Stories_Rokko´s Adventures im EVOLVER #104

Die Archive des Dr. Burns

Dr. Stanley Burns hat sich in seinem unauffälligen Sandsteinhaus in Manhattan seine eigene Sammlung geschaffen, in der er arbeitet, lebt, und atmet. Darin zu finden: mehr als eine Million historische Photos aus existentiellen, medizinischen, kriegerischen und kriminellen Prozeduren, die die menschlichen Entwicklungen von 1850 bis 1950 schonungslos dokumentieren - und damit auch die Gegenwart sowie zukünftige Entwicklungen bzw. Dummheiten besser begreifbar machen.    16.10.2020

Rokko´s Adventures ist - so steht es im Impressum - eine "unabhängige, überparteiliche sowie übermenschliche Publikation" und "setzt sich mit Leben, Kunst, Musik und Literatur auseinander". Der EVOLVER präsentiert (mit freundlicher Genehmigung) in regelmäßigen Abständen ausgewählte Beiträge.

 

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Kaum drückt man die Klingel, hört man aus dem Inneren des Gebäudes schon Schritte und eine Schlüsseldrehung. Eine freundliche Dame im besten Alter öffnet die Haustür und bittet höflich hinein. Man befindet sich in keinem offiziellen Ausstellungshaus, vielmehr in einem angeräumten Zuhause, dessen Schätze über mehrere Stockwerke wuchern. Der vielbeschäftigte Doktor wird aus dem 1. Stock geholt, während man sich bereits im Vorspiel der Sammlung verliert: An den Wänden hängen Photos von anatomischen Abnormitäten, die einst in Freakshows gezeigt wurden, medizinischen Praktiken wie Fußamputationen im Rohformat, scheußlichen Erkrankungen und innovativen Lösungsvorschlägen, Obduktionen, sowie Bilder aus Konzentrationslagern, von Bürgerrechtsbewegungskämpfen, Kriegsverletzungen, exotischen Ritualen und Beerdigungspraktiken, bis zu handkolorierten, ersten photographischen Versuchen und schmuckvollen Totenbildern. Der Schatz, auf dem Stanley Burns sitzt und der sich in den nächsten Stunden offenbaren wird, ist die unbezahlbare Ernte einer gut 40jährigen Obsession.

Der studierte Augenarzt - ein stattlicher Herr mit auffälliger Rahmenbrille - steigt nun die Stufen herunter und stellt sich vor. Neben seiner Archivarbeit kümmert er sich auch um die Wissensvermittlung und hat mittlerweile unzählige Artikel für Fachzeitschriften und Bücher geschrieben, von denen viele im Eigenverlag in limitierter Auflage zu gehobenen Preisen angeboten werden: Investitionen, die sich lohnen, denn wenn es ans Eingemachte geht, gehen sie alle zu ihm. Sowohl internationale Museen als auch Film- und Fernsehproduktionen greifen auf Stanley Burns´ Wissen und Material zurück: Die Koryphäe der Schmerzzonen war Berater für "Das Schweigen der Lämmer" (worin The Falls Song "Hip Priest” gespielt wird, aber das hat nicht Dr. Burns zu verantworten), "Total Recall", "Gangs of New York" und jüngst die HBO-Serie "The Knick", um den Machern zu erklären, wie diverse medizinische Eingriffe um 1900 tatsächlich vonstatten gegangen waren.

Stanley Burns ist großzügig, seine einzige Mangelware: Zeit. Deswegen ist sein Domizil auch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Schafft man es aber hinein, braucht man nur kurze Andeutungen zu geben, um ihn aus der Reserve zu locken. Ich blicke auf ein Photo, das wie eine Mischung aus Mickey-Mouse-Parade und Fetischfeier im Kriegsgebiet aussieht. 

