Stories_Jonathan Gash - Lovejoy
Welcome to the Antiques Crime-Show
Lange bevor sich Ian McShane als Saloon-Besitzer in der HBO-Serie "Deadwood" ins Bewußtsein deutschsprachiger Couch-Potatoes spielte, verkörperte er bereits in einer der erfolgreichsten englischen TV-Serien aller Zeiten Jonathans Gashs Lovejoy. Martin Compart widmet sich unserem Lieblings-Antiquitätenhändler und seinem Schöpfer.
04.03.2013
Als 1977 mit The Judas Pair ("Lovejoys Duell") der erste Lovejoy-Roman von Jonathan Gash in England veröffentlicht wurde, ahnten sicherlich die wenigsten Kritiker und Leser, daß hier eine der erfolgreichsten Serienfiguren der Popkultur ihr Debüt gab.
Zwar konnte man sofort erkennen, welche Potenz der liebenswerte Mistkerl hat, aber würde der bisher unbekannte Autor Jonathan Gash auch das Stehvermögen haben, auf diesem hohen Niveau regelmäßig weitere Abenteuer vorzulegen?
Zu unser aller Glück gelang das Mr. Gash bis 2008 mit 23 Fortsetzungen (wobei nicht verschwiegen werden soll, daß auch die Lovejoy-Serie Höhen und Tiefen mit besseren und schlechteren Romanen durchläuft).
Das Lovejoys erstes Auftreten gleich den "John Creasey Award" der Crime Writers Association als bester Erstling des Jahres erhielt, war nur noch eine Formsache. In den nächsten Jahren erschienen in immer höheren Auflagen weitere Romane und machten aus dem Antiquitätenhändler einen der populärsten fiktionalen Helden der angelsächsischen Literatur. Vielleicht nicht in derselben Liga wie Sherlock Holmes, James Bond, Phil Marlowe, Tarzan oder Flashman - aber sein Ruhm wächst ja noch.
Nachdem er die Länder des Commonwealth erobert hat, ist sein Erfolg in den die USA, wo die TV-Serie äußerst erfolgreich im Kabel ausgestrahlt wurde und die Romane im renommierten Verlag Mysterious Press erscheinen, eher begrenzt. Die bisherigen Versuche, die Serie auch bei uns zu etablieren, sind leider gescheitert: Scherz veröffentlichte den ersten Lovejoy in der damaligen Krimireihe (ohne weitere folgen zu lassen), und ich die ersten drei Romane in der DuMont-Noir-Reihe. Vielleicht ist die Mischung aus hartem Thriller, höherem Bildungsniveau und Zynismus nichts für das deutsche Publikum, das sich eher an flachen Regionalkrimis oder tumben Serienkiller-Blutorgien erfreut. Gash ist eher etwas für Leser mit einem gewissen Anspruch (und die lesen wahrscheinlich sowieso nur die Originale).
Lovejoy war eine neue Form des Antihelden, der einiges den angry young men der 50er Jahre verdankt. Ein Frauenheld, immer etwas schmuddelig, skrupellos und tierlieb. Ein Ich-Erzähler, der den Leser von der ersten Zeile an in seinen Bann schlägt und nicht mehr losläßt. Auch wenn die Plots des Autors Gash manchmal ziemlich schräg sind und gelegentlich auch schon mal weniger originell, legt man die Romane befriedigt aus der Hand. Lletztlich liest man Lovejoys haarsträubende Abenteuer ja vor allem wegen des Tons und der Stimme des Ich-Erzählers, der einen mit Witz und Sarkasmus durch die Seiten jagt und dem es trotzdem gelingt, atemlose Thrillerspannung aufzubauen. Es gibt zwar immer deduktive Elemente in den Romanen, aber sie sind doch eher dem Thriller als dem Detektivroman zuzuordnen. Gash ist großartig, wenn er Lovejoy durch physische Ausnahmesituationen jagt.
Jonathan Gash ist ein Pseudonym des britischen Autors John Grant (ein weiteres ist Graham Gaunt, unter dem er 1981 den Thriller "The Incomer" veröffentlichte). Er wurde am 30.September 1933 in Bolton, Lancashire geboren, studierte in London Medizin und absolvierte seinen Wehrdienst im Sanitätskorps, das er im Rang eines Majors verließ. Als Pathologe arbeitete er unter anderem von 1962 bis 1965 in Hannover und Berlin. Anschließend führte ihn ein Lehrauftrag an die Universität von Hongkong. Grant war von 1970 bis 1988 Mitglied der Royal Society of Medicine und ab 1988 privater Spezialist für Infektions- und Tropenkrankheiten. 1955 heiratete er Pamela Richard, mit der er drei Töchter hat, die ihn bisher zum vierfachen Großvater machten. Seinen ersten schriftstellerischen Erfolg feierte er am Theater: 1976 wurde in Chester, Cheshire sein Stück "Terminus" aufgeführt. Ein Jahr später betrat sein Held Lovejoy die Bühne in seinem ersten Roman: Lovejoys Duell ("The Judas Pair").
