Stories_Russische Geschichte
Der Schlächter vom Ussuri
Der Kampf der "roten" Bolschewiken gegen die "Weißen" lockte auf beiden Seiten Wahnsinnige aus allen Gesellschaftsschichten an. Der Kosake Iwan Kalmykow war einer der übelsten Konterrevolutionäre - und den späteren amerikanischen Kalten Kriegern in Sachen Grausamkeit ein gutes Vorbild. Martin Compart hat ihn für den EVOLVER porträtiert. 11.01.2011
"Äußerlich war Kalmykow klein und schmächtig. Mit seinen verschleierten Augen und dem gaminartigen Lächeln, das ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem bekannten Typ des Pariser Apachen gegeben haben soll, war er eine auffallende Erscheinung. Persönlich war er vollkommen furchtlos, er konnte auch, wie einige Ausländer versicherten, die in Berührung mit ihm gekommen sind, eine große Liebenswürdigkeit entwickeln, wenn er wollte." So schilderte der schwedische Diplomat Rütger Essen den Ataman (= höchster Rang bei den russischen Kosaken), um den es im folgenden gehen soll.
Iwan Kalmykow war ein noch üblerer Schurke als der russische General Grigori Michailowitsch Semjonow - ein Tyrann auf Seiten der Konterrevolution, der für seine Massaker berüchtigt war. Als Iwan im Alter von 26 Jahren seine politische Laufbahn in Ostsibirien begann, war er jünger als Semjonow. Aber es gab wohl auch einige andere Unterschiede: "Während Semjonow ein Mann mit politischen Zielen und Sinn für Regierungsaufgaben war, kann Kalmykow kaum anders als ein reiner Bandit angesprochen werden, der sich nie vor Morden, Plünderungen und Gräueltaten scheute und dem es vor allem an jedem höheren Ziel fehlte." (Essen, S. 159) Und der amerikanische General William S. Graves (1865-1940) beschrieb den Unterschied zwischen Semjonow und Kalmykow so: "Ersterer befiehlt anderen zu morden, letzterer tut es mit seinen eigenen Händen."
Iwan Pawlowitsch Kalmykow wurde in der russischen Provinz Amur als Sohn eines Offiziers der Ussuri-Kosaken geboren. Die Truppe galt als die wildeste aller Kosaken; ihre Stärke betrug um 1918 etwa 40.000 Soldaten. Iwan wuchs in Grodekovo auf, einem Ort an der Eisenbahnlinie, 100 Kilometer vor Wladiwostok und 10 Kilometer östlich der chinesischen Grenze.
Im Ersten Weltkrieg diente er in einem Kosakenregiment und zeichnete sich durch Tapferkeit aus. Einmal gelang ihm die Flucht aus deutscher Gefangenschaft. Im Sommer 1917 kehrte er als Rittmeister nach Grodekovo zurück. Er begann in der Politik mitzumischen und gruppierte unzufriedene Elemente aus Kosaken und Konterrevolutionären um sich. Vier Monate später ließ er sich zum Ataman wählen. Seine Wahl war nicht unumstritten und teilte die Kosakengemeinde. Eine Minderheit folgte Kalmykow, die anderen schlossen sich Grigori Schevchenko an. Dieser, ebenfalls Kriegsveteran, wollte mit seinen Männern den Sowjet von Wladiwostok verteidigen.
Gehaßt vom Direktor der chinesischen Transsibirienbahn, Dimitri Horvath, toleriert vom machurischen Warlord Tschang Zulin und unterstützt von den Japanern, richtete er im Februar 1918 seine Operationsbasis in Pogranichnaya, einem mandschurischen Ort an der chinesischen Bahnlinie, ein. Im März 1918 überquerte er mit hundert Mann die Grenze nach Rußland und ritt auf Grodekovo. Der Sowjet von Wladiwostok schickte Rotgardisten und ein Bataillon Internationalisten an die Grodekovo-Front. Die Kämpfe zogen sich über drei Monate.
