Stories_Ketzerbriefe: Casino-Kapitalismus

Rien ne va plus

Casino-Kapitalismus! Was darf man sich darunter eigentlich genau vorstellen? Die Kollegen von den "Ketzerbriefen" haben sich in ihrer Reihe "Aus der Welt der Ideologeme" darüber Gedanken gemacht.    25.03.2009

Ein Wort geht um, und wer es gehorsam gebraucht, soll das Gefühl ha­ben, einen Superlativ zu verwenden, wo er zuvor nur über einen Posi­tiv verfügen konnte: der Casino-Kapitalismus. Kapitalismus, Raubtier­kapitalismus, Casino-Kapitalismus. (Analog zu "Im-po-sant[d]", "Im Hintern Kies", "Im Arsch Geröll".) Wahrlich, wie ein Kraftausdruck soll es klingen, sein Benutzer besonders radikal oder wenigstens respektlos-­schlau, ja geradezu eingeweiht. Dabei besagt es eigentlich nur, daß er gegen den positiven Kapitalismus gar nicht so viel habe, aber Casino-Kapitalismus, nein, der geht nun doch zu weit. Und jetzt wissend schmunzeln!

Kapitalismus ist die chronische Aneignung der Ergebnisse unbezahl­ter Arbeit als Mehrwert (der freilich vor seiner Aneignung erst noch auf dem Markt realisiert werden muß, darin steckt das sogenannte Unter­nehmerrisiko), nicht etwa als Sklaven- oder Fronarbeit. Richtig dolle rechtfertigen läßt sich das Verfahren nicht (das zu seiner Durchführung immerhin der strukturellen Erpressung bedarf, weswegen es im Mittel­alter, d. h. vor großer Streuung und weiter Erzwingung ernster Eigen­tumslosigkeit auch noch nicht funktionierte), aber es soll als gesell­schaftliche Grundstruktur einen Sack voller Vorteile hervorbringen, so lehrten es Adam Smith sowie unsere Schulbücher und Schullehrer, dar­unter eine hohe Qualität der Waren in Tateinheit mit niedrigen Preisen (dies beides als segensreiche, heute aber nur noch recht leise gepriesene Folgen der "freien Konkurrenz"), und laut neueren Nummern des STERN sogar der "Demokratie". Dafür sollte man ein bißchen massen­hafte Erpressung eigentlich in Kauf nehmen können. Nur "Casino-Kapitalismus" sollte es nicht werden, sonst hebt sich der STERN-&-Co.-Kapitalismus-eigene Zeigefinger, und es droht ein Rückschlag bei all den schönen Dingen, die uns der eigentliche, noch nicht superlativisti­sche Kapitalismus zu schenken geruht. - Was ist dran?

Zunächst einmal ist wahr, daß der Kapitalismus die Demokratie in der Neuzeit tatsächlich hervorgebracht hat, sogar die (echten) Men­schenrechte, nämlich gegen den Feudalismus. Er bereicherte nämlich in dessen Rahmen eine neue Klasse, die Kapitaleigner eben, im Lande ih­res spektakulären ersten flächendeckenden Sieges über ihre vom Mit­telalter ererbten Gegner, in der Landessprache "Bourgeoisie" genannt, indem er ihnen die materiellen Mittel verschaffte, sich gegen die beste­hende herrschende Klasse auf die Hinterbeine zu stellen, und da diese sie nach Möglichkeit kleinzuhalten und zu behindern suchte, ohne das andererseits richtig zu können, da sonst ihr ganzes Land nach dem warnenden Beispiel Spaniens ins ökonomische und von dort aus militä­rische Hintertreffen zu geraten drohte, ließ sich die neue, täglich reicher werdende, aber von der politischen Selbstbestimmung, d. h. Gesetzge­bung ausgeschlossene Klasse das irgendwann nicht mehr gefallen und schüttelte das brüchig gewordene Stinkejoch aus finsteren Zeiten ab.

