Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #12
"Blind Date": John Duncan
Der "Rokko"-Autor überfiel den amerikanischen Tabubrecher in Bologna zwecks Überraschungs-Interview. Eine Postkastennachricht später plauderte er mit dem Künstler über die Vertreibung aus der Hölle, Vasektomien - und was das alles mit einem Bestattungsunternehmen in Tijuana zu tun hat.
30.01.2009
Nachdem vier Interview-Anfragen via E-Mail unbeantwortet geblieben waren, wandte ich mich einer etwas schrofferen und direkteren Art der Kommunikation zu und besorgte mir John Duncans Privatadresse. So fuhr ich mit der Kenntnis seiner genauen Position nach Bologna, um dort wiederum - es war an einem Freitagvormittag - vor einer verschlossenen Haustür zu stehen. Doch über einen kurzen Umweg gelangte ich zum Postkasten und nutzte sogleich die Chance, um dort meine Anfrage erneut und mit verstärkter Dringlichkeit zu hinterlassen. Mit der Anmerkung, am Nachmittag zurückkommen zu wollen, verließ ich John Duncans Stiegenhaus, um fünf Stunden später meine Ankündigung auch tatsächlich umzusetzen und diesmal auf ein freundliches, wenn auch skeptisches Willkommen zu stoßen.
Ich weiß, daß John Duncan sich besonders durch multimediale Installationen, experimentelle Tonaufnahmen, Performances und auch Zusammenarbeiten mit Paul McCarthy, Kim Gordon, Zeitkratzer etc. einen Namen gemacht hat und schon seit längerer Zeit ein relativ freies Dasein aufgrund seiner künstlerischen Leistungen führen kann sowie mit der Leitung zahlreicher Workshops beauftragt wird - doch all das war nicht Grund meines Besuches: Mein einziges Interesse auf dieser Reise nach Italien war das, eine detailreiche Schilderung der Aktion "Blind Date" zu hören. Ich krachte also gleich mit der Hacke ins Haus und schlich nicht leise durch die Hintertür, wollte nicht verlegen um den Brei herumreden, sondern Klartext sprechen - aber, und das ist wirklich scheußlich, John Duncan wollte über alles, nur nicht sein "Blind Date" palavern.
Ich weiß, daß man so etwas respektieren muß, und tat das auch, denn die Aktion liegt beinahe 30 Jahre zurück und ist nicht repräsentativ für jemanden, der kein Vollzeitnekrophilier ist. Außerdem sind die Motivation wie auch die Folgen dieses Ereignisses sehr schmerzhaft gewesen, haben sowohl das private Leben als auch das berufliche bis auf weiteres tatsächlich ruiniert.
Ich weiß jetzt weiters, daß eine offene und ehrliche Art oft nicht so nützlich ist, wie man meinen könnte, sondern ich etwas verlogener herumdrucksen hätte sollen und John Duncan dann ganz unschuldig in die Falle tappen lassen - aber so etwas tut man einfach nicht. In Zukunft vielleicht.
Wie auch immer, wir hatten eine gute, unverbindliche Unterhaltung bei Campari Soda und wünschten uns zum Schluß ein schönes Leben, aber Scheiße trotzdem: John Duncan ist der erste und wahrscheinlich einzige Mensch, der den Akt der Begattung einer Leiche als Kunst verkaufen wollte und das auch schaffte (wenngleich der Preis dafür sehr hoch war) - und ich komme zu spät, er redet nicht mehr darüber, der Zug ist abgefahren. Übel.
