Stories_Jim Thompson

You should have shot the deputy

Auch wenn er keinen aktuellen deutschen Verlag* hat, ist das keine Entschuldigung dafür, Jim Thompson nicht zu lesen. So grausam schön haben nur wenige die finsteren Abgründe der menschlichen Seele zu Papier gebracht. Martin Compart weiß mehr.    09.05.2014

Als James Myers Thompson am 7. April 1977 in Los Angeles starb, war er ein vergessener Schriftsteller, und kein Buch von ihm war noch lieferbar. Wenige Jahre zuvor hatte er in Second-Hand-Läden alte Ausgaben seiner Romane aufgekauft und versucht, die Filmrechte an seinem Gesamtwerk für 500 Dollar an Hollywood zu verkaufen. Zum Glück seiner Erben schlug keiner dieser instinktlosen Glamourpiraten zu, und heute müssen die Produzenten tief in die Tasche greifen, wenn sie ein Thompson-Recht erwerben wollen. An seiner Beerdigung in Westwood nahmen nur wenige Menschen teil; lediglich vier Trauergäste gehörten nicht der Familie an, darunter Thompsons langjähriger Lektor und Freund Arnold Hano: "Ich fühlte mich schlecht, es waren nur wenige Leute da. Ich kam mir vor, als wäre ich in einer Jim-Thompson-Geschichte."

 

Jim Thompson wurde am 27. September 1906 im Gefängnis des Caddo County in Anadarko im Oklahoma Territory (das erst ein Jahr später als Bundesstaat anerkannt wurde) geboren.

Thompsons Vater war dort Sheriff, nachdem er zuvor als Ölmann eine Million Dollar gemacht und verloren hatte. Jim war ein echter Junge vom Land und lernte als Kind die Ölfelder von Oklahoma und Texas sowie die Prärien von Nebraska kennen - Landschaften, die in seinen späteren Romanen immer wieder eindrucksvoll verarbeitet wurden. Sein Verhältnis zu seinem Vater, der ein glückloser Herumtreiber war, blieb zeit seines Lebens problematisch. Nie schien er dessen Anerkennung erringen zu können, und bis zu seinem eigenen Tod fühlte er sich als Versager.

Jim begann mit vierzehn Jahren zu schreiben und veröffentlichte seine erste Story mit fünfzehn. Daneben beendete er die Schule und hatte verschiedene Jobs als Hotelboy (davon erzählt er in dem grandiosen autobiographischen Roman Bad Boy, 1953) und Golfcaddy. An der Universität von Nebraska, wo er Journalismus studierte, lernte er 1931 Alberta Hesse kennen, die er 1932 heiratete. Zu diesem Zeitpunkt war Alberta mit dem ersten Kind schwanger, zwei weitere sollten folgen. Die Ehe hielt bis zu seinem Tod, 46 Jahre lang. Nach der Geburt seiner Tochter Patricia gab Jim das Studium auf, um Geld für seine Familie zu verdienen. Das war in den Jahren der Depression nicht so leicht. Jim hatte zahlreiche obskure Jobs und brachte die Familie kärglich als kleiner Geschäftemacher oder Ölfeldarbeiter durch. Geldsorgen sollten ihn bis an sein Lebensende begleiten. Mitte der 30er Jahre war er für drei Jahre Direktor des "Writer´s Project" in Oklahoma City, ein Projekt des New Deals von Roosevelt für arbeitslose Schriftsteller und einer von Jims besseren Jobs. In dieser Zeit faßte er wohl den endgültigen Entschluß, sich künftig als Autor durchs Leben zu schlagen.

1942 erschien sein erster Roman, Now And On Earth. Bis 1949 folgten zwei weitere, wobei der letzte, Nothing More Than Murder (1949) bereits Thompsons Markenzeichen einführt: den psychopathischen Ich-Erzähler. Der große Erfolg als Autor blieb jedoch aus, und Jim wurde in den 40er Jahren zunehmend zum Alkoholiker. Anfang der Fünfziger hatte er mehrere Jobs bei Zeitungen und schrieb regelmäßig über wahre Kriminalfälle für die "True Crime"-Magazine. Kurze Zeit hielt er sich sogar als Managing Editor für eines dieser billigen Blättchen, bevor ihm sein Alkoholismus einen weiteren Rausschmiß bescherte. 1952 schien Jim am Ende zu sein, ein hoffnungsloser Säufer, der keinen Job mehr vernünftig auf die Reihe brachte. Das muß ihm in einem seiner seltenen klaren Momente bewußt geworden sein. Jedenfalls stoppte er das Trinken, nüchterte aus und beriet sich mit seiner Agentin Ingrid Hallen. Die schleppte den noch zittrigen Thompson kurz entschlossen in die Büros von Jim Bryans und Arnold Hano, den Lektoren des neuen Taschenbuchverlags Linon Books.

