Stories_Karfreitag in Calanda
Trommeln und Seelen
EVOLVER-Gastautor Gerhard Hallstatt durfte dem Osterritual im spanischen Calanda beiwohnen und erlebte das berühmte Trommelritual live. Wir veröffentlichen seine Tagebuchaufzeichnungen.
30.03.2018
I
UM MITTERNACHT NÄHERTE ich mich der plaza. Die schmalen, mittelalterlichen Gassen des kleinen Dorfes waren eigentümlich leer, als habe eine geheimnisvolle Krankheit alles Leben an sich gerissen. Ich dachte an Antonin Artauds Text Das Theater und die Pest. Allerdings erfüllte ein dämonisches Dröhnen die schwarze Luft, das mit jedem Schritt lauter wurde, und unter meinen Füßen war der Boden unruhig, als kämpften unter der Erdkruste surrealistische Maschinen und Mächte gegeneinander, deus ex machina und diabolus ex machina. Kämpften sie um die Seelen der katholischen Siedlung? Würden sie auch um meine Seele kämpfen?
Ich war mehrere Tage und Nächte unterwegs gewesen, zuerst mit dem Zug nach Barcelona, dann hatte ich mich per Autostop durch die schönen und kargen Landschaften Kataloniens und Aragoniens hierher durchgeschlagen. Ich glaubte zu wissen, was mich erwartete in dieser Ortschaft, die etwa 150 Kilometer südwestlich von Barcelona lag. Und doch erfüllte mich eine zitternde Ungewißheit. Meine Unruhe stieg, je näher ich der Dorfmitte kam.
"Schlaf ist Schale, wirf sie fort!" (Johann Wolfgang Goethe: Faust. Faust II. Erster Akt 214)
DANN BOG ICH um eine Ecke und stand plötzlich auf dem Hauptplatz. Auf ihm drängten sich im bernsteinfarbenen Licht von Laternen hunderte Menschen in purpurnen Kutten. Mit Schlegeln und ledernen Keulen schlugen sie auf Trommeln und Pauken ein. Die größte Pauke hatte fast zwei Meter Durchmesser. Düstere, schicksalshafte Rhythmen wurden in diesem nächtlichen Meer aus Trommlern aufgepeitscht, sie brandeten auf, marschierten in schweren Schallwellen miteinander und gegeneinander. Der Lärmzauber war gewaltig, die Wellengänge der Klanglandschaft machten vor nichts halt, donnerten nicht nur um mich, sondern bald auch in mir, verschmolzen mit meinem Puls und Herzschlag, mit dem dunkelroten spanischen Wein in meinem Blut.
Eine eigentümliche katholische Trunkenheit lag in diesem Brauchtum. Ein ganzes Dorf war hellwach, man hatte die Nacht zum Tag gemacht und Schlaf zu einem Fremdwort, um surrealistische Bühne zu sein für ein Theater der Grausamkeit namens semana santa. Und auch ich selbst war Bühne geworden, das Spiel fand auch in mir statt. Die Trommler hypnotisierten sich gegenseitig. Ich erlebte die wuchtigen Karfreitagstrommeln von Calanda: Seit zwölf Stunden trommelten die Dorfbewohner. Jetzt war es kurz nach Mitternacht. Zu Ende würde dieses rhythmische Ritual nach weiteren zwölf Stunden sein - am Karsamstag zur Mittagszeit.
II
AUCH DIE Steinmauern der Kirche bebten. Sie wirkte wie eine Nußschale auf den Wellenbergen eines stürmischen, schlaflosen Meeres. In ihrem Inneren brannten viele Kerzen. Hier waren keine Trommler, aber wie im Bauch eines steinernen Schiffes konnte ich sie dumpf hören. Meine Hände nahmen sie deutlicher wahr als die Ohren; deutlich spürte ich die Schwingungen durch das dicke Mauerwerk. Die Kirche tanzte. Wieviele Karfreitage dieser Intensität hatte sie schon überstanden, ohne Schaden zu nehmen? Die Kirchenglocken waren machtlos gegen den mitternächtlichen Lärmzauber. Eine gewaltige archaische Kraft lag in dieser unglaublichen Menge von Trommlern, und der vorchristliche, heidnische Kern war wie in den Mysterienkulturen der Antike imstande, Visionen aus der Tiefe des Unbewußten hervorzuzaubern. Nicht nur der Schlaf war Schale, auch das Christentum, der Alltag: Das Dorf warf alles fort in dieser fiesta, in dieser einen Nacht. Der Karfreitagszauber schlug mich in seinen Bann.