 

 

Burns - ein Experte für Kriegsführung, der historische Schlachten genau erklären kann, welche Artillerie welche Strategie wählte, wer durch Hochmut verlor, wer durch Geschick gewann - hat zu jedem Photo etwas zu sagen und hakt mit Vergnügen ein: "Das stammt aus der Zwischenkriegszeit. Nachdem Hitler Deutschland übernommen hatte, hatten alle Angst vor dem Zweiten Weltkrieg und der Verwendung von Giftgas. Deswegen wurden in ganz Europa an die breite Bevölkerung Gasmasken verteilt: in England, in Deutschland, in Österreich, der Tschechoslowakei, in Polen, in Spanien ... Das Giftgas wurde dann nirgends verwendet - außer in den Vernichtungslagern. Ich hab´ noch ein Bild, wo 8.000 Kinder in Berlin mit Gasmasken drauf sind, wie sie 1938 durch eine Gaskammer spazieren. Diese Trainings, in denen Tränengas verwendet wurde, sollten ihnen die Angst vor Gasattacken nehmen." Wo genau dieses Photo nun ist? Stanley Burns kratzt sich an der Stirn. Das weiß er oft selbst nicht - was bei der Dimension seiner Sammlung kein Wunder ist.

 

Das etwas andere Familienarchiv

 

Um Kontrolle zu behalten, helfen ihm seine drei Mitarbeiterinnen - allen voran seine Tochter Elizabeth Burns, von allen Liz genannt -, die oben an ihren Computern sitzen, scannen und sortieren. Wir bewegen uns langsam in den ersten Stock. Kein Wandzentimeter ist hier ungenutzt. Der Chef bleibt stehen und zeigt auf ein Photo mit drei fröhlichen Herren in Uniform: "Ich habe ca. 200 private Photos von Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Ich will wissen, was sie gemacht haben - abseits von all den gestellten Darstellungen. Auf diesem Photo sehen Sie drei Leute, die mit ihren Lugers herumblödeln. Die waren beim Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS. Mit ihrer Luger haben sie Gefangenen ins Genick geschossen. Ich hab´ das später für eine Ausstellung 'Brain Specialists' genannt." Ob er wisse, was der eigentliche Zweck dieses Photos wäre? "Ja, das kommt aus einem privaten Photoalbum: ein paar Freunde, die miteinander Spaß hatten. Ich habe viele solcher Photos, von Kumpels beim Scherzen. Schauen Sie, das ist das Poster von der 'Entartete Kunst'-Ausstellung. Ich wünschte, ich hätte die dort ausgestellten Bilder, dann bräuchten weder ich noch meine Kinder oder Enkelkinder je wieder zu arbeiten", lacht er, den im Grunde die Arbeit am Leben hält - aber eben Arbeit, die er sich selbst geschaffen hat, die für ihn keine Belastung, sondern Entfaltung bedeutet.

Wir kommen im ersten Stock an und werden herzlich empfangen. Liz Burns und ihr Vater sind ein Herz und eine Seele; die Tochter kann über seine Eigenheiten schmunzeln und im "Familienarchiv" ihre eigenen Leidenschaften ausleben. Sie ist langsam in das bizarre Archiv hineingewachsen: Ein kontinuierlicher Lernprozeß ist essentiell, da die Bilder voller Geschichten stecken, für den Laien aber oft ein großes Fragezeichen bleiben. Stanley Burns hat über die Jahrzehnte gelernt, sie zu dechiffrieren: "Der einzige Grund, warum ich das kann, ist, weil ich ein enzyklopädisches Wissen über die Geschichte und eine riesige Bibliothek mit mehr als 10.000 Büchern habe. Ich sehe ein Bild und kann sofort sagen, woher und aus welcher Zeit es kommt. Egal ob China, Polen oder Aserbaidschan - ich weiß, worum es geht." Und dieses Wissen will er weitergeben. Ich zeige auf ein Photo an der Wand, auf dem ein deformierter Mensch abgebildet ist und aussieht, als hätte er drei Augen. Ob er sich erinnern kann, woher er das hat? "Nein, ich hab´ das vor 30 Jahren oder so gekauft. Seit den 1970ern sammle ich, und ich kaufe jeden Tag dazu, zu verschiedenen Themen. Hier ein kurzes Beispiel", sagt er und öffnet eine Tür zu einem anderen Raum: "Das ist mein 'Crime Photography'-Raum. Er ist gefüllt mit Schachteln über Schachteln, die alle voll mit Photos sind." Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: "Es gibt hier mehrere solcher Räume."

