Die Goldenen Zitronen - Die Entstehung der Nacht
Buback/Hoanzl (D 2009)
(Photo Ted Gaier: © Hrvoje Goluza)
Sie sind längst von der Punkband zum grenzüberschreitenden Sound-Kollektiv mutiert und haben den "Blixa-Bargeld-Effekt" erfolgreich vermieden. Manfred Prescher sprach mit Gründungs- und Dauermitglied Ted Gaier über das Älterwerden, Weltdeppentum und ihre neue Schallplatte "Die Entstehung der Nacht". 28.10.2009
Wenn es nicht so sehr gegen ihre basisdemokratische Arbeitsweise und die gleichberechtigte Kunstpartnerschaft ginge, müßte man Schorsch Kamerun und Ted Gaier als die kreativen Köpfe der Goldenen Zitronen bezeichnen. Auf jeden Fall sind die beiden Gründungs- und Dauermitglieder der längst von der Punkband zum grenzüberschreitenden Sound-Kollektiv gewandelten Formation immer noch und immer mehr ein Sprachrohr für alle, die sich nicht in pseudointellektuellen Zirkeln oder gar im Weltdeppentum breitgemacht haben, um dort ihrer Eintönigkeit zu frönen. Die Zitronen sind nicht Blumfeld, sie sind auch nicht Hamburger Schule oder sonst eine Lehranstalt. Höchstens vielleicht die Uni des Lebens, die als Lernziele "Verstehen von Kontexten" und "Strategien zur Vereinnahmung durch Institutionen, den Kunstüberbau und erst recht durch die Chefgötzen von 80 Millionen Hooligans" im Studienplan hat.
Manfred Prescher sprach mit Ted Gaier - und beide freuten sich über den erneuten Kontakt. Wozu hat man gemeinsam die vierzig überschritten und eilt auf die fünfzig zu, ohne in allgemein vorgeschriebener Würde zu altern wie das Heer der Hansi-Hinterlader-Fans?
Kurz vor dem Gespräch übermittelten die Zitronen noch das neue Album "Die Entstehung der Nacht", ein wunderbares Werk, das - wie alle Platten mindestens seit "Das bißchen Totschlag" - zunächst völlig losgelöst vom bisherigen Schaffen wirkt, aber insofern doch in einer direkten Reihe mit "Lenin" oder sogar "Economy Class" steht. Stillstand wäre der Tod dieser Gruppe. Nur wer sich stetig weiterentwickelt und eben nicht auf dem erreichten Level stehenbleibt, kann der "Aspekte"-Fraktion einen Schritt voraus sein und den sogenannten "Blixa-Bargeld-Effekt" umgehen. Ein Schritt voraus gegen Vereinnahmung - und weil man sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen will. Ganz nebenbei ist "Die Entstehung der Nacht" ein durchaus angenehm hörbares Album, zumindest, wenn man sich darauf einlassen will. Die Zitronen belegen, daß sie trotz oder wegen ihrer "chaotischen Arbeitsweise" (Ted Gaier) auch noch richtig gute Melodien hinkriegen.
EVOLVER: War es denn euer Ziel, mit einigen der neuen Songs auf ältere Alben zu verweisen?
Gaier: Haben wir das getan? Wenn du das so empfindest, geht das in Ordnung, aber Absicht war das keine. Ich bin neugierig, welche Stücke du meinst.
EVOLVER: Ich denke da an "Börsen Crashen", das im direkten Punk-Kontext der LP "Punk Rock" zu stehen scheint. Und an das groovige, fast Madness-artige "Wir verlassen die Erde" ...
Gaier: Madness? Ska habe ich da eigentlich noch nicht reininterpretiert, aber sag: Bist du nicht der, der uns vor Jahr und Tag eine Nähe zu John Coltrane angetextet hat?
EVOLVER: Ja, und ich nehme es auch nicht zürück.
Gaier: Dabei hatten wir Coltrane damals noch gar nicht gehört, trotzdem waren wir natürlich ziemlich stolz auf diesen Verweis. Aber die Entstehung der Songs folgt natürlich keiner Vorgabe, daß das so und so zu klingen habe. Natürlich bringt jeder von uns seinen Background mit, wir arbeiten ja nicht im luftleeren Raum, aber eigentlich bestimmen unsere offen improvisierte Arbeitsweise und das Thema des Stückes, in welche Richtung es geht.
EVOLVER: Wenn man das ganze Album betrachtet, muß man feststellen, daß die Nacht viele Facetten hat.
Gaier: Genau darum geht es. Die Nacht ist natürlich die Zeit der dunklen Geschöpfe von Poe, sie ist aber noch viel mehr. Sie kann romantisch sein, sie kann die Zeit der Liebe oder die von Partys sein ...
EVOLVER: Und die Zeit von Debattierklubs?
Gaier: Auch die, natürlich. Auf jeden Fall wollten wir keine düstere Horrorshow mit nachtaktiven Monstern aufnehmen, wir sind nun mal gern auch Nachteulen. Natürlich reden wir trotzdem nicht die schlimmen Zeiten schön. Wir tun schon eine ganze Weile nicht mit dem Kapitalismus mit.