Dazu brauchte sie allerdings das "Volk", d. h. die Massen weniger der von ihnen selber ausgenutzten Arbeiter als der von ihren Rivalen ge­quälten Bauern, die auch viel zahlreicher waren, und so kam tatsäch­lich die "Volksherrschaft" in die Welt, erstmals seit den griechischen Stadtstaaten, bevor die Yankees, pardon, Römer diese endgültig platt­gemacht und entmündigt hatten, und deshalb trug die neue Staatsform auch bald einen griechischen Namen. (Rousseaus programmatischer "Gesellschaftsvertrag" beschreibt auf den meisten seiner Seiten nichts anderes als altgriechische Verfassungen halbdemokratischer Stadtstaa­ten - als praktische Alternativen zur Königsherrschaft.) Insofern läßt sich sagen, daß die "Demokratie" dadurch entstand, daß die kapitalisti­sche Produktionsweise den klapprigen Rahmen der feudalen gesprengt hatte, und insofern scheinen Kapitalismus und Demokratie wirklich zusammenzugehören. (Das Casino lassen wir noch außer acht.)

Allerdings hielt die neue Ehe (zwischen Kapitalismus und Demokratie) nicht lange, ganze drei Jahre nur. Dann kam das Zensuswahlrecht (in Eng­land hatte es sowie immer nur dieses und keine Demokratie gegeben), und der demos war von seinen eigenen Angelegenheiten wieder ausge­schlossen, kratein taten andere wie zuvor auch, und so sollte es noch lange bleiben. Zwar war das beim Sozialismus, nämlich nach der Russi­schen Revolution, ganz ähnlich gewesen, aber beim bürgerlichen bzw. kapitalistischen System saß das viel tiefer, denn so spektakulär die Er­mordung aller jener Einwohner der Sowjetunion auch verlief, die auch nur durch ihre bloße Existenz an die freiheitlichen Ziele erinnerten, zu de­ren Erreichung die Russische Revolution überhaupt unternommen wor­den war, so war doch der Abbruch einer Entwicklung der Sowjetunion hin zu massenhafter Selbstregierungsfähigkeit und schließlich massenhaf­ter Selbstregierung mindestens mehr aus äußeren statt aus strukturellen Gründen erfolgt, nämlich aus militärischer Verwüstung und danach blei­bender Bedrohung sowie ererbter ökonomischer Rückständigkeit, die alle mit dem Sozialismus/Kommunismus als solche nichts zu tun haben, wäh­rend die fast noch schnellere Entdemokratisierung des kapitalistischen Systems bzw. französischen Staates und vieler seiner Nachfolger, die das demokratische Stadium allerdings meist übersprangen, zugunsten einer Oligarchie eindeutig innere, nämlich kapitalismusimmanente Gründe hatte, die auch in wohlhabenden und militärisch nicht bedrohten Staaten wie den USA ihre innere Dynamik entfalteten.

Mochte der Kapitalismus auch einmal, und nur aus Gründen der Bündnisnotwendigkeit, die De­mokratie hervorgebracht haben, so schaffte er sie noch viel schneller wie­der ab, und nur gegen ihn und durch seine erklärten Gegner, nämlich die Arbeiterbewegung (die in England in ihrer formativen Phase sogar ganz ausdrücklich - unter dem Namen der "Chartisten" - das demokratische gegen das oligarchische Prinzip auf ihre Fahnen geschrieben hatte, ohne allerdings die Fußangeln eines bloß mittelalterlichen, lokalorientierten Wahlrechts selbst nach dessen Demokratisierung angemessen zu beden­ken), konnte sie nach einem kriegsbedingten Schwächeanfall der jetzt bürgerlichen herrschenden Klasse in vielen Ländern Europas zurücker­kämpft oder überhaupt erst erkämpft werden, freilich nicht, ohne zumin­dest in den ärmeren derselben, in denen dieser ja dennoch weiterherr­schenden, aber darin jetzt bedrohten Klasse weniger Spielraum für Zuckerbrot und Peitsche zur Verfügung stand, sofort wieder bedroht zu sein und in vielen davon dann auch wirklich wieder zugunsten kirchen­freundlicher, gegen die Arbeiterorganisationen militanter Diktaturen zu verschwinden ("Faschismus", der Europa in Gestalt des Vatikans sogar um einen neuen Staat bereicherte, der gewissermaßen wesenhaft und symbolisch antidemokratisch war). Das weitere Schicksal der gepriesenen Staatsform und ihres angeblichen ökostrukturellen Tonikums lassen wir nun vorerst auf sich beruhen.

