Human Target
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Season 1 auf DVD/Blu-ray von Warner erhältlich
Vom Comic-Heroen zum Fernseh- oder Kinohelden ist der Weg heutzutage nicht weit. Nicht jeder allerdings geht ihn so souverän wie Christopher Chance alias "Die menschliche Zielscheibe". Martin Compart erinnert sich an eine seiner Lieblingsserien. 18.02.2013
Wenn man die ersten Folgen der US-Action-Serie Human Target gesehen hat, bestätigt sich, was andere angloamerikanische Fernsehserien schon bewiesen haben: In Deutschland ist die Zeit stehengeblieben; zumindest auf dem Lerchenberg und in den Räumen deutscher Produktionsfirmen. Kein gegängelter deutscher Drehbuchautor hätte solche Handlungsverläufe, mythisch anmutenden Charaktere, Plot- und Subplot-Wendungen auch nur im Ansatz hingekriegt. Deutsche Regisseure hätten aus dem US-Drehbuch mindestens einen Dreistünder machen müssen, da sie nie Timing gelernt haben. Und das deutsche Action-TV-Aushängeschild "Cobra 11" wirkt im Vergleich zu "Human Target" so antiquiert wie die Keystone Cops.
Perfekt nutzen die Macher von "Human Target "die Möglichkeiten des nichtlinearen Erzählens, wie es zuvor schon effektiv bei "Hustle" eingesetzt wurde (in letzter Zeit scheinen die meisten Fernseh-Innovationen aus Großbritannien zu kommen - siehe auch "Spooks" oder "Little Britain"). Produziert wird die Serie in Vancouver (seit der 2010 verstorbene Stephen J. Cannell diesen Drehort für "Wiseguy" entdeckte und ihn danach beispielsweise Joel Surnow für "La Femme Nikita" nutzte, gilt die kanadische Stadt dank günstiger Gewerkschaftsbedingungen als Mekka für Action-Serien). Tatsächlich hat jede Folge den Look eines Bruce-Willis-Kinofilms. Action-Kino für Arme ist das nicht. Und die tollen Drehbücher sorgen dafür, daß alles, was momentan in den verseuchten Cinemaxen vor einem debilen Publikum abgespielt wird, dagegen alt aussieht.
Noch älter sehen natürlich deutsche Gähnserien aus. Klaus Bassiners Lerchenberger Geronten-SOKOs verstehen sich natürlich nicht als Action-TV, sondern als homöopathisches Sedativ. Aber der ganze Mist der unfähigen RTL-Tante Anke Schäferkordt stinkt jetzt wieder mächtig ab. Ob sogenannte "Eventfilme", die scheinbar in einem Legoland gedreht werden, oder "Lasko" und die vielen vergessenen Flop-Serien, die US-Konzepte grottig kopierten - sowas kann man wohl nur noch für wenig Geld in deutsche Urlaubsgebiete an der Schwarzmeerküste verscherbeln. Im Gegensatz dazu zeigt "Human Target", wie man massentaugliches Action-Format macht, ohne die Intelligenz zu beleidigen. Aber auch dieses Highlight wird Tante Anke nicht davon abhalten, wieder loszubrausen zu neuen, noch finstereren Tiefpunkten derber Unterhaltung - immer SAT.1 und PRO7 im Rückspiegel.
Die Kunst bei solchen Action-Serien ist die Gratwanderung zwischen Leichtigkeit, augenzwinkernder Selbstironie und Suspense, gepaart mit der Glaubwürdigkeit von Hero-Comic-Charakteren, die in ihrem Kosmos vollkommen glaubwürdig agieren und in ihm dreidimensional wirken. "Human Target" macht das perfekt und ist ein absoluter Qualitätssprung seit dem "Million Dollar Man" oder dem "A-Team".
Die britische Serie funktioniert auf allen Ebenen und spricht sämtliche Bildungsschichten an: ein Zeichen wahrer Industriekunst, also mehr als nur gutes Handwerk! Neben der Action ist die Interaktion zwischen den drei Hauptfiguren ein besonderer Reiz der Serie. Mark Valley - Darsteller der Hauptfigur Christopher Chance - drückt das ebenso kryptisch wie nett aus: "Wenn Chance ein ehemaliger Junkie oder Alkoholiker wäre, dann ist Winston eher sowas wie sein Helfer, während Jackie sein Ex-Dealer ist."