EVOLVER: Du hast dich neben deiner Arbeit am neuen Album auch noch um die Vinyl-Umsetzung der klassischen Zitronen-Platten "Fuck You" und "Punk Rock" gekümmert. Wie war das für dich?
Gaier: Im Prinzip wie das aufmerksame Durchblättern eines alten Photoalbums. Mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten konnte ich mich durchaus positiv den beiden Platten nähern. Wobei ich natürlich wußte, daß speziell "Punk Rock" den Übergang von unserer Frühphase zu unser Jetztzeit bildet, aber die Arbeit an der Platte machte das nochmal deutlicher. Damals im Studio ahnte keiner von uns, wie sich die Gruppe weiterentwickeln wird.
EVOLVER: Mittlerweile sind besonders du und Schorsch in vielen Kontexten aktiv - Schorsch in München und Zürich als Theaterregisseur und Autor; du bist unter anderem Schauspieler, machst viel Theatermusik. Wirkt sich dieses Schaffen auf die Zitronen aus?
Gaier: Das tut es ganz zwangsläufig, denn jeder Bereich ändert auch deine Sichtweise auf die eigene Arbeit. Es ist eine Horizonterweiterung, die man zulassen muß. Ich gehe auch an die Theatersachen frei ran, was aber auch daran liegt, daß ich selten mit dem etablierten Kulturbetrieb zu tun habe.
EVOLVER: Im Gegensatz zu Schorsch ...
Gaier: Richtig, aber das ist eine persönliche Entscheidung - und Schorsch schafft es, auch innerhalb der Institutionsmaschine er selbst zu bleiben. Meine Erfahrungen sind da eher zwiespältig.
EVOLVER: Schorsch fährt dann mitten im Stück mit den Theaterbesuchern ein Bier trinken. Schräg sein ist also auch im Mainstream angekommen.
Gaier: Völlig klar, der Underground, das Schräge, oder wie du es immer nennen willst, werden vom Mainstream aufgesaugt. Du kannst dich damit arrangieren - oder du mußt gedanklich und musikalisch mindestens schon einen Schritt weiter sein. Denn das Aufsaugen ist ja ein kaum spürbarer, weil andauernder Prozeß.
EVOLVER: Womit wir irgendwie bei Jochen Distelmeyer und Blumfeld wären ...
Gaier: Nicht nur bei dem. Ich erinnere mich an das Abschiedskonzert von Blumfeld, weil mir da aufgefallen ist, daß das Publikum komplett in Jochens, also unserem Alter war. Sonst hast du auf jedem Konzert Ältere und Jüngere, aber die Blumfeld-Szene wollte von Anfang an unter sich sein.
EVOLVER: Also Abgrenzung des Sozialwissenschaftsstudenten vom tumben Rest der Menschheit, das kann man doch verstehen, oder? Bloß, daß sowas schon mal in selbstreferentielles Besserwissertum ausartet.
Gaier: Dagegen sollte man sich schon wehren, weil man sich ganz leicht in seinem eigenen Saft auflöst ...
EVOLVER: Da fällt mir der schöne Begriff "Fusion-Kaugummi" auf, den ihr verwendet. Der ist neben dem Wort "Selbstbewußtlein" der für mich Schönste. Wußtest du, daß es Fusion-Kaugummi echt gibt?
Gaier: Nein, den kenne ich nicht. Aber vielleicht Schorsch, der hat dieses Thema verfolgt. Bei der immer weiter voranschreitenden Produktdifferenzierung wundert es mich aber nicht, daß sowas in die Läden kommt.
EVOLVER: Stimorol hat den Fusion-Kaugummi herausgebracht, den gibt´s auch in der Geschmacksrichtung "Chocolate ´N Mint"...
Gaier: Darüber solltest du mit Schorsch reden, der hat ein Faible für solche Auswüchse des Kapitalismus.
EVOLVER: Zurück zur Musik: Es scheint so, als ob Ihr die Sprache noch stärker als Instrument einsetzt als bisher. Gleichzeitig hat man auch das Gefühl, daß die Instrumente noch mehr Sprachelement sind. Seid ihr auf dem Weg zum politischen Instrumental?
Gaier: Das nicht, wir glauben aber, daß die Botschaft generell von der Stimme und der Instrumentierung getragen werden soll. Die Musik wird aber immer wichtiger für uns. Zur Zeit von "Totschlag" und "Economy Class" stand das Wort so stark im Vordergrund, daß es den Sound zur Seite drängte. Heute steht beides gleichberechtigt nebeneinander, bedingt sich und ist nicht losgelöst voneinander zu betrachten. Insofern reiht sich die menschliche Stimme schon in das Sound-Gefüge ein. Nichtsdestotrotz bleibt die Sprache - und damit der Text - für uns extrem wichtig.
Was dann folgte, war eine launige halbe Stunde über alte Zeiten, über Neoliberalismus, den es nicht erst seit Guido Westerwelle gibt, über Pop und Marktmechanismen. Zum Schluß wurde dann noch eine Einladung ausgesprochen, das Gespräch nach dem Zitronen-Konzert in Nürnberg fortzusetzen. Der Autor hat sie angenommen ...
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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