Der Grund für die prompte Abschaffung der Demokratie bald nach dem Sieg jener Klasse, deren Macht und Reichtum auf kapitalistischen statt feudalen Aneignungsweisen beruht, zugunsten einer Oligarchie (oder deren Beibehaltung ohne demokratisches Intermezzo) mittels Zensuswahlrecht beruht natürlich auf der Erwartung, daß die Gesetze und sonstigen Gewaltäußerungen des Staates nur dann regelmäßig und primär zugunsten der Bourgeoisie ausfallen werden, eventuell mit ein paar Brocken, die je nach deren Bravheit oder nicht von deren Tisch auch noch an die diesen umlagernden Hunde abgezweigt werden, wenn besagte Gesetze auch von jener Bourgeoisie gemacht werden. Da die Zugehörigkeit zu dieser sehr einfach festzustellen ist, nämlich durch den als Steuergrundlage ermittelten Besitz oder entsprechende Einkünfte, nicht aber durch personenbezogene Sondergesetze, Ab­stammungsregeln usw., die so leicht böses Blut geben, eine anonym ermittelbare Klassenzugehörigkeit also an die Stelle individueller Stan­deszugehörigkeit getreten ist, läßt sich, nichts leichter für Quassler als das, sogar die Abschaffung (oder Verweigerung von vornherein) der staatsbürgerlichen Gleichheit mittels Wahlzensus als Akt der staatsbür­gerlichen Gleichheit hinstellen: Wer die (unterschiedlich definierte) Mindestsumme vorweisen kann, ist wahlberechtigt, wer nicht, der nicht, es lebe die Gleichheit, wenn auch nicht die Volksherrschaft! (Denn diese birgt die Gefahr, jene herzustellen.)

Und so kann man das Wahlrecht etwa ein Jahrhundert lang der Bourgeoisie reservieren (wie in England) oder der Bourgeoisie und allen, die Teilbesitz oder gehobe­nen Beruf mit der Illusion versehen, ihr im Grunde auch anzugehören und ihre Interessen zu teilen (wie in Frankreich und Deutschland) oder schließlich zwar keinen Besitz haben, aber dafür den Glauben, ihn im Falle persönlicher Eignung einmal erwerben zu können oder einen ent­sprechenden Mißerfolg aufgrund angeborener Mangelhaftigkeit auch lebenslang zu verdienen (USA). Gelang die behutsame Begrenzung der Wahlrechtsausweitung auf genau diese Kreise, so wirkte die entspre­chende Ausweitung wie ein nützliches Ventil der faktischen Diktatur der Kapitalbesitzer, eine Diktatur, die sich, wenn alles gut ging, d. h. in ihrem Sinne gewählt wurde, ganz kokett aus ihren Lehrermündern sogar "Demokratie" nennen ließ; gelang es nicht, wurde es nötig, alle be­kannten Oppositionellen und Wortführer der nicht pro-bürgerlichen Seite, normalerweise also der Arbeiterorganisationen im Kapitalismus, physisch zu ermorden oder wenigstens einzukerkern oder zu vertreiben, bis ein umgebautes Wahlrecht und massenhafter Gedächtnisver­lust einen institutionellen Neuanfang erlaubten.

