Stories_Ein Abend im Caffè Florian

Bella Italia?

EVOLVER-Autoren schrecken vor nichts zurück. Das gilt auch für Andreas Winterer, der sich für unsere Leser todesmutig in den Urlaub stürzte. Aber lesen Sie selbst ...    18.10.2006

Die Piazza San Marco gilt als einer der schrecklichsten Orte der Welt: völlig überteuert - und wo grad keiner der Zillionen Touristen grinst, um sich vor dem Dogenpalast ablichten zu lassen, scheißt gerade eine Taube hin. Doch ist das wirklich wahr? Der EVOLVER nahm die Bürde auf sich und probierte es aus.

 

Anfang Oktober. Wien steht vorm Finale eines Wahlkampfs, München vorm Finale eines Dauerbesäufnisses und Venedig vorm Finale der Hauptsaison. Das liegt auch am prächtigen Herbstwetter, anläßlich dessen der Rezensent samt Gattin hier das Finale eines Kurzurlaubs begeht. Bereits abgehakt: Baden am Lido, Glotzen auf der Architektur-Biennale, Speisen im Cipriani. Was fehlt: ein letzter Drink.

Auf der Piazza San Marco sitzen wir im Caffè Florian. Das ist nur natürlich, denn hier sitzen ja wohl die Reichen und Schönen, und eines der beiden Attribute wird sich vielleicht auch an uns manifestieren - wenn wir nur lange genug warten. Das fällt leicht, denn die Kulisse hat es in sich: Wenn die Sonne wie bei Capri im Meer versinkt, scheint ihr warmes Licht auf die Markusbasilika, deren unlängst restaurierte Fassade im Gegenzug golden glitzert. Der rötliche Campanile erhebt sich majestätisch in den blauen Himmel, und Idioten aus aller Welt lassen sich von dreckigen Tauben bekrabbeln und dabei in HDV-Qualität abfilmen.

Das Caffè Florian ist angeblich das älteste Kaffeehaus Europas. Gewiß ist, daß es schon bessere Tage gesehen hat - aber das gilt sicher auch für Gäste wie uns. Der Verzehr ist obligatorisch, daher bestellen wir zwei Gläser Rotwein und zwei Sandwiches, denn richtiges Essen gibt´s nur drinnen (wieso eigentlich?). Der Kellner trägt ein weißes Sakko, das ungeheuer schlecht geschnitten ist und mehr Klasse vortäuscht, als es hat. Das läßt sich generell für Venedig sagen. Auch als schwung- und verheißungsvoll das Silbertablett anfliegt, stellt sich heraus: Das meiste darauf ist ungenießbare Dekoration, etwa die Silberhalterchen für die Serviettchen und die Tellerchen für die Zahnstocherchen. Investigative Recherche unter Einsatz der Gesundheit ergibt: Das Club-Sandwich ist so lala, das Sandwich mit Shrimps geht sehr in Ordnung. Was will man für 15 Euro (pro Sandwich) mehr erwarten?

Ein markanter, interessant aussehender und leicht geölt wirkender Mann, an seiner Seite eine schöne Frau, trinkt, nein, kübelt Schampus und steckt der Band einen Fünfziger nach dem anderen zu, damit diese Stücke von Puccini spielt. "Where are you from?" fragen sie. "Iran", antwortet er und leert sein Champagner-Glas. Er wirkt ganz und gar nicht so, wie man sich einen Schah, Imam oder radikalen Fundamentalisten vorstellt. Ein Waffenproduzent? Ein iranischer 007, der in Venedig einen Atom-Deal mit den US-Kollegen einfädelt? Oder bloß ein Kanadier französischer Herkunft, der sich interessant machen will?

 

Eine junge Japanerin schraubt ihre Mini-Kamera auf ein Maxi-Stativ. Sie ist so zierlich, man könnte sie von hier aus wegblasen. An ihrer Kamera baumelt das pinkfarbene Case für die Cam. Sie photographiert das Orchester, mit sich selbst im Vordergrund. Immer wieder startet sie den Selbstauslöser, setzt sich dann drei Tische weiter ins Bild, wartet, bis der Blitz aufflammt, prüft das Ergebnis im Display der rosa Kamera und versucht es erneut. Sie ist allein.

Die Band hat gute Laune, weil der Iraner so viele Songs bestellt hat. Als selbiger aufbricht und das Caffè Florian verläßt (Wen wird er sprengen? Welches Geheimnis verraten?), lädt der Harmonikaspieler jemanden anderen ein, sich einen Song zu wünschen. Er richtet das Wort an einen blassen Herrn in kurzen Hosen. Der zuckt nur mit den Schultern. Ob er denn keinen Komponisten kenne? Man würde ihn spielen, nur für ihn! Der Mann zuckt wieder mit den Schultern, legt den Kopf schief und hebt die Handflächen nach oben. Doch der Harmonikaspieler bleibt hartnäckig. Wirklich gar keinen? Der Tourist denkt. Dann: "Elvis Presley!" Der Akzent weist ihn als Vertreter einer befreundeten Supermacht aus. Er saß am Tisch neben dem Tisch des Iraners. Wir kriegführenden Nationen sollten öfters Urlaub machen, uns näher kommen.

