Stories_In memoriam Elvis Presley

Long live the King

Am 16. August 1977 hat sich Elvis Aaron Presley ins Jenseits verabschiedet. Obwohl der Tod des "King of Rock’n’Roll" schon 33 Jahre zurückliegt, gibt es noch immer keinen nennenswerten Thronfolger. Woran es liegt? r.evolver wagt sich aufs dünne Eis der Spekulation.    16.08.2010

Am 16. August jährt sich zum dreiunddreißigsten Mal jener denkwürdige Tag, an dem die Rockmusik ihren unumschränkten König verlor. Der Mann, der Elvis Aaron Presley hieß, tat seinen letzten Atemzug, und es sei dahingestellt, ob eine Toxikose oder ein biederer Herzinfarkt dafür verantwortlich waren. Was spielt es auch für eine Rolle? Die Welt hat am 16. 8. 1977 ein Phänomen verloren ... und gleichzeitig einen Mythos erschaffen. Einen Mythos, der selbst 33 Jahre, nachdem Elvis zum letzten Mal das Gebäude verlassen hat, die Kassen klingeln läßt. So weit, so lukrativ.

 

Aber was machte den Guitar Man so unverwechselbar, so phantastisch, so grandios? Seine Stimme, sein Aussehen, seine Ausstrahlung? Wahrscheinlich haben alle diese Faktoren (und noch einige mehr) dazu beigetragen, daß Elvis auf jenem Thron landete, der ihm ohne Zweifel zustand. Wem diese Erkenntnis zu einfach gestrickt ist, der darf sich gern durch tausende Bücher und Artikel arbeiten, um am Ende seiner Nachforschungen erst wieder vor der Frage zu stehen: Welche bislang nicht zutage geförderte Erkenntnis sollte uns - mehr als ein Vierteljahrhundert nach Elvis’ Ableben - noch den Horizont erhellen?

Immerhin haben ungefähr 10.000 Musikjournalisten und Fans jedes seiner Kleidungsstücke, jeden Hüftschwung, jedes Gramm Vinyl und jeden Zentimeter Zelluloid (auf dem er meist in billigen Rollenklischees zu sehen war) analysiert, kommentiert und dokumentiert. Was also noch über eines der größten Ausnahmetalente des 20. Jahrhunderts schreiben, was nicht eh schon jeder geschrieben hätte? Sie alle sind ja letztendlich zu dem Schluß gelangt, der sehr wahrscheinlich auch Ausgangspunkt der Auseinandersetzung war: Elvis war der "King of Rock’n’Roll". Punkt.

 

Wenn sich schon das Phänomen nicht exakt erklären läßt, bleibt dem geneigten Chronisten wenigstens das Vergnügen der Spekulation: Was wäre (gewesen), wenn? Ja, begeben wir uns ruhig ins grenzenlose Reich der Hypothese, und stellen wir anläßlich dieses denkwürdigen Tages folgende durchaus unterhaltsame Überlegungen an:

 

Szenario 1: Der "King" erwacht am 16. August, wie an jedem anderen Tag seines Lebens, und läßt sich zur Probe chauffieren, um James Burton und die anderen Burschen zu treffen.

Diese These ist die am wenigsten aufregende. Wäre Mr. Presley heute noch am Leben, hätte sich sehr wahrscheinlich nicht viel geändert. Es gäbe zwar wahrscheinlich eine Spur weniger Graceland-Kult, dafür wäre der King nach wie vor in Amt und Würden. Keine Frage, Elvis wäre derselbe Superstar wie vor 33 Jahren, hätte - trotz Toupet - den Madison Square Garden noch vor Elton John am öftesten bis zum letzten Platz gefüllt, und wahrscheinlich hätte er in der Zwischenzeit ein paar nette Alben mit Songs von Nirvana bis Metallica aufgenommen. Nehmen wir noch das Klischee von den bösen Musikkonzernen dazu, das besagt - jeder weiß es -, daß sich Tote besser verkaufen als Lebende. Insofern würden die fiktiven Verkaufszahlen den tatsächlichen wahrscheinlich ein wenig hinterherhinken.

Also wäre alles so, wie es war, nur ein bißchen weniger aufregend, ein bißchen weniger mythenbesetzt. Wenden wir uns also dem zweiten spekulativen Ansatz zu, der schon spannender daherkommt ...

 

Szenario 2: Elvis taucht am 16. August 1977 unter, um in einem tibetanischen Kloster innere Einkehr zu halten. Vielleicht, weil er dort - irgendwo auf dem Dach der Welt - nach wie vor am ultimativen Rocksong bastelt, der in der Welt der Popmusik alles verändern wird.