Die Serie beginnt klassisch in Episodenform. Ab der Folge "Sanctuary" steigt sie dann intensiver in die Personen und ihre Hintergründe ein und baut behutsam ihre eigene Mythologie. In die einzelnen Folgen werden geschickt Hinweise und Andeutungen eingebaut, die erst beim Finale ihren Sinn bekommen. Da erfahren wir dann die "großen" Geheimnisse hinter dem Mann, der sich Christopher Chance nennt. Die erste Season endet mit einem Cliffhanger, da man die Verlängerung durch FOX wohl in der Tasche hatte. In der zweiten und leider auch schon letzten Staffel kommt es dann zu einem noch stärkeren Mix aus episodischem und seriellem Erzählen. Wie gut das funktionieren kann, haben bereits "La Femme Nikita" oder "X-Files" bewiesen.
By any Chance
Die Figur Christopher Chance (alias "The Human Target") erblickte das Licht der Comic-Book-Welt 1958 in "Gangbusters" Nr. 61. Sie wäre ein längst vergessener One-shot, hätten sie nicht Len Wein und Carmine Infantino 1972 neu belebt. In den frühen 1970ern diente Chance als Füllserie für Superman in der "Action Comic"-Reihe, später wechselte er - wieder als Ersatzmann - zu Batman in "Detective Comics". Zu seinen Zeichnern zählten damals immerhin Stars wie Neal Adams und Howard Chaykin.
1990 wurde er für sieben Folgen auf den Bildschirm gezerrt, dargestellt von Rick Springfield. Das Gute an der erfolglosen Serie war, daß sich DC dadurch wieder an Chance erinnerte und Pete Milligan neun Jahre später eine neue Interpretation für Erwachsene ermöglichte. Mit den Zeichnern Edvin Biukovic, Cliff Chiang und Javier Pulido legte der britische Autor für DCs Vertigo-Line 1999 eine beeindruckende Miniserie und 2003 eine Graphic Novel vor; von 2003 bis 2005 gab es dann eine monatliche Heftserie mit 21 Ausgaben. Markanter Unterschied zur TV-Serie: In den Comics nimmt Chance die Identität des Klienten an, während er im TV eher als "Human Shield" agiert.
Die Fernsehfassung wurde von Jonathan E. Steinberg entwickelt, der zuvor als Autor, Story-Editor und Produzent an "Jericho" gearbeitet hatte und besagte Serie als "very good boot camp" bezeichnete. Der Grund für den Konzeptwechsel vom Comic zum TV ist eine medienspezifische Vorgabe, weil man auf diese Art in jede Folge prominente Gaststars einbauen kann, sagt Steinberg:
"This was a property that had been in development both for TV and the movies for a while, and I think for good reason. It´s a very enticing idea - a guy who is always looking to or is willing to become you and get into the trouble that you made for yourself, and I think everybody had tried to figure out a way to make it work. It was pitched to me as something that Peter Johnson and Warner Bros. were looking to do ... It´s fun and allows you to play with identity in a cool way, but as soon as it becomes flesh and blood, it´s a strange credibility that is detrimental to the story. That was one of the earlier obstacles with us, how do we make it real? If there was a guy who did this job, how would he do it? He probably wouldn´t do it by putting on a rubber mask.
So I think that was the beginning of it. After that it became clear to us that we wanted to create an action hero that was like the action heroes that I grew up with, the Indiana Joneses. The John McClanes. It´s very hard to fall in love with Indiana Jones when he looks like somebody else every week."
Second Chance
Nach Season eins mit 12 Folgen startete im November 2010 in den USA die zweite Staffel. Obwohl die Zuschauerzahlen bei Fox eher mittelmäßig waren: Von anfangs etwa 10 Millionen sanken sie auf 7,5 Millionen. Zum Glück für "Human Target" hatte Fox aber nicht mehr "24" (das mit der achten Season endete) am Start und brauchte einen zumindest ähnlichen Ersatz im Genre.