Vertreibung aus der Hölle
Nun, nach der Einleitungssuderei der eigentliche Zweck dieser Zeilen: John Duncan, geboren 1953 in Wichita, Kansas, und als Calvinist aufgezogen, was er (jemand anderem, nämlich Steve Peralta von NeoAztlan) einmal so beschrieben hat: "Leiden. Elend. Verleugnung. Von physischen Freuden, speziell von sinnlichen. Sex war ein absolutes Tabu, man durfte Sex in keiner Unterhaltung erwähnen, was natürlich keine offene Diskussion erlaubte. Fragen über Details in der Bibel waren streng verboten. Humor war verboten, während Verwandte zu Besuch waren. Alle positiven Referenzen zu Schwarzen waren verboten. Das einzige, was diese Verbotsliste antrieb, war der Wille zu arbeiten. Im speziellen harte, engagierte Arbeit, die andere für selbstverständlich hielten, nicht richtig anerkannten oder nicht verstehen konnten."
Zeitsprung in das Jahr 1976: John Duncan lebt in einem Dachboden in einer der schlechtesten Gegenden von Los Angeles, gleich um die Ecke von einem Obdachlosenheim und einem Gefängnis, arbeitet als Busfahrer - was in diesem Fall keine ungefährliche Sache ist - und erlebt die frühen Tage des Punk live mit: Er betätigt sich innerhalb eines unverbrauchten, fächerübergreifenden Klimas zwischen neuer Musik, neuer Kunst und den neuen Forderungen der noch unvereinnahmten Subkultur, das allerdings nur für kurze Zeit hält. John Duncan organisiert bald darauf seine ersten Performances "Scare", "Bus Ride", "Every Woman" und "For Women Only", die von Kritikern als aggressiv und bedrohlich wahrgenommen werden.
1980 folgt John Duncans "Blind Date": John Duncan schmiert einen im Bestattungswesen tätigen Menschen in Tijuana, damit dieser ihm eine Frauenleiche übergibt, mit welcher er Geschlechtsverkehr hat. Dieser Teil der Aktion wurde mit einer Audiokassette aufgezeichnet, woraufhin der zweite Teil folgte: John Duncan unterzieht sich einer Vasektomie, Zweck: "the last potent seed I had was spent in a cadaver." Dieser Eingriff wird auch visuell aufgezeichnet.
Die Tonaufnahme des Aktes mit der Frauenleiche wurde zweimal öffentlich abgespielt (einmal davon im "Los Angeles Center for Birth Control") und anschließend nicht nur von konservativer Seite her verteufelt, sondern spaltete auch die progressive Künstlerszene, wobei der Großteil sich ganz klar gegen John Duncan stellte, sodaß er sich gezwungen sah, Los Angeles zu verlassen und nach Tokio zu ziehen. Selbst seine bis dahin passioniertesten Förderer setzten ihn ab diesem Zeitpunkt auf ihre schwarze Liste, die Aktion wurde in keinem zuständigen Medium erwähnt oder besprochen, nur das "Wet Magazine" - keine Kunstzeitschrift, sondern ein New-Wave-Lifestyle-Magazin - widmete John Duncans "Blind Date" einen Artikel mit der Überschrift: "Sex with the Dead: Is John Duncan´s Latest Performance Art or Atrocity?"
Ein problematisches Wesen
John Duncan mußte sich daraufhin vor sich selbst und allen anderen ohne Chance rechtfertigen, wurde verstoßen und verflucht, verabscheut und - in der Tat - für den Rest seines Lebens gebrandmarkt. Seine Motivation zu dieser Aktion erklärte er selbst folgendermaßen: "Die treibende Kraft hinter 'Blind Date' war, daß ich entsetzt darüber war, daß es mir nicht gelungen war, der Frau, die ich liebte, den Beweis für meine Gefühle zu geben. Meiner strengen calvinistischen und männlichen Erziehung folgend, wollte ich mich dafür auf die widerwärtigste Art, die mir einfiel, bestrafen. Mein einziges Ziel, meine Obsession war, mir selbst soviel Leid wie nur möglich zuzufügen. Ob ich das nun überlebte oder nicht, machte keinen Unterschied.