Anfang der 50er Jahre schossen die Taschenbuchverlage nur so aus dem Boden. Mit billigen Nachdrucken von Bestsellern und immer mehr spannenden Originalromanen, meist Western, Liebesromane oder Thriller, verdrängten sie die Magazine (Pulps) in der Gunst des Publikums und bedienten einen schier unersättlichen Markt. Hano mochte den schüchternen Mann sofort. Er legte ihm ein paar äußerst grobe und klischeehafte Konzepte für Romane vor, die er für den Verlag geschrieben haben wollte. Jim wählte zwei davon aus. Aus dem zweiten wurde Cropper´s Cabin, Thompsons optimistischster und dem Werk Erskine Caldwells ähnlichster Roman; das für Thompson überhaupt nicht typische Schlußkapitel beruhte auf einer Anordnung des Verlags, der das ursprüngliche pessimistische Ende nicht akzeptierte.

Das andere Konzept trug den Titel Sleep With The Devil und handelte von einem Großstadtpolizisten, der sich in eine Prostituierte verliebt und sie dann umbringt. Daraus sollte Jims erstes Buch für Lion werden, der unsterbliche schwarze Klassiker The Killer Inside Me, für viele Jims bestes Buch. Mit Hanos Konzept hat der Roman nicht mehr viel zu tun. Thompson schrieb "The Killer Inside Me" in zwei Wochen und bekam 2000 Dollar für den Roman. Hano war so von dem Buch beeindruckt, daß er es als Kandidaten für den National Book Award einreichte. Und niemand, der die Geschichte von Sheriff Lou Ford gelesen hat, wird diesen düsteren Roman je vergessen können.

 

Ohne jeden Zweifel gehört "The Killer Inside Me" zu den zehn wichtigsten und einflußreichsten Werken der nordamerikanischen Kriminalliteratur. Erstmals wurden in diesem Buch Elemente der Hard-boiled-novel konsequent und geradezu diabolisch mit der Psychoanalyse verbunden. Daß die Erzählung vom psychopathischen Täter selbst vorgetragen wird, ist heute natürlich nichts Ungewöhnliches mehr, war aber 1952 ein innovatives Wagnis. Bedenkt man, daß der Killer ein Polizist ist und das Buch zur Zeit der Terrorherrschaft des Senator McCarthy erschien, muß man es auch als ein mutiges Buch anerkennen. Genreimmanent stellte es zusätzlich den gerade seinen Siegeszug in der Publikumsgunst beginnenden Polizeiroman auf den Kopf.

Marcel Duhamel, Herausgeber von Gallimards "Serie Noire", die als erste für Thompsons Anerkennung als brillanter Schriftsteller sorgte, fühlte sich durch Thompson an Henry Miller, Erskine Caldwell und Céline erinnert. Er sagte über ihn: "Thompsons Werk unterscheidet sich grundlegend von mittelmäßiger Kriminalliteratur; er besitzt einen völlig eigenen Stil und eine höchst individuelle Weltsicht." Und Thompson selbst: "Alle Schriftsteller, angefangen bei Cervantes, haben nur ein Thema: Die Dinge sind nicht so, wie sie zu sein scheinen.” Das trifft seine Romanwelt ziemlich genau: Lou Ford scheint ein netter, menschenfreundlicher Deputy-Sheriff zu sein und ist doch in Wirklichkeit ein psychopathischer Killer. Auch staatliche Institutionen und demokratische Kontrollinstanzen erweisen sich hinter den Kulissen nicht als das, was sie nach außen zu sein vorgeben. Thompson zeigt in jedem seiner Romane ein rabenschwarzes Bild der nordamerikanischen Gesellschaft. Er beschreibt, wie sehr Gewalttätigkeit, Machtstreben und Korruption mit der kapitalistischen Gesellschaft verbunden sind. Sein Markenzeichen, der paranoide Schizophrene, ist nichts anderes als die perverse Konsequenz aus dem Verfassungsgrundsatz, daß jeder "Amerikaner das Recht hat, nach seinem Glück zu streben”.