Nach diesen Aktionen gegen die bolschewistische Regierung erweckte Kalmykow das Interesse der Japaner, die ihn von da an mit Waffen und Geld unterstützten. Auf die Ärmel seiner Soldaten war eine gelbe Rute mit einem großen schwarzen K genäht. Ein japanischer Offizier erzählte folgende Anekdote, die ein bezeichnendes Licht auf Kalmykow wirft: Der Kosakenführer ritt an der Spitze einer kleinen Abteilung neben einem Japaner, der zu Besuch im Lager weilte. Plötzlich stürzte das Pferd des Offiziers und verletzte sich am Knie. "Ich werde Ihnen gleich ein anderes Pferd besorgen", sagte Kalmykow, drehte sich im Sattel, überblickte seine Leute, suchte einen Mann aus, der ein geeignetes Pferd ritt, und schoß ihn mit dem Revolver nieder. "Bitte, hier haben Sie ein anderes Pferd."
Die Ussuri-Front brach am 24. August 1918 zu Gunsten der Konterrevolution zusammen. Tschechen und Japaner drangen von Spassk aus nördlich vor, während Kalmykows Kavallerie die östliche Flanke deckte. Diese Offensive fegte die Sowjetherrschaft am Amur hinweg. Am 5. September eroberte er mit den Japanern und den Tschechen Chaborowsk. Die Stadt war aus zweierlei Gründen strategisch wichtig - als Knotenpunkt der Transsibirischen Eisenbahn und mit dem Amur als Grenze zur Mandschurei, also zu China. Voller Freude ließen die Popen sämtliche Kirchenglocken der Stadt läuten. Zum Klang des Kirchenspiels begann Kalmykow umgehend, die Bolschewiken niederzumetzeln. Die meisten waren jedoch rechtzeitig geflohen.
Nicht retten konnte sich Alexandra Kim, die erste Kommunistin Koreas. Sie hatte Chaborowsk an Bord der "Baron Korf" verlassen. Das Schiff wurde stromaufwärts von Kosaken abgefangen, und Alexandra wurde an Kalmykow ausgeliefert und am 16. September hingerichtet.
Daß dieser Schlächter auch den eigenen Leuten unheimlich war und sie mit seiner unberechenbaren Grausamkeit ängstigte, zeigen die vielen Desertionen in seiner Truppe. Beliebt war er aber sicher bei seinem treuesten Gefolgsmann, einem Tschechen namens Julinek. Der haßte alle Deutschen, Ungarn und natürlich die Kommunisten. Er war für Kalmykow ein wertvoller Mitarbeiter, da er sich darauf spezialisiert hatte, ausländische Hilfsorganisationen und das Rote Kreuz rücksichtslos auszurauben und den Großteil der Beute an seinen Herrn und Meister weiterzugeben.
Zwei Tage nach dem Einmarsch Kalmykows zog das 27. Infanteriebataillon der US-Armee, die "Wolfhounds", unter Lieutnant Colonel Charles Morrow in die Stadt ein. Neben der aufgehenden Sonne wurden die Stars und Stripes am Bahnhof hochgezogen. Es kam schnell zu Spannungen zwischen den Amerikanern und Kalmykow. Er verbot sogar Eheschließungen zwischen Russinnen und Amerikanern. Nach einem Zwischenfall, der dazu führte, daß Kalmykow amerikanische Soldaten auspeitschen ließ, gab Colonel Morrow folgenden Befehl aus: "Jeder Hurensohn, der von einem Kosaken gepeitscht wurde und diesen nicht sofort erschießt, bekommt sechs Monate Bau."
Morrows Antipathie ging so weit, daß er 1919 die Inhaftierung von Bolschewisten verhinderte. Viele Amerikaner unterstützten angesichts der weißen Terrorherrschaft die Bolschewiken mit Essen, Zelten, Colt-Revolvern und sogar Maschinengewehren. Einmal beobachteten die Amerikaner folgende Szene: Kalmykow ließ Bolschewiken mit ihren Frauen und Kindern an den Stadtrand treiben. Dort mußten sie sich auf den Boden legen. Dann schritt der Ataman über sie hinweg und wählte Männer, Frauen und Kinder aus, die aufstehen und wegrennen mußten. Kosaken folgten ihnen brüllend, ritten sie nieder und zerstückelten sie mit ihren Säbeln.
