Michel Foucault - Dits et Ecrits. Schriften
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Suhrkamp-Verlag (Frankfurt a. M. 2001-2004)
Der 25. Juni 2004 ist der 20. Todestag des französischen Philosophen Michel Foucault. Gerhard Pretting untersucht das (kommerzielle) Erbe des Uni-Professoren-Lieblings. 06.04.2004
Foucault, der zeitlebens umstrittene Franzose, gilt heute als der wohl wichtigste Denker der Moderne - was die Flut an Veröffentlichungen beweist, die auch zwei Jahrzehnte nach seinem Tod nicht verebben will. Bei Google ergibt die Suchanfrage mehr als 147.000 Einträge zu "Michel Foucault", und amazon hat nicht weniger als 189 Titel im Sortiment.
Da im Verlags-Busineß die gleichen Mechanismen vorherrschen wie im Pop, stürzt man sich auch dort mit Vorliebe auf tote Stars. Die bringen gute Verkaufszahlen und sind pflegeleicht, weil sie nicht mehr widersprechen können. Und ähnlich wie Plattenfirmen stehen auch die Verleger vor dem Problem, daß der tote Held leider nichts Neues mehr produziert. Im Musikgeschäft wurde die Antwort auf diese Misere schon längst gefunden: Schnell werden rare B-Seiten, seltene Live-Aufnahmen oder neu edierte Boxen auf den Markt geworfen.
Aber bei Autoren? Zumal bei Philosophen? Da funktioniert es ganz ähnlich. Mit Live-Aufnahmen wird der Fan zwar noch verschont, aber es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis man die Vorlesungen, die Foucault vor allem am College de France, aber später - ebenfalls wie ein Popstar, der eine Welttournee absolviert - überall auf dem Globus gehalten hat, als 500-CD-Box zu kaufen bekommt. Noch aber konzentrieren sich die Verleger aber auf das Geschriebene, wo an Material anscheinend auch kein Mangel herrscht.
Auf deutsch erscheinen gerade vier Interview- und Aufsatzbände Foucaults. Der Titel: "Dits et Ecrits. Schriften". Darin findet man genau das Angepriesene, nämlich: Gesprochenes und Geschriebenes. An sich eine brillante Idee, weiß man doch, daß der Philosoph bei Vorträgen und Interviews Einsichten formulierte, die in seinen Büchern nicht zu finden sind. Das Problem bei "Dits et Ecrits" ist aber die schiere Fülle des Materials, denn jeder der vier Bände (Schriften Nummer 3/1976-1979 ist soeben erschienen) umfaßt mehr als 1000 Seiten! Insgesamt erwarten den Leser also über 4000 Seiten Sekundärliteratur.
Und auch das ist noch nicht alles: Die Vorlesungen, die Foucault als Professor am College de France von Januar 1971 bis zu seinem Tod 1984 gehalten hat, erscheinen noch separat in 14 Bänden à 400 Seiten. Mit einem Wort: Uff! Wer soll das alles lesen? Und vor allem: Lohnt es sich, das alles zu lesen? Die Antwort ist schlicht und einfach: nein. Und das vor allem aus einem Grund: "Dits et Ecrits" ist nichts anders als die moderne Form der Hagiographie. Hier wird alles, was Foucault irgendwann einmal geschrieben hat, abgedruckt und mit der Aura der Wichtigkeit versehen. Text als Reliquie. Auf editorische Arbeit wurde bewußt verzichtet, um kein Wort des Meisters zu unterschlagen. Und so steht das Interessante neben dem Banalen, das Aufregende neben dem schon tausendmal Gehörten. Eines zeigen die vier Bände mit allem Nachdruck: Wie der Philosoph Foucault zum Superstar Foucault wurde, der in Interviews immer und immer wieder das gleiche gefragt wird (und immer und immer wieder ähnliche Antworten gibt). Das Schicksal des Stars eben. Auch quantitativ läßt sich das gesteigerte Interesse der Öffentlichkeit an Foucault anschaulich darstellen: Für Band 1 wurden Schriften aus 16 Jahren kompiliert, um 1000 Seiten zu füllen. Für Band zwei waren nur noch sechs Jahre nötig, für Band drei dann überhaupt nur noch vier.