WIE IN DER Volkskunde vieler Länder schieden sich auch hier die Geister an der Frage nach dem Ursprung dieses Brauches: Ein Teil der Forscher war überzeugt, die Kirche habe diese archaische Tradition aus der iberischen Vorgeschichte einfach übernommen. Da es Aufzeichnungen allerdings erst aus der Neuzeit gibt, waren andere Forscher der Auffassung, die Dorfbewohner hätten sich das Trommelspiel erst im 17. Jahrhundert von hier stationierten militärischen Garnisonen angeeignet. Auch der surrealistische Filmemacher Luis Buñuel, der in Calanda zur Welt gekommen war, schrieb in seinen Memoiren Mi ultimo respiro, dieses Brauchtum sei erst 200 Jahre alt. In seiner Kindheit wären nur 200 bis 300 Trommler an dem Ritual beteiligt gewesen. Buñuel kehrte immer wieder in der Osterwoche in sein Heimatdorf zurück, um diesen magischen Karfreitag zu erleben: Jedes Jahr stieg die Zahl der Teilnehmer - und wohl auch die Zahl der feinen Risse im Mauerwerk der Kirche. Das archaische Ritual würde das Kirchenschiff nach und nach so sehr dem Untergang weihen, bis es in einer Nacht der semana santa endgültig im Meer der Trommler versank. Es schien, als hätten die Gläubigen die vielen Kerzen für die altersschwache Kirche selbst angezündet.
DAS TROMMELN HATTE am Karfreitag zu Mittag begonnen. Verstummen würde es 24 Stunden später. Dieser Zeitraum symbolisierte la drama de la cruz, das Drama des Kreuzes. Ein Jahr lange hatte sich das Dorf auf die semana santa und diese eine Nacht vorbereitet. Drahtige alte Männer, die wohl schon in der Zwischenkriegszeit an dieser Feier teilgenommen hatten, vielleicht schon mit dem unbekannten Luis Buñuel getrommelt hatten, schlugen auf ihre Pauken. Sie wurden immer jugendlicher, Trunkenheit mit Wein und ohne Wein löste alle Jahresringe aus ihren Gesichtern. Plötzlich wirkten sie wieder wie die kleinen Buben, die vor vielen Jahren voller Begeisterung auf den Trommeln und Pauken ihrer großen Brüder spielen durften.
Der Karfreitagszauber hatte etwas Surreales. Buñuel, der wie die anderen Einheimischen die rituellen Rhythmen gleichsam mit der Muttermilch in sich aufgenommen hatte, baute in seine Filme immer wieder katholische Gleichnisse und Sinnbilder ein. Die karfreitägliche Klanglandschaft von Calanda verwendete er auch in der Filmmusik von L´Age d´Or, Nazarin und Der Würgeengel. Auch sein Sohn Jean-Louis drehte, beeindruckt von diesem Brauchtum, eine Dokumentation über die Trommeln von Calanda. Luis Buñuel hatte ganz besondere Augen, und ich erkannte dieses Eigentümliche in den Gesichtern mancher Dorfbewohner wieder. Manche hier waren offensichtlich mit dem Regisseur verwandt; es gab also mehrere Buñuels, vielleicht Söhne, Enkel, Cousins. Vielleicht waren auch einige oder alle von ihnen Künstler. Auch das steigerte die surreale Stimmung. Einen Moment lang schien es, als spiele Luis selbst in einigen Metern Entfernung auf einer uralten Trommel, vielleicht der ältesten von allen. Dann war er wieder in der Menge verschwunden. Aber das bildete ich mir wohl ein, denn er war bereits 1983 gestorben.