Mit diesen groben Krä­chen also verlief die mindestens turbulente Ehe zwischen Herrn Kapitalismus und Frau Demokratia, die uns der STERN kürzlich wie­der als Musterehe angepriesen hatte, obwohl Herr K. doch auch schon seit 1918 eine wahre Serie an Mordversuchen an Frau D. hinter sich hat, von den chronischen und besonders gründlich geplanten zwischen den Weltkriegen ganz zu schweigen. Denn in Wirklichkeit sind Kapitalis­mus und Demokratie unversöhnliche Gegner, auch wenn keiner davon in ein Casino schleichen sollte: Es ist nun einmal gefährlich, wenn man von Erpressung leben muß, die Opfer der Erpressung darüber abstim­men zu lassen, ob sie weiterhin gestattet bleiben oder die notwendige gesellschaftliche Produktion und Verteilung anders geregelt werden soll. Der Kapitalismus, wie alle anderen Nutznießer, akzeptiert alles, was ihm paßt, unter Einschluß von Wahlergebnissen; passen sie ihm nicht, hebt er sie mit Gewalt wieder auf ("Kapitalismus/führt zum Fa­schismus" heißt der Kinder- oder Volksvers dazu), er ist mit der Demo­kratie sozusagen ohne Nudelholz und andere Prügel verheiratet, so­lange die Regel "Tails you lose, heads I win" zu seinen Gunsten ein­gehalten wird; andernfalls schmeißt er das Spielbrett um, aber natürlich, wie nett von ihm, nur andernfalls.

Um den Ehevergleich ein letztes Mal zu strapazieren: Es gibt niemals eine Prügelei zwischen Herrn K. und Frau D., solange letztere bekifft oder besoffen ist; dies droht nur, wenn sie nüchtern wird. Kann man sie durch Zückerchen besoffen machen, z. B. durch kolonialen Rassismus, der Hoffnung macht, selber in die Herrenschicht aufzusteigen, Plünde­rung eines Nachbarn oder verelendendes Totrüsten eines solchen, der dann als warnendes Beispiel einer falschen Gesellschaftswahl bei eige­nem nationalen, wenn auch nicht unbedingt persönlichem Wohlstand vorgeführt werden kann, dann wirkt ihre Essenz, das allgemeine Wahlrecht, auch nicht störend. Wird sie mangels Stoff jedoch nüchtern, dann schon. Man lehrt sie dann z. B., den braven Kapitalismus vom "Casino-Kapitalismus" zu unterscheiden, und zittert um den Fortbestand ihrer Besoffenheit, die das für den Kapitalismus potentiell gefährliche Wahlrecht so praktisch gemacht hatte, verwandelt aus der bösen Tret­mine ins wohltätige Ventil der chronisch vorweggenommenen Zustim­mung zu allen Regierungsakten. Dazu durfte nur der eingefahrene Zu­stand eines von der Gewohnheit wie der Ideologie geheiligten Erpres­sungssystems nicht mit den grellen Farbtupfen einer Glücksspielbude bespritzt worden sein. Angeblich ist das jetzt aber geschehen; jedenfalls beten es unsere Medien.

 

Wir wissen aus anderen Beiträgen dieses Heftes, daß das mitnichten geschehen ist; Adam Riese steht nun einmal gegen die Ami-Schutzbehauptung. (Und wenn zusätzlich zu den Immobilienkrediten, die wirklich geplatzt sind, wenngleich nur in einem Land, daneben auch noch riesige Geldmengen einfach ohne die allergeringste Sicherheit ins [Herren-]Volk gepumpt, also an berufs- und besitzlose Arbeitslose verschleudert und dann den Vasallenbanken aufs Auge gedrückt wur­den, so hat das in den ersten zwei Monaten nach dem Offenbarwerden des Bankenschwindels jedenfalls nicht in den weltweit gleichgeschalteten Medien gestanden.)