Nach seiner Rückkehr aus Hongkong hatte Gash mit dem ersten Lovejoy-Roman begonnen.
"Ich dachte an eines dieser Phantome, die durch die Literatur und Kunstwelt geistern: Shakespeares verlorengegangenes Stück oder die verschwundenen Tagebücher von Dr. Johnson. Und ich dachte an diese Antiquitätenjägerlegenden wie den zufällig auf einem Dachboden entdeckten Rembrandt. Das Judas-Paar ist so ein Mythos. Man weiß, daß Durs zwölf Paare Duellpistolen angefertigt hat, aber kein dreizehntes."
Gash wählte bewußt ein Pseudonym, da Ärzte damals keine Werbung für sich machen durften und auch die Veröffentlichung eines Buches als unerlaubter Wettbewerbsvorteil zu seinem Ausschluß aus der Ärztekammer hätte führen können. Der Slangausdruck "gash", der unter den Antiquitätenhändlern des Eastend oft benutzt wurde, stammt ursprünglich der Roma-Sprache des 18. Jahrhunderts und bedeutet soviel wie "absolut wertlos".
Gashs Interesse für Antiquitäten entwickelte sich in jungen Jahren. Als Medizinstudent arbeitete er für einen Antiquitätenhändler in der Cutler Street, um sein Studium zu finanzieren. Hier traf er viele der merkwürdigen Typen, die später verschlüsselt als Charaktere in den Romanen wieder auftauchten.
"In den 50er Jahren war das Business in den Händen einiger wirklich harter Jungs. Ich nenne keine Namen, aber einige sind heute noch bekannt und berüchtigt. Wenn man für die arbeitete, mußte man schnell lernen und durfte keinen Fehler machen. Sonst bekam man Ärger - schlimmen, lebensgefährlichen Ärger."
Einige der brutalsten Szenen in den Büchern sind nicht der Phantasie des Autors entsprungen, sondern der Realität entlehnt. Er begann sich auch dafür zu interessieren, wie Kunstwerke hergestellt werden und welche handwerklichen Voraussetzungen dazu nötig sind. Grant nahm Malunterricht bei Tom Keating und entwickelte ein Talent zum Aufspüren von Antiquitäten. Sein Doppelleben faszinierte ihn:
"In der Medizin muß man einfach stur gewisse Dinge lernen. Weiß ist weiß und schwarz ist schwarz. Es gibt Gesetze, auf die man sich verlassen kann. Im Antiquitätengeschäft gilt das nur teilweise. Vieles hat mit Instinkt zu tun. Es gibt Leute, die brauchen einen Gegenstand nur anzusehen und wissen, ob er echt ist. Die machen keine Untersuchungen oder Spektralanalysen - die wahren Könige der Szene. Ich wurde oft mit einem Stück zu so einem Kerl namens Divvie geschickt. Manchmal sah er nur kurz aus den Augenwinkeln hin und schüttelte den Kopf. Das war´s dann. Er faßte es nicht mal an. Bis zu einem gewissen Grad verfüge ich ebenfalls über diese Fähigkeit. Aber sie läßt mit dem Alter nach."
Jonathan Gash nimmt seine Lovejoy-Romane nicht besonders ernst. Das heißt nicht, daß er sich nicht sehr viel Mühe mit ihnen gibt. Aber das zunehmende Interesse durch Akademiker an der Figur verwundert ihn. "Es ist reine Unterhaltung. Aber heutzutage kann man ja schon eine Doktorarbeit schreiben, wenn man herausfindet, wo G. K. Chesterton seinen Tabak gekauft hat." Da frönt ein großartiger englischer Autor dem typisch britischen understatement. Schließlich verlangt es einem Schriftsteller ein hohes Maß an Können ab, sich konsequent über Hunderte von Seiten in eine Figur wie Lovejoy zu versetzen und die Welt durch seine Augen zu betrachten, den oft kunstvollen Handlungsaufbau gar nicht berücksichtigt. Gash erreicht, was nur den wirklich großen Autoren des Genres gelingt: eine völlig individuelle, unverwechselbare Figur erzählen zu lassen, die in ihrem Kosmos absolut glaubwürdig ist. Ohne Titel und Autor zu kennen, wüßte der Gash-Leser nach wenigen Sätzen, daß er einen Lovejoy-Roman vor sich hat.
Gash ist ein instinktiver Schriftsteller: "Ich plane nichts, mache keine Outline. Ich setze mich vor ein leeres Blatt Papier und weiß nicht, was dabei rauskommen wird", sagt er. "Erst beim Schreiben überlege ich, was als nächstes passieren soll." Er schreibt seine Bücher mit dem Füllfederhalter; dann korrigiert er das Manuskript zuerst mit roter Tinte und bei einem zweiten Durchgang mit grüner. "Am Ende sieht es aus wie der Plan der Londoner U-Bahn." Anschließend geht das Manuskript zum Abtippen. "Für meine medizinische Arbeit benutze ich einen Computer, aber einen Roman könnte ich nie darauf schreiben."
