Stories_In memoriam: Herbert von Karajan

Hundert Jahre für die Ewigkeit

Nach Mozart und Falco feiert Österreich heuer den gebürtigen Salzburger Herbert von Karajan. EVOLVER-Klassikexperte Herbert Hiess erinnert sich an den legendären Taktstockschwinger.    04.04.2008

Wer den Namen des Meisterdirigenten Herbert von Karajan googlet, erhält - auch ohne den üblichen Klatsch und Tratsch oder diverse Promi-Peinlichkeiten - mehr als eineinhalb Millionen Einträge zur Durchsicht: Dabei war Karajan, der heuer 100 geworden wäre, zeit seines Lebens nicht nur Gesprächsthema im Kulturbereich, sondern auch auf den Politik- und Gesellschaftsseiten.

Dem 1908 in Salzburg geborenen Dirigenten gelang es, in seinen 81 Lebensjahren die internationale Musikszene entscheidend zu prägen und zu formen. Er war ein Mann mit vielen künstlerischen Visionen, die er dank seines Einflusses und seiner "Macht" auch umsetzen konnte. Zu spüren bekamen diesen Einfluß natürlich auch "seine" beiden Orchester. Bis zum Schluß war er Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und "heimlicher" Chef der Wiener Philharmoniker. Dank seines Charismas schaffte er es, beide Orchester stets in Bestform erklingen zu lassen - in einer solchen Qualität, daß im Vergleich dazu der derzeitige Chef- und sonstige Dirigenten klein und mickrig aussehen. Den Connaisseur schmerzt es oft, diese Meisterorchester heute als Abspielmaschinen in der Hand von Dirigenten zu sehen, die in Wahrheit froh sein müssen, daß die Aufführungen ohne gröbere Schnitzer über die Bühne gehen. Über künstlerische Ereignisse muß sich da niemand Gedanken machen - die sind heutzutage ohnehin eine Seltenheit.

1977 hatte der Autor dieser Zeilen mit 17 Jahren erstmals Gelegenheit, Karajan live in Salzburg bei den Osterfestspielen zu erleben: zuerst die Matthäuspassion mit einer formidablen Besetzung (darunter einzigartig Peter Schreier als Evangelist) und am nächsten Tag Verdis "Il Trovatore" mit der großartigen Leontyne Price als Leonora.

Geradezu umwerfend, wie Karajan dieses oft als Leierkastenmusik mißbrauchte Stück in einen phantastischen symphonischen Klang formte. Wenige Monate später gab es das legendäre Gastspiel Karajans an der Wiener Oper, das am 8. Mai 1977 startete. Diese Staggione war auch seine Wiederkehr nach dem unrühmlichen Abgang Anfang der sechziger Jahre: "Il Trovatore" mit Price und luxuriös mit Luciano Pavarotti (in Salzburg wurde diese Rolle von Franco Bonisolli gesungen), eine wunderschöne Aufführung von "Le Nozze di Figaro" und eine unnachahmliche "La Boheme". Letztere Oper spielte man im Folgejahr gleich nochmals, wobei die erste der beiden Aufführungen als eine der unvergeßlichsten Sternstunden für Opernliebhaber gilt. Leider war dann 1979 bereits das letzte Jahr dieser Karajan-Ära in Wien. Diese drei Jahre waren auch die einzigen, in denen man Karajan als Operndirigenten an der Staatsoper erleben durfte. Danach mußte man nach Salzburg pilgern, wo der Maestro jedes Jahr zu Ostern und im Sommer die besten Opernaufführungen zelebrierte.

Die Salzburger Osterfestspiele wurden 1967 gegründet - mit dem Ziel, unvergleichliche Opern- und Konzerterlebnisse fernab jeder Alltagsroutine zu bieten. Seit 1977 durfte ich sie auch jährlich besuchen, wobei für mich der "Parsifal" der absolute Höhepunkt war. Keine Opernaufführung hat mich vor und nach dieser so fasziniert und berührt. Karajan schaffte es, eine unübertroffene Synthese von Klang und Bild zu liefern; man kam sich vor wie in einer anderen Welt.

Musikalisch besaß dieser "Parsifal" solch eine Dichte und Intensität, daß sogar die gleichzeitig in Berlin entstandene CD-Aufnahme dagegen nur wie ein müder Abklatsch wirkt. 1989 hörte ich noch in Salzburg die Generalprobe von Puccinis "Tosca" mit dem unvergessenen und unvergeßlichen Luciano Pavarotti als "Cavaradossi".

Niemand hätte damals gedacht, daß Karajan nur mehr gute vier Monate leben würde.

 

Karajans andere Domäne war die des Produzenten von Tonträgern und Filmen. Er setzte seine kommerziellen und künstlerischen Fähigkeiten stets bewußt ein, um die größten Werke für die Nachwelt festzuhalten. Obwohl der Maestro sehr streng war, wenn es darum ging, Leute bei Platten- und Filmaufnahmen in den Musikvereinssaal (und in die Sofiensäle) einzulassen, fand ich trotzdem meistens einen Weg, dabeizusein.

Es war faszinierend, wie es ihm hier stets gelang, die größten Sänger über sich selbst hinauswachsen zu lassen. Die Aufnahmen zu Puccinis "Turandot" sind ein Paradebeispiel dafür: Unglaublich, wie damals Placido Domingo und Katja Ricciarelli als "Kalaf" und "Turandot" den großen Musikvereinssaal zum Zittern brachten. Und ebenso unglaublich, welche Klänge Karajan damals den Wiener Philharmonikern entlocken konnte. Es ist allerdings schade, daß die unfähigen Aufnahmetechniker diese Produktion dann verstümmelten - trotzdem ist diese Aufnahme eine der besten.

