Stories_Ketzerbriefe: Ne bis in idem
Man verurteilt nur zweimal
"Ne bis in idem" ("Nicht zweimal in derselben Sache") gilt als einer der Rechtsgrundsätze in westlichen Zivilisationen. Judith Funke von den "Ketzerbriefen" hat sich Gedanken darüber gemacht, was eine Aufweichung dieser Regelung bewirken könnte.
10.12.2009
In den siebziger Jahren, also im Nachklang einer besseren Zeit und erst am Beginn der Grundrechtszerstörung, sah ich eine Folge der Western-Serie "Die Leute von der Shiloh-Ranch". Es ging um einen eingewanderten Russen, der allgemein schlecht behandelt, aber von dem Helden der Serie verteidigt wurde. Dieser Russe tötete im Affekt einen seiner Mißhandler, kam vor Gericht und wurde mangels Beweisen freigesprochen.
Später kam ein anderer Verdächtiger vor Gericht, der Russe bekam ein schlechtes Gewissen, ging bei laufender Verhandlung in den Gerichtssaal und bekannte sich schuldig. Daraufhin packten alle ihre Sachen zusammen und verließen das Gebäude. Der Russe fragte völlig irritiert: "Aber jetzt muß ich doch verurteilt werden!" und bekam die Antwort: "Nein, bei uns kann niemand zweimal wegen derselben Tat vor Gericht kommen."
Dies verblüffte mich, war es doch einerseits in dem Ton gehalten: "Wir sind die Guten, im Gegensatz zu Rußland ist das hier ein Rechtsstaat und diese Regelung grundlegender Bestandteil", andererseits aber eindeutig ungerecht, da der Russe den Mord ja begangen hatte. Ich überlegte daher, was ich für richtig halten sollte, und kam zu dem Schluß, daß einerseits hier ein Mörder nicht verurteilt worden war, die Alternative aber hieße, daß niemand jemals endgültig freigesprochen wäre, sondern ein Prozeß lebenslang von vorne beginnen könnte, eine kafkaeske Vorstellung und ideale Basis für einen Unrechtsstaat.
Später erfuhr ich, daß dieser Grundsatz - ne bis in idem -, wie so viele Rechtsgrundsätze aus dem römischen Recht auf uns gekommen, in den angelsächsischen Ländern ohne Ausnahme gilt *), auch im deutschen Recht Verfassungsrang hat, aber ein Geständnis des bereits Freigesprochenen und wenige andere Einschränkungen hier doch eine Wiederaufnahme des Verfahrens erlauben.
Nun stünde in einem Rechtsstaat einer sinnvollen Einschränkung dieses Grundsatzes nichts im Wege; anders im heutigen deutschen Unrechtsstaat, in dem zum Beispiel schon bisher gelegentlich, etwa bei der zweifachen Verurteilung Peter Paul Zahls wegen derselben Anklage, die Verfassung an dieser Stelle gebrochen wurde, wo jetzt dieses "Grundrecht des Angeklagten" fallen soll. Der Köder ist der Vorschlag, bei neu aufgefundenen Beweisen, z. B. aufgrund einer DNS-Analyse, im Falle von - man ahnt es schon - Mördern und Kinderschändern, laut anderer Quelle Mord oder Völkermord (schon an diesen Reizworten und Unterschieden merkt man die versuchte Manipulation), solle der Prozeß neu aufgerollt werden können. Nach einem mittelgroßen, sehr suggestiven Bericht in der "Tageszeitung" erschien im "Spiegel" Nr. 47 vom 17. 11. 2008 unter dem Titel: "Der letzte Versuch" ein Artikel, der genau diesen Einbruch in rechtsstaatliche Prinzipien als besonders menschenfreundlich darstellt.
Der "Spiegel" präsentiert den Fall eines Witwers, dessen Frau grausam ermordet wurde; eine neue DNS-Spur belastete den damals freigesprochenen Verdächtigen jetzt wieder aufs neue. So schlimm dies für die Hinterbliebenen auch ist, es dient dem "Spiegel" nur zum Druck auf die Tränendrüse. Im Ergebnis ist laut "Spiegel" der Grundsatz ne bis in idem ein "Gesetz für Täter, nicht für Opfer", sind die Politiker, die die geforderte Rechtsänderung noch nicht vorgenommen haben, lediglich aus Parteiinteresse intrigant und desinteressiert, ist die Berufung auf Rechtsgrundsätze und Rechtsstaatlichkeit nichts als menschenverachtende Ausrede.
Nun ist es in solchen Fällen - wobei selbst der "Spiegel" zugibt, es gebe in Deutschland zur Zeit keinen weiteren, sie haben also Seltenheitswert - ja vielleicht gerade noch vertretbar, einen nachträglich überführten Täter doch noch zu bestrafen. Aber unter den heutigen Umständen ist es ebenso einleuchtend wie die Zustimmung zur Verhaftung Pinochets in London, um ihn endlich vor Gericht stellen zu können: Man freut sich, daß es einen weltbekannten Massenmörder doch noch trifft, und vergißt darüber, daß grundsätzliche rechtsstaatliche Regelungen, in diesem Fall das Prinzip staatlicher Souveränität, die es verbieten, Staatschefs fremder Länder einfach festzunehmen, damit außer Kraft gesetzt werden. (Immerhin ist Bush, der mehrere Angriffskriege begann, was nach den Maßstäben der Nürnberger Prozesse das schlimmste Verbrechen ist, nicht etwa Völkermord, noch bei keinem Staatsbesuch verhaftet worden - erst durch zweierlei Maß schmeckt die fdGO richtig echt!) Und genau wie in diesem Fall ist das der Anfang vom Ende: Ebenso, wie nach der Verhaftung Pinochets inzwischen von nationaler Souveränität auf keiner Ebene mehr die Rede sein kann und verdienstvolle Staatschefs wie Saddam Hussein nach der "Prozeß"-Farce wurmähnlicher Quislinge umgebracht werden, ist mit der Abschaffung seit Jahrhunderten der Justizwillkür Grenzen setzender Rechtsgrundsätze von der Rechtsstaatlichkeit nichts mehr übrig.
Zugegeben: Nur zu einer bürgerlichen, d. h. vormonopolistischen Gesellschaft, zur Not auch zu einem Sklavenhaltersystem als Verkehrsform der Sklavenhalter untereinander, hat der Rechtsstaat gepaßt. Insofern ist er "veraltet". Aber besser wäre, das byzantinische oder monopolistische System, zu dem ein technisiertes "1984" in der Tat besser paßt, würde von seinen unzähligen Opfern zugunsten eines anderen vernichtet, zu welchem die Rechtsstaatlichkeit keinen Gegensatz bildet.
Ketzerbriefe
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