Außerdem hatten die Amerikaner Probleme mit den Japanern, die in ihrem Sektor brutale Übergriffe und Morde begingen. Wenn die japanischen Soldaten nicht selber angebliche Bolschewiken niedermetzelten, ließen sie Kalmykow durch Telegramme von Semjonow aufstacheln, den Amerikanern Schaden zuzufügen. Oft wurden die GIs aus den ein- und zweistöckigen Holzhäusern beschossen, wenn sie durch die Straßen gingen.
Es ist leicht vorstellbar, was er mit Bolschewisten und der Bevölkerung anstellte, wenn er schon mit den eigenen Verbündeten so verfuhr. Eines Tages brachte man einen Chaborowsker Bürger, der auf seinen Befehl hin verhaftet worden war, in seine Wohnung. "Wir bringen ihn hierher, weil es keinen Platz mehr im Gefängnis gibt", sagte ein Kosak. Kalmykow antwortete: "Schön, aber ich will ihn nicht hier haben. Tötet ihn."
Daraufhin wurde der Mann ins Badezimmer geschleppt und erwürgt. Einmal erschoß Kalmykow eigenhändig zwei Ausbilder des Chabarowsker Kadettenkorps, weil sie zu wenig Enthusiasmus gezeigt hatten, als er die Kadettenschule nach sich selbst umbenannte. Ein anderes Mal ließ er eine ganze Musikkapelle töten, weil sie in einem Café die Internationale gespielt haben soll. Auch zwei schwedische Rotkreuzhelfer, die angeblich Bolschewiken zur Flucht verholfen haben sollen, wurden auf seinen Befehl hin ermordet. Einige des Mordens und Plünderns müde gewordene Offiziere meuterten. Aber sie fanden in Kalmykows Soldateska keine Unterstützung, da der Ataman bei der Truppe äußerst beliebt war, ermutigte er sie doch zu Massakern und Vergewaltigungen. Die Meuterei mißlang völlig. Einigen Offizieren gelang die Flucht nach Wladiwostok, die anderen wurden bestialisch umgebracht.
Seinen Leuten verkündete Kalmykow: "Schneidet allen Bolschewisten die Kehle durch, oder sie werden eure durchschneiden." Das tat er in den folgenden Jahren mit großer Hingabe. Die Einwohner von Chaborowsk lebten während seiner eineinhalbjährigen Terrorherrschaft in ständiger Todesangst. "Sein weißgestrichener Panzerzug, der zuweilen bis nach Wladiwostok hinunter Besuche machte, war für die Bevölkerung ein Bote des Schreckens." (Essen, S.159)
Am 8. November 1919 raste Kalmykow mit seinem Panzerzug nach Wladiwostok, um dort gegen General Gaida anzutreten. Der ehemalige tschechoslowakische Feldscher hatte es bis zum Oberkommandeur der Tschechischen Legion gebracht und in Wladiwostok einen Coup angezettelt, der ihn zu einer Art Diktator machen sollte. Japanische Torpedoboote griffen Gaidas Stellungen vom Hafen aus an, während sich Kalmykows Panzerzüge zu Lande näherten.
Die kurze Schlacht fand in einem unheimlichen Regen statt, der Wladiwostok in einen grauen Mantel hüllte. Gaida wurde leicht am Fuß verwundet und versprach nach seiner Niederlage, Rußland für immer zu verlassen. Er begab sich umgehend an Bord eines Schiffes, um abzureisen. Zum selben Zeitpunkt führte Kalmykow unter Gaidas Mitkämpfern Massenexekutionen durch.
Nach dem sich abzeichnenden Sieg der Roten wartete Kalmykow das Vordringen der Partisanen nach Chaborowsk nicht ab. Mit seinem persönlichen Goldschatz, einem Dutzend Kosaken und achtzig Kadetten des Kalmykow-Korps überquerte er am 12. Februar 1920 den gefrorenen Amur nach China. Am 8. März entwaffneten Chinesen den Trupp, nahmen den Schatz an sich und setzten Kalmykow in Jilin gefangen. Der hatte dummerweise während seiner Terrorherrschaft auf chinesische Kanonenboote feuern lassen, die Chabarowsk zu nahegekommen waren. Kalmykow gelang es zu fliehen; er versteckte sich auf dem Gelände des alten russischen Konsulats. Nachdem man ihn wieder eingefangen hatte, erschoß man ihn im Juli während seines Transports nach Peking.
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