III
"Hier redet das Leben selbst, und der Urgrund des roten Blutes zaubert seine bunten Bilder hervor." (Ernst Jünger: Feuer und Blut 29)
MANCHE TROMMLER HATTEN bereits Blut an den Händen, da sie immer wieder unabsichtlich die Tierhäute oder die scharfen Ränder der Trommeln und Pauken streiften. An den Blutflecken der meisten Schlaginstrumente war zu erkennen, daß sie in Dutzenden von Karfreitagen dunkelrot, rostbraun, pechschwarz geworden waren. Im düsteren Licht wirkten die blutverschmierten Tierhäute wie alte Landkarten. Das junge Blut aber, santa sangre, leuchtete scharlachrot.
Das Schmerzhafte lag dem katholischen Glauben immer schon sehr am Herzen. In Spanien bluteten nicht nur die Christusfiguren aus weinroten Wundmalen, und nicht nur die Skulpturen der Jungfrau Maria weinten: Blut opferten auch die Trommler, und einigen von ihnen standen sogar Tränen in den Augen. Ich dachte an die vielen blutroten Karfreitage im Leben der Therese von Konnersreuth. Bilder von leidenschaftlichen Gläubigen kamen mir in den Sinn, die sich in lateinamerikanischen Städten ans Kreuz schlagen lassen, um eins zu werden mit ihrer Gottheit in einem schmerzensreichen Theater der Grausamkeit. In keiner Glaubenswelt war dieses wollüstige Salz in eigenen und fremden Wunden so stark wie im katholischen Kulturkreis. Und auch mich faszinierte diese finsterlohe Besessenheit - warum sonst hätte ich für diese magische Karfreitagsnacht eine Fahrt von 2.000 Kilometern in Kauf genommen? Unruhig lief zwischen den Trommlern ein schwarzer Hund mit spitzen Ohren umher, leckte einzelne Blutstropfen vom Boden. Er hob den Kopf und bellte in die Nacht. Das ließ mich an einen Schakal denken, an den ägyptischen Anubis, den Hüter der Schwelle zwischen Leben und Tod. Sein Bellen aber ging unter im lautstarken nächtlichen Meer.
AUCH ICH WOLLTE trommeln. Als ein Bub mit seiner Pauke die plaza verließ, sprach ich ihn an, und er überließ mir das Instrument für einige Zeit - ein Traum wurde wahr. Die Pauke war leichter, als ich gedacht hatte: Mit aller Kraft schlug ich den Rhythmus, der seit Stunden in meinem Blut widerhallte. Sehr bald auch waren meine Finger und Knöchel wund, aber ich bemerkte das erst, als ich die Pauke widerwillig zurückgab. Einige neue Blutstropfen trockneten jetzt langsam auf der Tierhaut; ich hatte Blut geopfert für einen Glauben, der mich faszinierte, dem ich aber nicht angehörte. Am liebsten hätte ich die ganze Nacht durchgetrommelt. Wieder war mir, als sehe ich zwischen den Trommlern Luis Buñuel, diesmal aber filmte er mit einer alten Handkamera. Auch das war wohl eine Imagination, aber ich mochte die Vorstellung, daß er auch als Toter immer noch an Filmen arbeitete, daß er sich auch als Toter immer wieder Zeit für eine Diesseitsreise in seine Heimat nahm.