Für Thompson, der kurze Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei war, Marx gelesen hatte und von Naturalisten wie Zola, William Cunningham und Frank Norris beeinflußt war, gab es nie einen Zweifel daran, daß das System naturbedingt Millionäre genauso hervorbrachte, wie es psychisch kranke Killer zeugte. In Thompsons Welt können die Dämonen des Schicksals nicht bezwungen werden. Die Kreatur - und seine Menschen sind allesamt armselige Kreaturen - ist ohnmächtig diesem Walten und den gesellschaftlichen Machtverhältnissen ausgeliefert. Bestenfalls kann sie sich durch äußerste Brutalität für einige Zeit einen Freiraum erkämpfen.

Jims Tage als Hardcover-Autor waren gezählt. Für den Rest seines Lebens schrieb er direkt für die grellen, reißerischen Taschenbuchreihen - sicher auch ein Grund, weshalb die amerikanische Literaturkritik seinen Stellenwert als Literat erst lange nach den Europäern entdeckte. Dies war ein Schicksal, das er allerdings mit vielen anderen Autoren teilte, nicht zuletzt mit David Goodis, John D. MacDonald, Charles Williams oder Cornell Woolrich. Bis 1954 entstanden elf weitere Bücher für Lion Books; dann verließ Hano den Verlag, nachdem man beschlossen hatte, künftig keine Originalromane mehr zu veröffentlichen. Jim war so schockiert, daß er wieder zu trinken begann. Er schlug sich mit Zeitungsjobs durch und veröffentlichte nebenher weiter Romane bei billigen Taschenbuchverlagen.

Sein Lektor Arnold Hanno erinnerte sich, wie es zu dem Roman The Alcoholics kam: "Jim sagte, er wolle ein Buch über Alkoholismus schreiben. Er argumentierte: Es gibt 40 Millionen Alkoholiker, und ich werde 40 Millionen Bücher verkaufen." Thompson übersah wohl, daß die meisten Mitglieder dieses Ordens ihre Zeit nicht mit Lesen verplempern.

 

Ein Hoffnungsschimmer erschien am Horizont, als der junge Regisseur und Thompson-Fan Stanley Kubrick sich an ihn heranmachte. Durch ihn erhielt er ein paar Drehbuchaufträge und war für kurze Zeit im Hollywood-Geschäft. Aber die beiden Männer waren zu verschieden, sie verstanden einander nicht wirklich, und schließlich endete die Freundschaft mit einem Prozeß. Thompsons weiteres Leben bestand aus Enttäuschungen, kurzen euphorischen Phasen, furchtbaren Alkoholexzessen und schließlich tiefster Niedergeschlagenheit. 1975 tauchte er in einer kleinen Nebenrolle - als Richter Grayle - in Dick Richards Chandler-Verfilmung Farewell My Lovely auf. Dabei sah er Robert Mitchum wieder, den er 1948 während eines Jobs als Reporter interviewt hatte, als der Schauspieler wegen des Rauchens von Marihuana eine kurze Gefängnisstrafe verbüßen mußte. Auch sein gigantischer Erfolg in Frankreich, wo man ihn neben Hammett und Chandler als einen der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts verehrte, gab dem Gebrochenen keine Kraft mehr.

Als Jim starb, war er am Ende seines Weges angelangt und blickte auf ein Leben zurück, das kaum weniger schrecklich war als das seiner Romanhelden. Sein Leben war eine gruselige Soap-Opera ohne Quote, und seine Bücher stellten die letzten Haltestellen auf dem Weg in die Hölle dar. Thompson war von ihrer literarischen Qualität immer überzeugt. Heute ist es auch der Rest der Welt - und jeder, der kein kompletter Ignorant ist, weiß bei der Lektüre von "The Killer Inside Me", daß er einen der großen Romane des 20. Jahrhunderts liest. Jim Thompson selbst hatte seiner Frau gesagt, in 20 Jahren, also nach seinem vorhersehbaren Tod, würden sie Bedeutung haben. Speziell in wirtschaftlicher Hinsicht - wie die vielen Verfilmungen und Neuauflagen belegen.

Martin Compart

Anmerkungen


*(Ausnahme: zwei Bücher bei Heyne Hardcore)

 

(Anmerkung der EVOLVER-Redaktion: Ab Sommer 2014 erscheinen übrigens einige der Thompson-Klassiker beim amerikanischen Verlag Mulholland Books als Neuauflage. Greifen Sie zu, bevor es zu spät ist!)

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