Stories_Berufsrisiko

Eine kurze Geschichte über das Grauen

Das Schlimmste ist, daß sie den Kopf zu mir drehen und mich anzusehen versuchen, während ich sie über den Haufen fahre. Sie ziehen nur den Kopf ein wenig ein und schauen mich irgendwie traurig an ...    10.01.2011

... während ich über sie drüberfahre. Es ist jedes Mal dieselbe Stelle, diese verdammte Brücke vor Harland, wo sich die grünen Lärmschutzwände links und rechts vom Gleis kaum vom umgebenden Auwald und von dem breiten, behäbigen, total veralgten Fluß unter dem Tragwerk abheben.

Immer wieder knallen Schwäne, die unter der Brücke von ahnungslosen Spaziergängern angefüttert werden, gegen diese Lärmschutzwände und bleiben verletzt auf dem Bahnkörper liegen. Die Trasse zwischen den Lärmschutzwänden ist zu schmal. Nicht für Züge, aber für Schwäne. Die können nicht mehr starten, nicht mehr abheben. Nach ein paar vergeblichen Versuchen hocken sie erschöpft auf dem Gleis und zeigen keinerlei Fluchtverhalten.

Ein, zweimal die Woche, manchmal auch öfter, fahre ich einen Schwan tot, der mich dabei ansieht. Jedes Mal an dieser vermaledeiten Stelle vor Harland. Mein Gott, wenn mir ein Feldhase reinspringt, oder ich überfahre eine wildernde Katze, na ja, aber ein Schwan!

Am schlimmsten sind die Liebes- beziehungsweise Ehepaare! Wenn wieder einmal ein Schwan gegen die Lärmschutzwand kracht und verletzt liegenbleibt und sein Partner das bemerkt, dann läßt ihn sein Gefährte nicht allein. Flügelschlagend, hypernervös und voller Sorge bleibt der unverletzte Schwan an der Seite des maroden. Niemand kann ihn oder sie von dort vertreiben. Auch nicht meine tonnenschwere Taurus-Lok. Wider Willen habe ich als Gevatter Tod schon so manche Ehe endgültig geschieden. Eine Notbremsung kommt leider laut Dienstvorschrift nicht in Frage. Erstens brettle ich mit der Taurus mit über hundert Sachen dahin und der Bremsweg bemißt sich in Kilometern. Das ginge sich nie und nimmer aus. Und zweitens gefährdet jede Notbremsung die Passagiere, also sind mir die Hände gebunden.

Mittlerweile habe ich schon bei allen möglichen und unmöglichen Dienststellen vorgesprochen und vorgeschlagen, ja verlangt, daß die Lärmschutzwände bei der Brücke auffälliger bemalt werden oder daß wenigstens Bewegungsbänder und Blechtaferl auf der Oberleitung angebracht werden, aber in Zeiten wie diesen gibt doch niemand ein Geld aus. Schon gar nicht für ein paar desorientierte Wasservögel.

Ich kann schon gar nicht mehr richtig schlafen, weil ich immer daran denken muß, daß ich morgen vielleicht wieder einen Schwan töten werde. An manchen Tagen sogar zwei oder drei. Einen auf der Hinfahrt, ein Pärchen auf der Rückfahrt. Dabei war Lokführer mein Traumberuf. Schon von Kindesbeinen an. Heute würde ich die Taurus am liebsten in die Luft sprengen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Manchmal denke ich sogar schon an Rohrreiniger oder eine Besichtigung des Domturmes, aber ich kann das noch unterdrücken.

Gestern Nacht habe ich geträumt, daß ich selber gegen eine Lärmschutzwand geflogen bin. Ein furchtbarer Kracher, und ich bin mit einem mehrfach gebrochenen Flügel am Gleiskörper gelandet. Die Schmerzen waren unbeschreiblich, einfach nicht in Prosa zu fassen. Dann habe ich mich gesehen, wie ich hoch oben im Führerstand der Taurus auf mich selbst zugerast bin. Kurz vor dem Zusammenprall bin ich aufgewacht und mein linker Arm war gelähmt. Amyopathie hat der Arzt gesagt. Ich bin es zufrieden. Immerhin werde ich jetzt drei, vier Wochen lang keinen Schwan totfahren. Dafür nehme ich auch gerne die Cortisonspritzen in Kauf.

Und danach wird mir schon etwas einfallen. Vor kurzem habe ich mir eine neue Wurstschneidemaschine gekauft.

Manfred Wieninger

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