Hier soll es nur um die berechnete Idiotie des Wortes »Casino-Kapitalismus« gehen, das eine kurze Weile lang durch eben diese Medien geisterte und die eingangs beschriebenen Empfindungen und Gedanken bahnen sollte, insbesondere den sehr kindlichen, einige ganz furchtbar gierige und "verantwortungslose" »Manager«, die dann auch eine prangerähnliche STERN-Titelseite zier­ten - "Die war´ns!", sozusagen -, hätten ganz auf eigene Faust die gan­ze Welt in den finanziellen Abgrund gerissen; wer´s glaubte, durfte se­lig und ein schlaues Kerlchen werden, besonders, wenn er diese sagen­haft gehorsame Schläue auch noch mit Papageientugenden zugunsten finanzvertraglicher Wortneuschöpfungen verband. Aber die eigentlich suggerierte Ideologie lautete ja, wenn diese Burschen am Pranger bloß "verantwortungsvoll" wie offenbar bisher statt so sittlich verderbt durch die böse Gier wie geschehen gehandelt, den braven, sozusagen demokratischen Kapitalismus nicht durch einen verwerflichen Casino-Kapitalismus ersetzt hätten, dann wäre nicht nur die Welt in Ordnung geblieben, sondern auch die Demokratie könnte fortgesetzt werden.

Und da leider die meisten Medienopfer derart behämmert wurden, daß sie in wahrer Idiotenmanier "Demokratie" mit "umständlicher Justiz­formalität" gleichsetzen, die wiederum dunkel mit der Idee des Rechts­staats assoziiert wird, dann bedeutet das, daß wir jetzt infolge des Sün­denfalls jener Leute am Pranger auf Rechtsstaatsähnliches zu verzich­ten haben und künftig wieder gefoltert und videoisiert, verwanzt und eingebrochen, geplündert und verhöhnt werden darf, natürlich nur ganz einseitig, aber in jedem Fall strikt gesetzlos, und jeder, der sich an das Wort "Gesetz" oder gar "Grundrecht" erinnert, schon durch die ei­gene Zunge als Terrorist oder wenigstens Terroristenhelfer geoutet ist (es sei denn, er wäre Zeitungsfritze). Denn verdient habt Ihr´s ja, das müßt Ihr zugeben: Wart Ihr in Euren von der Erbsünde befleckten See­len nicht etwa auch ein bißchen gierig wie jene Manager am Pranger, habt Ihr nicht am Ende heimlich auch mehr Geld haben wollen, als Ihr tatsächlich habt, wollt Ihr am Ende nicht einmal freiwillig und freudig leben wie die Hunde oder die Gefangenen im Warschauer Ghetto, ob­wohl Ihr ganz genau wißt, wie umweltfreundlich das wäre?! Mitgefan­gen, mitgehangen! Euren "braven" Kapitalismus kriegt Ihr daher nie wieder, ab jetzt muß man Euch vermaledeite Bande, die partout nicht wie ein herrenloser Stadthund in Kalkutta leben will, Ihr egoistischen Gierschlünde, einfach härter als bisher anfassen!

Der "brave" Kapitalismus im Gegensatz zu demjenigen des Casi­nos, in dem die Spieler so selten gewinnen und die Bank dafür immer, war in Wirklichkeit nichts anderes als derjenige des "Schaufen­sters des Westens", d. h. einer, dem Uncle Sam persönlich einen Maul­korb angezogen hatte, nachdem er selber hatte Kreide fressen müssen, da seine Hauptaufgabe, die Zerstörung des letzten leidlich verteidi­gungsfähigen militärischen Gegners und daher die Erringung der Weltherrschaft, noch nicht gelöst war. Da dies jetzt abgeschlossen ist, soll diese nunmehr vergangene Zeit sowohl verklärt wie auch als ty­pisch für den "eigentlichen" Kapitalismus empfunden werden. Nun war sie gar nicht typisch; denn dieser Kapitalismus hatte unter dem Druck einer generationenlang opferbereit kämpfenden Arbeiter­bewegung taktische Zugeständnisse machen müssen (die sogenannten "sozialstaatlichen Elemente", z. B. veruntreuungslose Sozialversiche­rungen, Tarifverträge und staatliche Post wie Eisenbahn, aber auch an­dere Bremsen grober Volksfeindlichkeit wie etwa die Zweckbindung der Mineralölsteuer, dazu Bestechungsmittel wie Bausparförderung und Unterlassung von Zinsraub).