Die Entscheidung, es öffentlich zu machen, traf ich, um zu zeigen, daß diese heftige Feindlichkeit mir selbst gegenüber bloß eine extreme Art von weit verbreitetem, gesellschaftlich unterstütztem Verhalten war, um ein Beispiel zu setzen, wohin eine solche Erziehung führen kann, um andere aufzufordern, ähnliche Charakterzüge an sich selbst zu hinterfragen, und hoffentlich daraus zu lernen, es zu vermeiden, sich selbst oder anderen in dem Maße Leid zuzufügen."
Weiters meint John Duncan auf der Kassette "Pleasure Escape" in der Einleitung zu "Blind Date": "Ich wollte mich selbst so gründlich wie nur möglich bestrafen. Ich hatte entschieden, mich einer Vasektomie zu unterziehen, aber das war nicht genug: Ich wollte meinen letzten zeugungsfähigen Samen in einem toten Körper aufbewahren. Ich arrangierte, daß ich Sex mit einer Leiche haben konnte. Ich wurde aus allen möglichen Sexshops gejagt, bevor ich einen Mann traf, der mich zu einem Angestellten eines Bestattungsunternehmers in einer mexikanischen Grenzstadt brachte."
Besagte Frauenleiche war in diesem Fall nicht das Subjekt der Aktion, sondern das Medium, das die größtmögliche Bestrafung zur Verfügung stellt. Es geht nicht um den Akt sexueller Befriedigung, sondern um dessen Umkehrung ins Negative, die Kehrseite der Lust: Schmerz und Tod.
Zeitsprung in das Jahr 2002: Noch immer wirft das "Blind Date" einen großen und meist erdrückenden Schatten auf John Duncan. Das "International Artist´s Studio Program in Sweden" (IASPIS) lud John Duncan für sechs Monate nach Schweden ein, wo der Künstler von ebendieser Organisation ein Atelier, eine Wohnung und "Taschengeld" bekommen sollte, um verschiedene Projekte - Koproduktionen, Konzerte, Vorlesungen und eine Ausstellung - zu realisieren. Doch dann beschloß das IASPIS, das "problematische Wesen" John Duncans (im Klartext: das "Blind Date") als Grund dafür zu verwenden, ihn des Landes zu verweisen, woraufhin schwedische Künstler - im Besonderen die Organisation "Fylkingen" - sich für John Duncans Bleiberecht einsetzten und es auch erwirken konnten. Mühsam.
Good? Bad? Ugly?
Cosey Fanni-Tutti (u. a. Throbbing Gristle) kommentierte den Umgang mit ernsthaften Künstlern und John Duncan im speziellen folgendermaßen: "Künstler müssen gegen institutionalisierten oder unternehmerischen Druck sowie karrieredienliche Attitüden antreten, um die Integrität und Reinheit ihrer Kunst zu behalten. (...) Radikale Kunst wie die von John (Duncan, Anm. d. Verf.) ist eines der Mittel, mit dem wir - als menschliche Wesen - an die Bedingungen unserer manchmal unvorstellbaren Aktionen kommen und daher dazu befähigt werden, weiter vorwärtszukommen."
Positive Ergebnisse dieser Aktion wären etwa, mithilfe einer hochquadrierten Version subversiver Affirmation darauf hinzuweisen, daß so etwas möglich ist und dauernd passiert. Auch wenn Jennifer Lopez einen Film über artverwandte Mißstände dreht: Für mich weit wirkungsvoller ist John Duncans Ausführung einer solchen Idee, die ohne Hollywood-Pomp oder den berühmten, hochversicherten und patentierten J-Lo-Arsch wirkt. Nicht umsonst erzürnten sich über John Duncan die Menschen aus den verschiedensten Richtungen, während das Kino den unterhalterischen Zweck nicht verliert. Und warum wurde der Film gedreht? Als kritischer Denkanstoß? Oder doch, um ein paar Peanuts mehr einzuheimsen? Sagen wir es so: Wer es ernst meint, macht es anders. John Duncan meinte es sehr ernst - und plumpe Verteufelung ist deswegen eine äußerst heuchlerische Reaktion auf sein "Blind Date". Eine ausgehandelte Position dazu zu finden halte ich für wichtig.