Wunderschön. Für den eingefleischten Elvis-Fanatiker, der das Objekt seines Kults in religiöser Verehrung anbetet, harrt die These eigentlich nur ihrer Verifikation. Der Schreiber dieser Zeilen präferiert übrigens das alternative Szenario mit den Außerirdischen, die Elvis entführt haben, um sein grandioses Talent einer hochtechnischen Analyse zu unterziehen. Aber bitte, ein echter Fan nimmt natürlich auch gern das buddhistische Kloster - Hauptsache, die stille Hoffnung auf ein baldiges Wiedererscheinen wird weiterhin genährt.

 

Gehen wir jetzt einmal vom entgegengesetzten Fall aus (Szenario 3): Elvis kann gar nicht wiederkommen, weil es ihn nie gegeben hat. Er starb nämlich 1935 (so wie sein Zwillingsbruder Jesse Garon) unmittelbar nach der Geburt. Somit senkt sich der Vorhang, noch bevor er aufgehen kann. Fin. Kein "Heartbreak Hotel", kein "Jailhouse Rock" sorgen für Skandale und Randale.

Ja, aber wer hätte in diesem Fall die Kids der wilden 50er Jahre und nachfolgende Musikergenerationen, von den Beatles bis hin zu Led Zeppelin, geprägt? Bill Haley war schlicht zu fett und hatte zu wenig Sex-Appeal. Letzteres trifft auch auf Roy Orbison und Eddie Cochran zu. Johnny Cash kam zu düster daher. Und Chuck Berry? Na ja, der mag zwar unzählige Gitarristen beeinflußt haben, aber kaum einen Sänger.

Um jetzt den Kulminationspunkt wüstester Spekulation zu bemühen, bleibt eigentlich nur Pat Boone, der weiß, bieder und religiös genug war, um Medien und Plattenkonzerne zu überzeugen, und der mit seinen Auftritten in der Öffentlichkeit ebenfalls für hysterische Teenager-Tumulte sorgte. Man stelle sich nur vor: Eine ganze Sängerriege - von John Lennon bis Robert Plant - wäre von einem Song wie "Speedy Gonzales" beeinflußt worden. Geht nicht, oder? Eben.

Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob es Bands wie die Rolling Stones oder Deep Purple ohne diese einzigartige Stimme gegeben hätte - eine Stimme, die nachfolgenden Rock’n’Roll-Protagonisten schon in deren frühester Jugend vormachte, wie ein Weißer tiefschwarz zu singen hat.

Wem dieses Szenario zu nihilistisch erscheint, der kennt das vierte noch nicht ...

 

Beenden wir den phantastischen Reigen mit der schlimmsten Annahme, nämlich Szenario 4: Der King kommt nicht 1935 zur Welt, sondern erst 1990. Somit ist er heute 20 und ungefähr in dem Alter, als seine reale Inkarnation unter den Fittichen des Produzenten Sam Phillips mit genreprägenden Titeln wie "That’s All Right Mama " erste Karrieremeilen zurücklegte.

Heute sähe das natürlich anders aus: Elvis bekäme sofort einen anderen Namen - etwa: "MC Pelvizzz" - verpaßt, müßte sich in irgendeiner perversen Casting-Show zurechtbiegen und von Figuren vom Schlag eines Dieter Bohlen beleidigen lassen, bevor er vor die kreativen Hunde ginge. (Tatsächlich bemühte sich schon anno 1956 Steve Allen in seiner NBC-Show redlich, dies zu erreichen, als er dem Sänger auferlegte, zu "Hound Dog" einen Bassett zu umarmen.) So er dieses Desaster auch nur einigermaßen psychisch übersteht, klingt seine Stimme nachher nicht mehr nach einer einzigartigen Mischung aus Rhythm & Blues, Gospel und Country, sondern vielmehr glattgestrickt, beliebig und austauschbar.

Ein grauenvolles Bild - kein noch so brutaler Horrorstreifen treibt einem derart den Angstschweiß auf die Stirn.

 

Sosehr die Anhänger des King den 16. August 1977 als schwärzesten Tag in der Geschichte des Rock’n’Roll verfluchen und verdammen: Wenn sie diese vier Szenarien vor ihrem geistigen Auge wie einen Episodenfilm ablaufen lassen, muß es ihnen als Geschenk des Himmels erscheinen, daß Elvis kam und ging, als es an der Zeit war.

Sagen wir es doch zum Abschluß ruhig mit einer Prise von jenem Pathos, mit dem Elvis in der letzten Schaffensperiode gern sein Timbre würzte: Ein wahrer König weiß, wann seine Regentschaft zu Ende ist - und ein gutes Volk weiß, wann es seinen König zu Grabe tragen muß.