Dazu kam aber noch die moralisch-­propagandistische Nutzung der erst von den USA und anderen damali­gen imperialistischen Staaten durchgeführten Metzeleien und Zerstö­rungen in der Sowjetunion, die das Land der vielleicht unblutigsten Massenrevolution der Geschichte in einen wahren Blutsumpf und ein Hungergebiet verwandelten (später hat Hitler gerade noch eins drauf­gesetzt). So konnte sie nie mehr auf die Beine kommen, egal welche in­neren Mängel sie erwerben mochte oder nicht, auch das "Totrüsten" durch den materiell unendlich überlegenen Aggressor ließ ihr keine Chance, wenn auch das vorübergehende "atomare Patt" ihr eine mäßige Atempause bescherte, in der sie natürlich noch lange nicht durchat­men konnte. Und so konnten die Täter hämisch auf die Versorgungs­mängel (und sonstigen Mängel - "recognizing that no stick is too bad to beat a dog with") ihres Opfers mit dem (Lehrer-)Finger zeigen, was wir alle ja in unseren Schulen und von unseren Glotzen genugsam erleben durf­ten, während sie das relative Wohlstands- und in den für sie besten Zei­ten sogar Rechtsstaatsgefälle zwischen den von ihnen glimpflich behandelten Satellitenstaaten auf der westlichen, den schlechter gestellten auf der östlichen Seite der Blockgrenze auf deren segensreiches Wirtschafts­system einerseits, das dysfunktionale des ausgebluteten Gegners ande­rerseits zurückführten. Aber es wäre doch sehr interessant gewesen, ob ein von keinem übermächtigen Gegner bedrohter "Ostblock" nicht doch noch eines Tages "die Kurve gekratzt" hätte, ein von den USA mit der gleichen Rücksichtslosigkeit wie nach der Vernichtung desselben be­handeltes Westeuropa nicht doch auf einen nicht besonders schaufen­sterfähigen Standard abgekippt wäre, was wiederum anständige Wah­len so wenig rätlich gemacht hätte wie z. B. im damaligen Chile oder dem heutigen Irak.

Eines ist sicher: Die verelendenden Europäer sollen sich mit Wehmut an ihr angeblich goldenes Zeitalter unter dem wohlwollenden Stiefel Uncle Sams erinnern, der ihre ewigen inneren Kriege beendete und ih­nen endlich den "richtigen" Kapitalismus bescherte, der nur in der Zeit seiner Existenz nicht so hatte heißen dürfen (sondern vielmehr "soziale Marktwirtschaft"), dessen Vorzüge wir aber heute erst ernsthaft erken­nen, wenn uns unser aller Gier und Sünde unwiderruflich aus diesem Pa­radies vertrieben hat, weswegen es uns auch wieder erlaubt ist, ihn, den verkannten, mit seinem wahren Namen zu nennen. Aber leider hat er sich zum Casino begeben und dadurch sein Seelenheil verspielt, weswegen wir z. B., wenn wir festgenommen und mißhandelt werden sollten, im Gegensatz zur goldenen Vergangenheit mit jeder Dienstaufsichtsbeschwerde nur ein müdes Arschrunzeln ernten können. Aber so was bringt die Erbsünde nun einmal mit sich.