IV
"Und schimmernd fiel ein Tropfen Blut in des Einsamen Wein." (Georg Trakl: Die Dichtungen 195)
IN EINER DER Bars auf der plaza, die die ganze Nacht offen waren, damit sich die trunkenen Gläubigen des drama de la cruz stärken konnten, trank ich mit der blutverschmierten Hand ein Glas Wein. Für den Mann hinter der Bar war dies in der heutigen Nacht kein ungewöhnlicher Anblick. Auf dem Glas schimmerte etwas Blut - die Blutleuchte. Ich leckte es auf und dachte an den schwarzen Hund zwischen den Trommlern. Ob auch mein Herz so funkelte wie der Wein im Glas? Ob auch mein Herz mittlerweile in diesem katholischen Rhythmus schlug? Durst hatte auch andere von der schweißtreibenden Trauerarbeit erschöpfte Burschen in die Bar getrieben. An der Mauer lehnten Trommeln in allen Größen. Ich stellte fest, daß ich nicht der einzige war, der mit blutverschmierter Hand trank: Auch auf anderen Gläsern klebte Blut, dessen Rot etwas heller war als das des Weins. Dann war der Durst gestillt, die Trommler griffen wieder zum Schlagwerk, die fiesta im Zeichen des Kreuzes ging weiter. Bis Sonnenaufgang blieb ich auf der plaza, dann schlief ich in einem Olivenhain außerhalb des Ortes, wo ich auch meine Sachen versteckt hatte - die Zimmer im Dorf waren in der semana santa ausgebucht. Das Trommeln ging kraftvoll weiter, ein harter Kern von Trommlern blieb standhaft auf dem Dorfplatz. Das Einschlafen würde mir schwerfallen. Mein Körper war müde, meine Seele aber hellwach. Schließlich aber fiel ich in einen unruhigen Schlaf.
V
ICH ERWACHTE, ALS das Trommeln schlagartig verstummte. Es war zwölf Uhr. In mir war plötzlich eine bittere Leere, eine ungewohnte und auch unheimliche Stille. Ich wünschte mir den Lärmzauber zurück, vermißte das Dröhnen, wünschte mir, das Rad der Zeit um 24 Stunden zurückdrehen zu können. Dann wäre auch heute wieder Karfreitag, und das Trommeln würde erneut beginnen. Und vielleicht würde ich dann auch morgen und übermorgen wieder am Rad der Zeit drehen. Ich hatte mich geborgen gefühlt in diesem lautstarken Traum. Jetzt aber war er zu Ende: Meine Trommeln, mein Traum, warum habt ihr mich verlassen? Buñuel hatte geschrieben, daß manche Einheimische noch Tage nach diesem rauschhaften Karfreitag merkwürdig rhythmisch sprachen.
"Morgen wird wiedergewonnen, was heut verloren ging." (Miguel de Cervantes: Don Quixote. Erster Band 106)
SELBST TAGE SPÄTER in der Wüste Murcia, hunderte Kilometer von Calanda entfernt, glaubte ich immer noch, in der Ferne das hypnotische Schlagwerk zu hören. Aus den Geräuschen des Fahrtwinds kristallisierten Rhythmen, Rituale, und meine Augen suchten den Horizont nach Gestalten mit Trommeln ab. Irgendwo mußten sie sein, jene Trommler, die unter den gleichen Entzugserscheinungen litten wie ich, die nicht bereit waren, sich einzugestehen, daß es nur einen Karfreitag gab, nur eine semana santa. Obwohl mir klar war, daß es hier in der Menschenleere keine Trommler geben konnte, hörte ich sie so deutlich, daß ich die einzelnen Schläge unterscheiden konnte. Bei jedem plötzlichen Geräusch war ich überzeugt, daß die Trommeln wieder einsetzten. Mehrmals stellte ich fest, daß ich auch in diesem Rhythmus atmete. In einer Stadt hielt mich um zwei Uhr früh eine akustische Fata Morgana so sehr zum Narren, daß ich mich auf die Suche nach den geheimnisvollen Trommlern machte, denen es so ging wie mir. Aber ich war nicht mehr in Calanda, und Karfreitag würde erst in einem Jahr wieder sein. Ich aber suchte und suchte, bis ich mich verirrte. Dann erst gestand mir ein, daß ich einer Sinnestäuschung erlegen war. Eine Sucht hatte ihren Anfang genommen.
Gerhard Hallstatt
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