In seiner spärlichen Freizeit ist er ein leidenschaftlicher Leser, der sich für alles interessiert. Auch Kriminalliteratur liest er gerne, nur keine police procedurals mehr. "Wahrscheinlich habe ich zu lange als Pathologe gearbeitet. Ich kann diese harten Sachen von Wambaugh und seinen Epigonen nicht mehr lesen. Ich liebe William Goldman und Elmore Leonard, und ich mag Colin Dexter und Ruth Rendell. Ich mag Trevanian sehr und Adam Halls Quiller-Romane. Und ich bewundere Mario Puzo, Morris West und James Hadley Chase. Mein absoluter Favorit, auch in literarischer Hinsicht, ist der leider völlig in Vergessenheit geratene P. M. Hubbard. Er schrieb nur 16 Thriller. Aber die gehören zum Allerbesten. In keinem ein überflüssiges Wort. Wer lernen will, wie man einen erstklassigen Thriller schreibt, sollte Hubbard studieren." Der Schotte Philip Maitland Hubbard (1910-1980) konnte ähnlich schweißtreibende Menschenjagden erzählen wie Gash.
Der Bestseller-Erfolg in der englischsprachigen Welt führte 1987 zu einer langlebigen Fernsehserie der BBC, in der Ian McShane bis 1994 in 90 Folgen einen gesofteten Lovejoy spielte. Selbst bei den Wiederholungen lockt die Serie in Großbritannien bis zu 14 Millionen Zuschauer an und ist damit eine der erfolgreichsten englischen TV-Serien. Es sagt viel über die deutsche Fernsehlandschaft mit ihren andauernden Wiederholungen der immer selben Serien aus, daß kein Sender diesen potentiellen Hit auf deutsche Bildschirme gebracht hat.
"Anfangs hat mir das nicht gefallen. Sie haben einiges verändert, aber das Fernsehen gehorcht anderen dramaturgischen Prinzipien. Außerdem sind sie erfolgreich. Man muß sich damit abfinden, daß eine TV-Adaption eben eine Interpretation der Bücher ist. McShane ist nicht schlecht. Der Charakter von Lovejoy ist da, auch wenn es eine harmlosere TV-Version ist."
Gerade der Erfolg in den USA führte dazu, daß Lovejoys Charakter in der TV-Serie immer mehr verwässert wurde. Während er in den Büchern immer am Rande des völligen Bankrotts agiert, war der Volvo-Fahrer der Fernsehserie nie ohne Strom und Gas und nahm als anerkannter Weinkenner an den Polospielen der Windsor-Castle-Elite teil. "Ich mag die Serie, weil sie das wunderschöne ländliche England zeigt. Ich mochte sie aus mehreren Gründen, aber keiner davon hat etwas mit den Originalgeschichten zu tun. Die Produzenten haben mich x-mal gebeten, Drehbücher zu schreiben. Aber das ist eine Horrorvorstellung. Damit will ich nichts zu tun haben."
Trotz aller berechtigten Kritik: Für mich wird Lovejoy immer das Gesicht von Ian McShane haben.
Merkwürdigerweise sind die meisten Fans des nicht gerade angenehmen Weiberhelden Lovejoy Frauen. Gashs Verlag hatte vor einigen Jahren eine Untersuchung gemacht. Demnach werden seine Bücher zu 63 Prozent von Frauen und zu 37 Prozent von Männern gekauft. "Ich dachte schon, ich bin ein Autor für Frauen. In der Woche nach der Veröffentlichung eines neuen Romans bekomme ich ungefähr 50 Briefe; sie sind immer von Frauen. Ich glaube, Frauen kriegen genau mit, daß Lovejoy kein dumpfer Macho ist, sondern ein großer Junge - wie die meisten Kerle tief in ihrem Inneren. Frauen durchschauen uns: sie wissen, wann wir bluffen und den starken Mann markieren. Immer wieder fragt man mich in Interviews nach Lovejoys Chauvinismus. Das ist ein beharrliches Mißverständnis, das offensichtlich nicht auszurotten ist. Er ist kein Chauvi, er ist das genaue Gegenteil davon. Und es sind immer Männer, die damit anfangen."
Seit einigen Jahren schreibt Gash auch noch historische Romane und eine weitere Thriller-Serie um die Protagonistin Dr. Clare Burtonall. Seine größte literarische Errungenschaft ist und bleibt jedoch der charismatische Lovejoy. Sollten Sie von diesem Herrn bis jetzt noch nichts gehört haben, besorgen Sie sich schnellstens einen der Romane und begleiten Sie ihn auf einem seiner Streifzüge. Sie werden sich köstlich amüsieren - und nebenbei noch etwas über die Antiquitäten-Branche lernen.
Martin Compart
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