In Wirklichkeit hat sich der Kapitalismus in der Tat verändert; er exi­stiert nämlich nicht mehr. Das "Casino", d. h. der freie Markt, war so­wieso nur vorgetäuscht, in Wahrheit haben die USA unter dem Deckmantel einer erzwungenen "Risikoversicherung" nur ihre reicheren Va­sallen weltweit geplündert; hat man die ganze Stadt zum Anzünden bestimmt (d. h. "Kredite" gezielt ohne Rückzahlungsmöglichkeit verstreut), dann ist der Brandschaden eben kein statistisches "Risiko" mehr, und jede Brandschutzversicherung kann nicht anders als pleite gehen. Nun, das war ja auch der ganze Sinn des "Casino"-Theaters, er ist er­füllt, und der Vorgang kann andernorts genauer nachgelesen werden. Aber das Gefühl, am Kapitalismus habe sich etwas geändert, ist keines­wegs falsch; nur geschah das mitnichten durch Geldspekulationen, die dem kleinen Max, weil er sie höchstens halb verstehen kann, immer ein so wohliges Gruseln bescheren (denn sie fördern die Phantasie, wenn er bloß schlau genug wäre, könnte er das auch), sondern durch Kapital­konzentration, d. h. die Errichtung von Weltmonopolen (deren lückenlo­ser Überführung in alleinigen US-Besitz gegenwärtig durch Erpressung auf letztlich atomarem Hintergrund nachgeholfen wird).

Monopol und Markt aber schließen sich aus - entweder, oder. Der Kapitalismus aber setzt den Markt voraus, denn nur auf dessen Grundlage kann das "Wertgesetz" zum Zuge kommen, das besagt, daß alle Waren durchschnittlich zu ihrem Wert verkauft werden; das absolute Monopol aber verkauft nicht mehr, es verteilt nur. (So verkauft auch eine KZ-Leitung keine Nahrungsmittel an die Häftlinge, selbst wenn diese für den Empfang irgendwelche Blechmarken abgeben müssen; diese Mar­ken dienen der Konsumkontrolle der Gefangenen, nicht der Bezahlung der an sie ausgegebenen Güter. Mit unserem plastic money wird es bald ähnlich sein, die Regierungen unter der Kontrolle jener Monopole sehen richtiges Geld daher auch mit immer scheeleren Augen an. Auch ver­kaufen die Häftlinge nicht ihre Arbeitskraft an die Lagerleitung, son­dern werden durch deren Monopol zum Gehorsam und daher auch, wenn gewünscht, zur Arbeit gezwungen; Gewalt ist nach einer Weile nur noch nötig, um sie an Flucht, Verzweiflungsakten und Kommunika­tion untereinander zu hindern.) Sicher kann es auch ein Monopol auf nur eine oder wenige Waren geben, also ein relatives, das somit anson­sten von einem Markt umgeben ist; in diesem Fall bieten deren Besitzer ihre Güter durchaus zum Kauf, also als echte Waren an, aber sie brechen bekanntlich das Wertgesetz, d. h. können gewohnheitsmäßig über Wert verkaufen. Im Falle des absoluten Monopols (wie in einem Gefangenen­lager oder einer geschlossenen Feudalwirtschaft) verlieren die Güter in Monopolhand jedoch ihren Warencharakter; die pseudomarxistischen Knallköpfe müßten sich freuen (und tun dies wahrscheinlich auch, weil sie in die Wachmannschaften aufgenommen werden), aber das Ergebnis ist in Wirklichkeit extrem unerfreulich, was die törichte Nostalgie zu "richtig" oder "anständig" kapitalistischen Zuständen erklären mag, welche unser Ideologem anzugeigen versucht.

Aber sie ist töricht; denn da der Kapitalismus nicht durch den Kom­munismus ersetzt wurde, hat er den Monopolismus hervorgebracht und sich selber durch diesen ersetzt. Wohl bekomm´s!

Ketzerbriefe

aus: Ketzerbriefe Nr. 151

Bund gegen Anpassung/Ahriman-Verlag


(erschienen Februar/März 2009)

 

Text: Fritz Erik Hoevels

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