Kontrolle zu behalten ist schwer, gearbeitet wird an verschiedenen Büchern gleichzeitig, damit sich das Durchforsten auszahlt. Ob er manchmal Photos findet, an die er sich gar nicht mehr erinnern kann, wo er von seiner eigenen Sammlung überrascht wird? Dr. Burns schüttelt den Kopf: "Nein, das passiert mir nie." Dann lacht er, blickt auf seine Tochter, und die prustet los: "Andauernd! Na gut, das ist eine Übertreibung, aber er findet oft Photos erst nach Jahren und ist nach wie vor entzückt von ihnen." Burns sen. wird wieder ernst: "Uns hat immer nur zu interessieren, woran wir grade arbeiten - alles andere muß in den Hintergrund. Hier, die SS bei einer privaten Feier, und einen von den Soldaten sehen Sie mit einem jüdischen Stern und einer Nummer drauf. Das ist die Anzahl der Juden, die er in dieser Woche umgebracht hat. Ich habe alle möglichen Leute hier gehabt, die führenden Archivare der internationalen Holocaust-Museen - und sie haben solche Photos noch nie gesehen. Oder das hier, ein Photo, das die SS vom Grand Palais in Paris gemacht hat: Ich habe es koloriert und eine Postkarte draus gemacht: 'Welcome to Paris!' " Trotz seiner manischen Sammlungswut hat der Herr Humor, auch wenn es um seine eigenen Babys geht. "Sie kennen doch Ansel Adams berühmte Photographie 'Moonrise over Hernandez'. Schauen Sie, ich habe keine Photos zu Kunst, Musik, oder Sport - das hat ja jede andere Sammlung. Ich habe die versteckten Themen. Aber ein Photo zeige ich immer meinen ach so künstlerisch interessierten Besuchern, die die ganze Kunstgeschichte auswendig kennen, und das ist das hier: Ich nenne es 'Moon over the Colorado' - eine viel schwierigere Aufnahme als 'Moonrise over Hernandez' ", lacht der Doktor. Auf dem Photo zu sehen: acht Leute auf einem Floß, die ihre Hose runterziehen und mit dem Arsch in die Kamera lächeln - und jedes Arschloch ist scharf fokussiert. "Wissen Sie, wie schwierig es ist, so ein Photo präzise zu schießen? Die werden gerade den Fluß runtergespült, das ist alles in Bewegung." Seine Tochter seufzt hinter ihrem Schreibtisch: "Niemand liebt dieses Bild so sehr wie du, Papa."

 

Gasmasken in allen Größen

 

"Wir haben ja unten von Gasmasken gesprochen. Wir haben grad ein neues Buch, lassen Sie mich Ihnen das zeigen. Zeig ihnen Europa!" ruft Stanley Burns zu Tochter Liz, die gleich darauf die eingescannten Photos am Computer arrangiert und in eine sinnvolle Reihenfolge stellt: "Ich will etwas erzählen, es reicht nicht, die Photos einfach nebeneinander zu stellen. Man braucht den Kontext, einen Aufbau, ein Narrativ - das ist viel Arbeit." Der Vater zeigt auf ein Photo am Bildschirm und setzt fort: "Dieses Phänomen gab es überall - außer in den USA. Jeder hatte seine Gasmaske rumzutragen." Auf dem Bild ist eine Mutter, die mit ihrem Baby unter einer riesigen, gemeinsamen Gasmaske steckt. Liz Burns klickt sich durch die von ihr zusammengestellte Serie und kommentiert: "Hier ein Gastest, alle Kinder müssen mit ihrer Gasmaske in der Schule sitzen. Hier, alle deutschen Kinder müssen durch Tränengas-Testfelder gehen. Hier, jeder muß eine spezielle Tasche mit seiner Gasmaske mit sich herumführen. Da sieht man Leute, die illegal Gasmasken verkaufen. Hier Nonnen, die anderen Leuten zeigen, wie man Gasmasken verwendet. Und hier Babies mit speziellen Gasmasken." Das letzte Photo sieht für mich aus wie eine Studioarbeit der Surrealisten, und Liz Burns quittiert vergnügt: "Genau! Die Beleuchtung ist unglaublich. Aber schauen Sie sich das an, das ist ein verrücktes Bild." Zu sehen ist eine Mutter mit Gasmaske, die ihr Baby in einem Gasmasken-Kinderwagen spazieren fährt, der eher wie ein Kindersarg mit Glasdeckel und Schornstein aussieht. Stanley Burns registriert mein Erstaunen: "So funktionieren unsere Bücher. Jeder will Dinge sehen, die er noch nie zuvor gesehen hat. Uns interessieren diese kleinen Aspekte der Geschichte, die oft das Zünglein an der Waage sind, aber nicht zum allgemeinen Wissen gehören. Wenn wir ein solches Spezialthema entdecken, erjagen wir alles, was damit zu tun hat. Andere Sammler wissen oft nicht, was sie vor sich haben, aber wir machen Bücher draus. Sind sie einmal ausverkauft, sind sie weg. Wir machen keine Neuauflagen, sondern arbeiten immer an neuen Werken, gerade an unserem 45., 46. und 47. Buch gleichzeitig."

