen für Lokomotiven, wie ich gelernt habe.)
Ich nehme im Speisewagen Platz, bestelle Kaffee und schlage die Zeitung auf. Nach und nach füllt sich der Zug. Rund 90 Personen wollen heute auf diesem Wege Ernstbrunn erreichen. Beeindruckend!
In weitem Bogen umrundet der Zug das Stadtgebiet. Vorbei geht es an den stolzen Türmen der ehemaligen Simmeringer Gasometer, durch die Praterauen, über die Stadlauer Brücke: ein schöner Blick über das Augebiet donauabwärts. Dann vorbei an Einkaufszentren, Industrieanlagen, durch die Sonntagmorgen-Vorstadttristesse. Über die "Italienerschleife" (im Ersten Weltkrieg von italienischen Kriegsgefangenen errichtet, wie man erfährt) schwenken wir Richtung Korneuburg ein.
Am Streckenrand fotografiert uns ein Fan.
Ein Zugbegleiter kommt - natürlich Vereinsmitglied -, verteilt Broschüren über die Ausflugsmöglichkeiten bei Ernstbrunn und beantwortet Fragen: Thomas (um die 30, im richtigen Leben Lehrer an einer Höheren Schule) schaut eigentlich nicht nach Pufferküsser aus. Warum er hier seine Freizeit verbringt? "Es ist mir ein Anliegen, Tourismus in die Region zu bringen und sie zu unterstützen. Ich schätze auch die Zeit zwischendurch, einmal in der Natur allein sein können und einfach draufloswandern, weit weg von Schule, Familie und Heim".
Schön gesagt. Abgesehen davon macht ihm Eisenbahnfahren aber einfach Spaß, gibt er zu. Karl, 60, ebenfalls Lehrer, ebenfalls Mitglied: "Ich bin grundsätzlich der Meinung, daß die Eisenbahn als Alternative zum Auto zu fördern ist". Na, sowas. Zudem treibt ihn die Nostalgie um: "Das war meine Stammstrecke in den ersten fünf Dienstjahren. Als ich in der Volksschule Großrußbach unterrichtet habe und mit dem Zug nach Weinsteig-Großrußbach gependelt bin".
Auch ich schließe mich nun der Besinnlichkeit an und gebe mich privaten Reminiszenzen hin ...
Als Kinder haben mein Bruder und ich in der Weihnachtszeit die beleuchteten Christbäume links und rechts der Strecke Richtung Stockerau gezählt. Damit wäre es heute nichts mehr; Lärmschutzwände sind undurchsichtig. Jedenfalls die hier.
Überhaupt scheint sich viel verändert zu haben. Der alte Bahnhof Jedlersdorf, ohne Unterführung (und ohne Bahnsteig): heute eine moderne Station. Die winzige Hütte des Angestellten in Bisamberg ist verschwunden.
Ja, damals - als die Fahrscheine noch nicht "Tickets" hießen. Da brauchten wir Jugendlichen aus dem Speckgürtel Wiens die Bahn: um in der Früh zur Schule und abends auf Parties fahren zu können. Sicher, auch wir waren motorisiert. Aber am Land sind Entfernungen weit, die Vespa ist langsam, ein Auto zu teuer - und mit der Schülerfreifahrtskarte konnte man ordentlich Taschengeld sparen. Oft nahmen wir auch das Rad mit, das war gratis. Heute kostet der Radtransport 2,50€ extra (fünfunddreißig Schilling!). Sogar, wenn es nur eine Station weit ist. Und auch das nur mit "Vorteilscard".
Korneuburg. Wir fahren wir an einem Billa vorbei ... Hier habe ich Sommer für Sommer gejobbt (wie sagte man damals dazu?). In der Bundesheerkaserne gegenüber habe ich lange, öde Monate verbracht. In der nächsten Ortschaft, Stetten - bis vor kurzem noch von Äckern umgeben - gibt es mittlerweile einen gigantischen Industriepark. Und wo die Ringautobahn in die Donauuferautobahn mündet, ist ein Einkaufszentrum entstanden, alles autogerecht.
Der Zug hält auch hier, in Stetten. Seitdem es da die neue "Fossilienwelt" gibt, in der das größte fossile Austernriff der Welt zu sehen ist. Heißt es wenigstens. Als Kinder haben wir hier am ehemaligen Ziegelofengelände stundenlang gegraben, und auch viel gefunden; wer heute forschen will, muß zahlen. "Schürfrechte erwerben" nennen sie es. Die Renovierung von Bahnsteig und Wartehäuschen hat jedenfalls der Verein Neue Landesbahn mitfinanziert.
Hinter Mollmannsdorf wird es hügelig. Die schlichte Schönheit der Weinviertler Landschaft entzückt die Passagiere. Und mich auch, immer wieder. Gebe ich zu. Kukuruz- und Rübenfelder säumen den Weg; kleine Wäldchen, Hecken, Sträucher und Dörfer. Wir schleichen den Mollmannsdorfer Berg aufwärts: ein beeindruckender Blick zurück auf die Korneuburger Bucht.
Am Bahnhof Wetzleinsdorf hat mein Vater mit uns Kindern oft den Stationswart besucht (am Land respektvoll "Vorstand" genannt). Wir durften im Dienstzimmer Eisenbahner spielen, Stempel ausprobieren und Formulare vollkritzeln. Der Bahnhof ist heute ein privates, eingezäuntes Wohnhaus. Ich denke angestrengt an damals, ich weiß, daß wir hier waren, aber ich erkenne die Szenerie nicht wieder.
Vor Ernstbrunn stehen zwei Männer mitten in einem Acker auf Leitern, um den Zug zu fotografieren. Das ist wahrer Enthusiasmus! Mir fällt die Geschichte von dem Eisenbahnfreund ein, der am Flohmarkt hundert alte Fahrscheine um 100,-€ kaufte, bar auf die Hand.
Um 10:07 Uhr erreichen wir pünktlich das Ziel unserer Reise. Begleiter Thomas sorgt dafür, daß niemand seinen Anschlußbus verpaßt; auch nicht die Experten, die mit ihren Kameras den Zug umtänzeln.
Dann kehrt Ruhe ein am Bahnhof Ernstbrunn.
Wir haben Zeit. Bis zur Rückfahrt sind es fast sieben Stunden.
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