Die Band spielt "Can´t Help Falling In Love With You". Für einige Minuten ist der King bei uns, wenn auch stark überzuckert. Die Musiker sind Genies, bedenkt man, daß sie täglich drei Mal "Rondo Veneziano" (und sieben Mal "My Way") spielen müssen, ohne je Amok zu laufen. Wir bestellen zwei weitere Rotwein. Heureka: Diesmal sind Snacks dabei! Der Trick: Nie einen Drink und einen Toast oder ein Sandwich gemeinsam bestellen. Bestellt man nämlich Drinks allein, sind immer Chips und Oliven dabei. Zu den Chips ist zu sagen, daß es sich um diese geriffelten Edel-Chips handelt. Nicht besonders stark gewürzt, aber schon ganz nett. Nichts, worauf man verzichten dürfte.

 

Besser den Magen verrenkt als dem Wirt was geschenkt. Das dachte sich wohl auch das junge Paar vor uns, das sich Bellinis bestellt hatte und diese bis zur bitteren Neige wegschlürft. Sie verziehen ihre Gesichter, erkennen ihren schlimmen Fehler: Der Bellini wurde zwar in einer venezianischen Edelkaschemme erfunden, aber der rosa Pfirsichbrei aus der Fertigmix-Flasche beim Billa-Supermarkt ist besser als das Gesöff, daß die Kellner im Caffè Florian als Bellini verzapfen. Der Rezensent rät: Lieber den Hauswein trinken, Freunde, der ist schon okay - zumindest ab dem zweiten Glas.

Zwei alte, schiache Japaner, so häßlich, daß selbst ihre Mütter Probleme gehabt haben dürfte, sie zu lieben, kippen sich Heineken in den Hals und wünschen sich "Summertime". Wenig später stellt sich heraus, daß der häßlichere der beiden Japaner die Frau des anderen ist. "Woran hast du das gemerkt?" frage ich meine Frau. Sie lächelt. "Er ... es ... war auf Damentoilette." Ich lächle zurück. "Vielleicht hat er sich nur geirrt?" Später fallen uns weitere Theorien ein. Eine: Es handelt sich um ein schwules Paar. Einer von Ihnen konnte sich nie damit abfinden, schwul zu sein, der andere war ein Transsexueller. Nun ließ er sich geschlechtsumwandeln, und seitdem sind beide glücklich als Mann und Frau. Merke: Leichter Suff kuriert Konservativismus.

Wir bestellen zwei weitere Rotwein. Eigentlich will ich mir noch einen Toast reinschrauben, aber dann würden mir ja die trickreich erschnorrbaren Snacks entgehen. Ergo bestelle ich den Toast erst, als der Wein eintrifft. Es funktioniert erneut! Der Toast ist übrigens weit besser als der Durchschnittstoast in Venedig, der eher als zäh und käsig-ledrig gelten kann. Dieser Toast ist ... besser. Außerdem in drei Teile geschnitten, sodaß man ihn leichter in die mitgelieferte Cocktailsauce stippen kann, die ihn ebenfalls aus der Masse der Venedig-Toasts heraushebt. Alles in allem eine Empfehlung, auch im Vergleich zum öden Clubsandwich. Cocktailsauce rettet viel. Die UNO braucht mehr Cocktailsauce.

Ein neuer Mann neben uns bestellt sich einen Bellini, plus ein Heineken. Wie üblich kommen die Drinks mit Oliven und Chips, wir sind neidisch, denn unsere sind schon weggefuttert. Doch dann sitzt er starr. Bewegt sich nicht. Nippt weder am Bier noch am Bellini. Knabbert an keinem Chip. Ein Roboter? Ein Urlaubs-Simulant? Ein Sprengsatz des Iraners in Form eines harmlos-dümmlich dreinblickenden US-Touristen? (Die sind ja so tückisch, diese Nahostler!) Erst gut 45 Minuten später zeigt sich die Lösung: eine schöne Frau, auf die der arme Kerl etwas zu lange warten mußte. Wir freuen uns über sein Happy-End: When the moon hits the sky like a big pizza pie - that´s amore ...

Ein junges Paar. Er, Typ "Kein Hauptgewinn", langweilt sich zu Tode. Sie, nicht unschnuckelig, SMSt und telefoniert und Handy-photographiert in einer Tour. Dasselbe tut die Digitalkameras schwenkende Menschenmenge, die sich stehend um das Florian versammelt hat und sich mit stundenlanger Schnorrergeduld die Musik anhört. Sich auf ein Mineralwasser hinzusetzen, dafür reicht die Kohle nicht - es könnte ja mehr kosten, als man beim nächsten Besuch im Media Markt sparen kann. Zugegeben: Ein Branca Menta (zum Abschied) für 10 Euro (schluck!) darf als dreist gelten, andererseits kostet die Flasche Wein im Caffé Florian kaum mehr als in jedem anderen Restaurant.

Irgendwann sind wir ziemlich breit und begutachten die zusammengetackerte Sammlung unserer Belege. Die Rechnung ging auf: Knapp 6 Euro kostet die Musikgebühr im Florian, doch wenn man sich dort sechs Stunden lang gepflegt die Lampe zugießt, wird das zum kleinsten Posten auf der il conto per favore: Läppische 130 Euro haben sich da aufsummiert. Dafür hätte man in Venedig oder in einer beliebigen europäischen Großstadt zweifellos gut essen gehen können - allerdings ohne Musik, mit viel weniger Spaß und ohne internationales Improvisationstheater oder die leckere Cocktailsauce.

Kurz gesagt: Die Vorurteile sind wahr. Gönnen Sie sich trotzdem mal einen Abend im Caffè Florian!

Andreas Winterer

Ein Abend im Caffè Florian

ØØØØØ


Venedig 2006

 

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