Was bekommt der Leser also für sein Geld? (Und Geld wird er brauchen, denn jeder Band kostet zirka 60 Euro...) Zuallererst erhält er ein imposantes Bücherregal, denn die vier Bände geben optisch schon was her. Inhaltlich ist diese Frage nicht so leicht zu beantworten. Viele der hier enthaltenen sogenannten "kleinen Texte" sind bereits vor Jahren anderweitig erschienen. Der engagierte Berliner Merve-Verlag zum Beispiel veröffentlichte schon in den späten 70er Jahren Interviews und Artikel von Foucault - zu einer Zeit also, als Suhrkamp für diese Nebenprodukte kein Interesse zeigte. Und im Gegensatz zum aktuellen Projekt erschienen dort eben nur bestimmte Texte, ausgewählt nach Schwerpunkten und Relevanz. Ein weiteres seltsames Phänomen im Umgang mit dem Textkonvolut: Der Suhrkamp-Verlag selbst veröffentlicht die längeren und wichtigeren Texte aus "Dits et Ecrits" noch einmal als separate Werke. "Die Wahrheit und die juristischen Formen", ein Vortrag an der Katholischen Universität Rio de Janeiro vom Mai 1973, findet sich in Band zwei der Schriften, erschien aber bereits letztes Jahr in der Reihe "suhrkamp taschenbuch wissenschaft". Textverwertung bis zum Überdruß.
Die nun stattfindende Verherrlichung und vollkommen unreflektierte Lobpreisung Foucaults erscheint auch deshalb so deplaziert, weil man davon ausgehen kann, daß dem Autor selbst - der ja unter anderem dafür bekannt wurde, den "Tod des Autors" ausgerufen zu haben - dieses Unterfangen zutiefst zuwider gewesen wäre. In Foucaults Studien spielt das Individuum immer nur eine passive Rolle. Er schreibt keine Heldensagen über Menschen, die etwas bewegen, sondern versucht abstrakte Systeme zu kennzeichnen, die das Verhalten des Einzelnen prägen, diesen aber glauben lassen, daß er das, was er tut, aus freiem Willen tut. Foucault wendet sich damit gegen den Humanismus - nicht deswegen, weil er gegen die Menschen ist, sondern weil er erkannt hat, daß die übertriebene Betonung des freien Willens, der freien Gestaltungsmöglichkeit und des Ichs, die Sicht auf die anderen, wichtigeren, darüber- und darunter liegenden Wahrheitslinien verstellt. Und deshalb wandte sich Foucault auch gegen die Idee des Autors. Denn diese sei der Angelpunkt für die Individualisierung der Geisteswissenschaften, was zur Konsequenz hat, daß sich alle nur mehr dafür interessieren, wer spricht, und nicht dafür, was gesagt wird.
"Die Anonymität ist ein Weg, mich direkter an den eventuellen Leser zu wenden, an die einzige Person, die mich interessiert. Da du nicht weißt, wer ich bin, bist du nicht der Versuchung ausgesetzt, nach den Gründen zu suchen, warum ich sage, was du liest; nimm dir die Freiheit, dir ganz einfach zu sagen, das ist wahr, das ist falsch. Das gefällt mir, das gefällt mir nicht. Punkt, Schluß."
Genau diese Absicht wird durch die aktuelle Heiligschreibung des Autors verunmöglicht. Hier geht es nämlich nicht mehr darum, ob das Gesagte wahr oder falsch, passend und unpassend ist, sondern nur darum, daß es mit dem Signet "Michel Foucault" versehen wird. Denn nur das garantiert klingende Kassen.
Michel Foucault - Dits et Ecrits. Schriften
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Suhrkamp-Verlag (Frankfurt a. M. 2001-2004)
Von den Roaring Twenties schnurstracks in die große Krise ... Gerhard Pretting las die Liebesbriefe zweier der wichtigsten Vertreter der "lost generation".
Der 25. Juni 2004 ist der 20. Todestag des französischen Philosophen Michel Foucault. Gerhard Pretting untersucht das (kommerzielle) Erbe des Uni-Professoren-Lieblings.
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