Stories_Gert Westphal

Die Stimme

Daß sich Hörbücher zunehmender Beliebtheit erfreuen, dürfte zwar auch gewissen Leseproblemen jüngerer Generationen geschuldet sein. Andererseits war es immer schon ein besonderes Vergnügen, herausragenden Interpreten zuzuhören.
Eine Erinnerung an den "König der Vorleser", der dieser Tage 90 Jahre alt geworden wäre. Von Hans Langsteiner    09.10.2010

Hörbuch-Verleger werben gerne mit "deutschen Stimmen". In diesem Krimi, in jenem SF-Hörspiel sei die "deutsche Stimme" von Bruce Willis oder Jodie Foster zu hören. Ich habe das nie verstanden. Soll das heißen, man habe sich beim Anhören Herrn Willis oder Frau Foster als die jeweilige Figur vorzustellen? Und was würde das dann bringen? Hörbucher sind keine Filme, die man beim Abhören gleichsam à la Hollywood "besetzen" muß; gute Sprecher verfügen über ganz andere Qualitäten. Gert Westphal hat das unübertrefflich demonstriert.

Jedes Mal, wenn ich eine CD mit einer seiner Lesungen einlege, kämpfe ich schon nach dem ersten Satz mit den Tränen - nicht, weil der Text unbedingt so rührend sein muß, sondern weil die Begegnung mit dem absolut Perfekten kaum andere Reaktionen zuläßt. Wenn Westphal liest, ist man in den allerbesten Händen. Kein Satz, kein Wort, das man sich anders akzentuiert auch nur denken könnte, ein sicherer Rhythmus trägt einen selbst durch komplexeste Strukturen, und gebannt lauscht man sogar Texten, die man in gedruckter Form vielleicht nicht zu seinen Lektüre-Favoriten zählen würde.

Woran liegt das? Zum einen natürlich an Westphals Stimme: Sein sonores Organ lädt gleichsam dazu ein, sich mit einem Glas guten Rotweins an den Kamin zu setzen - also das genaue Gegenteil angespannt-genialischer Timbres wie etwa von Oscar Werner oder Klaus Kinski (die auch ihre Meriten haben!). Doch die schönste Stimme wäre langweilig, würde sie unbeteiligt und fade eingesetzt. Westphal gestaltet jeden einzelnen Satz, jede einzelne Figur eines Textes mit einer wachen Intelligenz, die sich nie in den Vordergrund drängt, sondern immer dem Autor dient. Ob ein bestimmtes Adjektiv eine Behauptung verstärkt oder halb zurücknimmt - bei Westphal hört man es sofort. Ob eine Romanfigur lügt, heuchelt oder Wahres ausspricht: er macht es mit winzigen Temporückungen und Modulationen deutlich.

Selbst tragischen Stücken wie Thomas Manns "Tod in Venedig" gewinnt der Sprecher subtile Ironie ab, selbst handlungslose Beschreibungen wie Theodor Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" geraten in Westphals Interpretation abwechslungsreich und spannend.

 

Dabei hat der Sohn eines Dresdner Fabrikanten erst spät zu seiner eigentlichen Berufung gefunden. Nach dem Krieg (den er mit mehreren Verwundungen überlebte) begann Westphal als Bühnenschauspieler und Radio-Regisseur, etwa bei Radio Bremen und dem Südwestfunk Baden-Baden. 1963 gelang ihm der Durchbruch als - so ein Kritiker - "König der Vorleser": Er trug an 28 Abenden Thomas Manns "Josefsromane" im Norddeutschen Rundfunk vor, und machte aus der spröden Bibel-Allegorie einen veritablen Straßenfeger.

Jetzt höre ich den Einwand: Alles schön und gut, aber hat der Mann denn nur alte Klassiker zu bieten? Ja und nein. Westphals Domäne liegt sicher beim Trio Goethe/Fontane/Mann, daran führt kein Weg vorbei. Aber es gibt auch zahlreiche Lesungen ganz anderer Art: Die legendären "Lyrik & Jazz"-Einspielungen mit Joachim-Ernst Behrendt oder Gedichten von Benn und Heine zählen ebenso dazu wie Karl Mays "Schatz im Silbersee" und Atemberaubendes von Stefan Zweig und Arthur Schnitzler. Es gibt wunderbare Balladen-Sammlungen von ihm, und Komisches in Sächsisch. Patrick Süskinds "Das Parfum" hat Westphal so unübertrefflich eingelesen, daß man sich fragt, wozu der Diogenes-Verlag eine Neuversion mit Hans Korte für erforderlich erachtete.

Das führt uns jedoch zu einem aktuellen Problem: Nicht alles von Westphal ist derzeit im Handel erhältlich - das erwähnte "Parfum" etwa ist seit langem vergriffen, desgleichen Dostojewskis "Schuld und Sühne" und Kafkas "Prozeß", beides seinerzeit nur auf Musikkassette erschienen. Was tun? Ich empfehle fürs erste, einmal bei Zweitausendeins vorbeizuschauen; da gibt es viele Westphal-Boxen zu erstaunlich günstigen Preisen. Litraton in Hamburg hat auch Rareres und liefert gern ins Ausland. Sonst bleiben nur Ebay und ähnliche Börsen.

 

Einstiegstipps: "Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" von Thomas Mann, "Der Schatz im Silbersee" von Karl May (ungekürzt und unbearbeitet!) und die "Schachnovelle" von Stefan Zweig (Hörspiel mit Westphal als Erzähler, gerade neu aufgelegt).

In jedem Fall gilt: Absolute Suchtgefahr! Ich weiß, wovon ich rede.

 

 

              

 

Hans Langsteiner

Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

ØØØØØ

Lesung von Gert Westphal

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Universal Music (2005)

Links:

Karl May: Der Schatz im Silbersee

ØØØØØ

Lesung von Gert Westphal

Leserbewertung: (bewerten)

Universal (2000)

Links:

Stefan Zweig: Schachnovelle

ØØØØ 1/2

Hörspiel

Leserbewertung: (bewerten)

Dhv der Hörverlag (2010)

 

mit Willy Trenk-Trebitsch, Mario Adorf, Gert Westphal

Links:

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