In Karajans Todesjahr 1989 produzierte man im Musikverein noch Verdis Oper "Un ballo in maschera": Die Aufnahme war eigentlich als Tongrundlage für die geplante Festspielproduktion in Salzburg gedacht (Karajan nahm seine Aufnahmen immer als Probengrundlage für die Regie), sollte aber seine letzte Opernaufnahme bleiben. Das gesamte Produktions-Team war mehr als nervös, da einerseits Placido Domingo indisponiert war und andererseits Karajan öfters Verzögerungen bescherte. Letztlich gesundete Domingo dann wieder, und Karajan gab sich trotz offensichtlicher Schmerzen in Höchstform. Er nahm ganze Szenen und sogar Akte gleich in einem Stück auf. Spannender kann man eine Oper nicht dirigieren.

 

In den 80er Jahren begann eine Produktionsphase, in der Karajan alle Schlüsselwerke - vor allem für Sony - auf Video bannte. In Wien, wo er die großen Symphonien von Tschaikowski (4., 5., 6.), Bruckners Achte, "Ein Deutsches Requiem" von Brahms, Mozarts "Requiem" und Verdis "Requiem" produzierte, hatte ich das Glück, als Statist mitwirken zu dürfen. Bewaffnet mit der unspielbaren Geige einer Großtante saß ich am Vormittag auf dem Podium und ließ Karajans schnarrende Mikrophonstimme aus dem Regieraum über mich ergehen. (Nebenbei ganz interessant, wie der damals noch junge und heute so berühmte Franz Welser-Möst als Karajans Assistent unbeholfen unter des Maestros Anweisungen vor dem Orchester herumfuchtelte und versuchte, Tschaikowski zum Klingen zu bringen.) Am Nachmittag saßen die Statisten dann in den ersten unteren Logen im Musikverein, während Karajan die Werke aufnahm. Bezahlt bekam man damals 500 - in der guten österreichischen Schilling-Währung ...

 

Einfache Gemüter stellten Herbert von Karajan nicht nur einmal als arrogant, herrschsüchtig und "machtgeil" hin. Dabei besaß er keines dieser Attribute, ganz im Gegenteil: Er war sogar anhänglich, treu - und eben kompromißlos mit seinen Forderungen. Das ging sogar soweit, daß er bei fast allen Chorwerken immer auf dem Wiener Singverein bestand, der damals einer der schlechtesten Chöre in Österreich war: völlig überaltert (nichts gegen das Alter, aber hier war es eben mit unsäglicher Qualität gepaart), mit kreischenden Tenören und quietschenden Sopranen. So verunstaltete man hier eines von Karajans Schlüsselwerken, das Brahms-Requiem. Dazu kam noch die katastrophale Aufnahmetechnik, die den großen Geist des Maestros bestenfalls nur mehr erahnen läßt (die CD - mit Hendricks, van Dam und den Wiener Philharmonikern) ist bei Deutsche Grammophon erschienen).

Den heutigen Fans und Interessierten bleibt ohnehin nur mehr der Griff in die CD- und DVD-Archive. Dort werden sie aber auch bestens bedient: Aufgrund der zahlreichen Einspielungen gibt es eine derart große Auswahl, daß jeder darin fündig werden muß. Herausragend sind beispielsweise Karajans EMI-Produktionen aus den 50er und 60er Jahren mit dem Philharmonia Orchestra London, später viele Opern mit den Berliner Philharmonikern oder die "Legendary Decca Recordings" mit Aufnahmen aus den frühen Sechzigern mit den Wiener Philharmonikern. Unter den DVDs sind vor allem die Opernproduktionen zu empfehlen, die in jeder Hinsicht zeitlos sind; darunter "La Bohème", "Madame Butterfly" und die beiden Einakter "Cavalleria Rusticana" und "Bajazzo".

Wenn Opernfreunde sehen und hören, was damals möglich war (künstlerisch und szenisch), so müßten sie heute angesichts der "Performance" aktueller Opernhäuser in schwerste Depressionen verfallen. Dabei ist der Griff zu Karajan-DVDs ohnehin weit preisgünstiger und berauschender als ein - mittlerweile - langweiliger Opernbesuch.

Herbert Hiess

Kommentare_

Reinhard Jellinek - 07.04.2008 : 14.23
Hier schreibt ein Fan, der seinen Star in den Himmel hebt. Das ist gut und schön, wird aber ärgerlich, wenn er sich gleichzeitig über "Konkurrenten" seines Stars abfällig äußert. Karajan gehört mit Sicherheit nicht zu den 5 bedeutendsten Dirigenten des letzten Jahrhunderts, und in den Augen eines Großteils der Klassik-HörerInnen nicht einmal zu den bedeutendsten 50.
Albert Krallig - 22.04.2009 : 14.54
...und der Herr Jellinek kennt - und das beruhigt ungemein - alle Musikhörer/innen. Und weil diese Art der Musikinterpretation und des Qualitätsdenken aus der Froschperspektive des Herrn Jellinek nicht beständig ist, bescheren die dummen Musikhörer dem Karajan immer noch die ersten Ränge bei den Verkaufszahlen der Tonträger. Weitere 20 Jahre werden wohl vergehen, daß ich nicht mehr derartig oberflächliche Kritiken ertragen muß - küss die Hand!!

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