In der zweiten Season bekamen die drei von der Rettungsstelle einen weiblichen Boß. Der neue Showrunner Matt Miller erklärte die Hintergründe: Die Milliardärin Ilsa, gespielt von Indira Varma ("Rom", "Torchwood") kauft die Agentur, die permanent in finanziellen Schwierigkeiten steckt, und wird ihr Chef. Natürlich - wie es sich nach Genrekonventionen gehört - ist sie von Chance völlig unbeeindruckt, und aus der Situation wird einiges an Knistern und Spannung destilliert. Chi McBride alias Winston sagt dazu: "Wir sind wie eine dysfunktionale Familie. Wir streiten uns, aber wenn es darauf ankommt, halten wir zusammen." Ein Konzept, das seit Jahrzehnten funktioniert: streitende Ritter, die von ihrer Burg zu einer Quest aufbrechen, um das Böse zu bekämpfen. Noch einmal Miller: "In der zweiten Season legen wir Wert darauf, daß man neben der Haupthandlung in jeder Folge auch etwas Neues über einen der Protagonisten erfährt." Miller spielt allerdings einen ziemlich hohen Ball, wenn er "Human Target" mit den Büchern von Elmore Leonard vergleicht: "Durchaus, was Witz, Charakterisierung und Stimmung angeht. Guerrero ist ein Typ, der direkt einem Leonard-Roman entstiegen sein könnte."
Neben der guten Story-Struktur und dem perfekten Szenenaufbau gelang es den Autoren und Schauspielern, in kürzester Zeit alle Figuren individuell und zumeist auch originell zu charakterisieren. Das heißt, daß auch die Dialoge das genaue Gegenteil des sinnlosen Gestammels in deutschen Crime-Serien sind. Natürlich bekam Mark Valley die besten Sätze, um seinen Christopher Chance als witzigen und ultracoolen Charakter zu unterstreichen:
Chance: "Ich muß das brennende Flugzeug auf den Rücken legen, um den Brandherd auszublasen."
Stewardeß: "Haben Sie sowas schon gemacht?"
Chance: "Häufig, in allen Variationen."
Stewardeß: "Wann und wo?"
Chance: "In einem Simulator."
Stewardeß: "O nein!"
Chance: "Es war ein sehr guter Simulator."
Chance dreht das Flugzeug, was zur Folge hat, daß die Instrumente nicht mehr funktionieren und er es nicht mehr kontrollieren kann.
Stewardeß: "Was bedeutet das?"
Chance: "Technisch gesehen: Das Flugzeug ist kaputt."
Man muß Valley dabei sehen ... Der Golfkriegsveteran (des zweiten Golfkriegs 1991; der erste fand zwischen Irak und Iran statt, wie man wissen sollte) hat genug Charisma, um die Comicfigur im allerbesten Sinn glaubwürdig rüberzubringen. Seine Darstellung des Charakters sicherte "Human Target" eine loyale Fan-Gemeinde.
Doch selbst der schlagkräftigste und -fertigste Bodyguard muß das Handtuch werfen, wenn die Studio-pencil-pusher Rechenschieber und Bleistift zücken. Im Mai 2011 stellte Fox "Human Target" wegen nicht zufriedenstellender Quoten kurzerhand ein. Wir werden Christopher Chance jedenfalls nicht so schnell vergessen - und: Sollten Sie ihm in ihrem Wohnzimmer noch nicht über den Weg gelaufen sein, besorgen Sie sich die Serie schnellstens in digitaler Form. Sie werden es bestimmt nicht bereuen!
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Kommentare_
In England und Deutschland wurden schon auch harte Serien produziert, jedoch wurde in Martin Comparts "Crime TV" sowohl die britische Serie "Die Profis" (Mag "Spooks" auch realistischer sein, aber schon der Vorspann reißt einen bei "Die Profis" mit) und die deutsche Serie "Peter Strohm" (Endlich mal kein Goodlooker in einer weiteren deutschen Krimikomödie, sondern mit Charakterkopf Klaus Löwitsch einer, der so aussah, wie man sich einen ehemaligen Polizisten voregstellt hat in einer Serie mit europäischem Setting, das nicht einfach bei amerikanischen Vorbildern abgekupfert hat! Was haben wir dagegen heute? Henning Baum in der öden Krimiklamotte "Der letzte Bulle" ... lächerlich) verrissen.