 

Also: Der König ist tot, Leute, es lebe der König! Und das kann nun einmal kein anderer sein als er.

r. evolver

Kommentare_

patricia - 16.08.2010 : 20.58
Super Beitrag, klasse Szenarien. Long live the King ;-)
philipp - 18.08.2010 : 11.40
Schöner Text, aber mir gefällt der Elvis-Beitrag, den ihr zum letzten Jubiläum geschrieben habt, besser. Der würdigt Elvis doch umfassender. Zumal ja eigentlich klar ist, dass die Stones mehr von Berry, Diddley usw beeinfusst wurden. Chuck Berry war mehr Rock'n'Roll als Elvis, aber Elvis war viel mehr als Rock'n'Roll.
ron wood - 18.08.2010 : 19.02
Klar ist, dass die Stones wohl am stärksten von Muddy Waters und Jimmy Reed beeinflusst worden sind, aber von Elvis haben sie (und alle anderen ihrer Zeit) gelernt, wie ein weißer den Rhythm & Blues phrasieren muss. Davon abgesehen, hätten Platten schwarzer Interpreten ohne Elvis niemals ihren Weg in die Jugendzimmer der 50er und 60er-Jahre gefunden und somit auch nicht in die Zimmer von Mick Jagger und Keith Richards. Und davon abgesehen, war Elvis der Rock 'n' Roll-Musiker seiner Zeit und Chuck Berry war der Rhythm & Blues-Gitarrist seiner Zeit.

Stories
Faye Hell

Oh! It´s a Faye!

Ihr Stil ist so irre wie eine Performance von GG Allin: selbstzerstörerisch, voller Exkremente und ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten. Dabei sind die Handlungsbögen ihrer gelegentlich gewöhnungsbedürftigen Plots ausgefeilt, ihre witzige Sprache fast schon virtuos und ihr Tempo definitiv atemberaubend - das ist Faye Hell, die sympathische Freibeuterin im mörderischen Bermuda-Dreieck der Horrorliteratur. r.evolver läßt sich kapern und bittet bei der Gelegenheit zum Interview.  

Stories
Markus Kastenholz im Inteview mit r.evolver

If I Had A Hammer

Seit rund einem Jahr verbreiten die Hammer Boox von Markus Kastenholz einen neuen Stil in der Horror-Literatur: Trashig, bunt-witzig und unbeschwert punktet der Indie-Verlag haargenau mit jenem essentiellen Charme, der Genre und Szene in den letzen paar Jahren gänzlich abhanden gekommen ist. r.evolver konnte nicht widerstehen und bat den Neoverleger zum Interview.  

Stories
John Aysa im Inteview mit r.evolver

Dünnpfiff infernal

Er provoziert, geht hart an die Grenzen des guten Geschmacks und ist dabei trotzdem unterhaltsam. Die Rede ist von John Aysa. Der Wiener Autor zählt zu den jungen Wilden der neuen deutschsprachigen Phantastik und ist immer für einen Aufreger gut. Für die Rezeption seines neuen Romans "Der Widerliche" empfiehlt der Autor gute Magennerven. r.evolver schluckt Iberogast und bittet zum Interview ...  

Print
Surfin’ Saigon – das Buch

Leichen pflastern ihren Weg

Kay Blanchard rules! In "Surfin’ Saigon" kämpft sich der Todesengel des MI6 bereits zum dritten Mal gewohnt sexy, brutal und voll mit Amphetaminen durch r.evolvers irres Nazi-Universum. Thomas Fröhlich hat sich an das neue haarsträubende Abenteuer der ungewöhnlichsten Agentin Ihrer Majestät gewagt ...  

Stories
r.evolver - Surfin Saigon, Kapitel 02

Frankensteins Todesrennen

Wie´s ausschaut, hat Kay ein Kind gehabt. Was wird sie jetzt unternehmen? Gott sei Dank ist unsere Agentin einigermaßen stressresistent, man möchte sogar sagen "bulletproofed" (zumindest hat sie bis heute jeden Einsatz überlebt). Glück im Unglück - weil jetzt geht´s erst so richtig los.  

Stories
r.evolver - Surfin Saigon, Kapitel 01

Berserk - Zirkus des Todes

Nur noch ein paar Tage bis zum Erscheinen des neuen Kay-Romans "Surfin´ Saigon"! Verkürzen Sie sich - exklusiv im EVOLVER - die Wartezeit mit der Lektüre der ersten Vorabkapitel. Was bisher geschah: Kay wurde vom Geheimdienst abgezogen und befindet sich mit Tochter Ruby in der Zone Lienz. Dort fristet sie in der britischen Botschaft ihr Dasein als Analystin von Aufklärungsdaten. So weit, so öd. Doch das Ende der ruhigen Lebensphase naht ...