Natürlich gibt es genug Fragen, die zu klären wären, mir aber vom Ausführenden leider nicht beantwortet wurden: Wurde die Identität der Frauenleiche geklärt? Gab es Proteste der Angehörigen oder fühlte sich niemand angehörig? Gab es trotz des Totschweigens Effekte auf den Umgang mit diesen Problemen in den Grenzgebieten Mexikos?
Bezüglich der Aktion bin ich hauptsächlich auf drei verschiedene Reaktionen gestoßen: Die erste ist die leider am öftesten angewandte der unüberlegten Zurückweisung aufgrund gesellschaftlicher Kompromisse, die wegen ihrer scheinbaren Natürlichkeit nicht hinterfragt werden. Die zweite hält die Aktion nicht für produktiv, da sie einen Mitwirkenden - in diesem Fall die Leiche - verwendet, ohne dessen Zustimmung einzuholen.
Natürlich kann ein toter Körper sich nicht wehren, aber es gibt doch meist Angehörige, deren Standpunkt in dem Fall - soweit ich weiß - nicht berücksichtigt worden ist. Der Vorwurf einer egoistischen Zwangsbefruchtung steht damit zur Diskussion, der Künstler selbst wendet ein: "('Blind Date' behandelte) viel essentiellere Themen als meine Kunst oder mich persönlich. Es geht darum, sich gegen die Akzeptanz zu wehren, diktiert zu bekommen, was getan und was gesagt werden darf. Es geht darum zu zeigen, daß diese so genannte 'political correctness' tatsächlich jene Ideale erstickt, die sie anpreist, daß diese Atmosphäre für jeden kreativen Akt kontraproduktiv ist."
Und dann gibt es noch den dritten Standpunkt, der auch von Mike Kelley, einem der wenigen Künstler, die John Duncan selbst in seinen umstrittensten Phasen nicht von vornherein abschoben, vertreten wird: "Da ich nicht an das Konzept einer Seele glaube, kann ich persönlich nicht zu viel Empathie für eine Leiche aufbringen - eine Leiche ist schlicht und einfach ein toter Gegenstand und nicht mehr. Ich habe viel größere Probleme mit Menschen, die lebendige Wesen zu sexuellen Handlungen zwingen."
PS: In diesem einen speziellen Punkt sollte das Angebot der Nachfrage Recht geben, nicht hyperkritisch dagegen argumentiert und auf durch die Kulturindustrie oder wodurch auch immer produzierte Bedürfnisse plädiert werden, sondern eine Datenbank eingeführt werden, auf der sich Menschen eintragen können und dürfen, die kein Problem damit haben, posthum gefickt zu werden (es gab da ja mal die "Necrocard" der Neoist Alliance ...). Wer über sich selbst entscheiden darf, nach dem Tod begraben oder verbrannt, für medizinische Zwecke oder als Organspender verwendet zu werden, diesem Menschen muß man auch zutrauen, für sich selbst festzusetzen, sexuellen (oder, in weiteren Überlegungen, kannibalischen) Handlungen zuzustimmen oder nicht.
Daß es derlei Wünsche und (illegalen) Informationsaustausch bereits gibt, weiß man spätestens seit dem sogenannten Kannibalen von Rotenburg. In diese bestehenden Phänomene sollte sich der Staat einmischen und zusehen, daß alle glücklich werden. Eine öffentliche und nicht von vornherein verlogene Diskussion darüber zum Beispiel würde ich als produktive Folge von John Duncans Aktion hervorheben. Diese ungelösten Themenfelder tangiert der Künstler mit seinem "Blind Date" - Antworten auf die entsprechenden Fragen wurden noch immer nicht gefunden. Es wird Zeit, sich ohne heuchlerische Vorbehalte diesen und ähnlichen Diskussionspunkten zu nähern.
PPS: Natürlich würde ich mich auf diese Liste setzen.
Rokko’s Adventures
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