Familie Burns hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Nebenstränge der Geschichte aufzuzeigen, die mindestens genauso wichtig sind wie die Hauptstränge. Geschichten darzustellen, die es noch nicht gibt, ist eine wahnsinnig intensive Arbeit. Liz Burns studiert jede einzelne Abbildung, probiert verschiedene Kombinationen und stellt etwa fest, daß der Mann auf einem Familienphoto in Amerika später alleine nach Europa in den Kriegsdienst gezogen ist. Die beiden Photos stammen aus völlig unterschiedlichen Quellen, aber Liz Burns bringt sie wieder zusammen. Sie ist in ihrer Photostrecke gefangen und kommentiert weiter: "Schauen Sie, das ist faszinierend: Frauen in Boston, die Pfirsichkerne sammeln. Mit diesen Kernen wurden Gasmasken hergestellt, man brauchte sie für die Filter. Und hier, mein Lieblingstierbild", grinst sie: Hunde und Eseln mit Gasmasken.

Stanley Burns steht auf und schreitet durch den Raum: "Das machen wir also, wir arbeiten am Tag und in der Nacht. Hier, das könnte Sie interessieren: Photos, die ich selbst in Mauthausen gemacht habe. Ich bin danach die Straße runtergegangen, und nach einer Viertelmeile ist diese Frau mit einer Sense aus dem Feld gekommen." Das Ergebnis: ein Photo, auf dem man die Anlage des Konzentrationslagers im Hintergrund sieht, während dem Photographen eine Bäuerin in Tracht, mit Kopftuch und einer Sense über die Schulter, entgegenkommt. Gruselig. "Ich hätte dieses Photo nicht inszenieren können, ich hätte nicht einmal dran denken können. Und dann kommt sie einfach so raus aus dem Feld ..." Das mag wie Zufall wirken, ist aber vielmehr die Frucht seiner Konsequenz, seiner Disziplin, die nach ungenannten leeren Kilometern solch Schätze hervorbringt. Seine Neugier treibt Stanley Burns noch heute: "Ich reise nach wie vor ständig und habe drei Leute, die für mich arbeiten. Aber nun nehme ich Sie einen Stock weiter rauf und zeige Ihnen, wie der Rest des Hauses aussieht."

 

Syphilis und moderne Kunst

 

Die schmalen, knarzenden Stiegen in den zweiten Stock sind von vollen Bücherregalen umrahmt, wir bewegen uns vorbei am Schwerpunkt Holocaust. Im Grunde ist Stanley Burns ein Historiker, der die ungeschriebenen Geschichten erkennen und sichtbar machen will, nicht ideologisch motiviert, sondern aus ehrlichem Wissensdurst, der einen immanent aufklärerischen Effekt in sich birgt und neue Erkenntnisse überhaupt erst zuläßt. Er forscht nicht, um bestätigt zu werden, sondern um neue Perspektiven zu erhalten. Oben angekommen, ist man umgeben von alten Photographie-Verfahren aus dem 19. Jahrhundert, Daguerreotypie und Ambrotypie. "Wir haben 92 Exemplare, mehr als jedes Museum." Sie hängen in den Originalrahmen an den Wänden, einige von ihnen sind handkoloriert. Nicht nur die Technik, auch das Gezeigte strotzt vor Besonderheit: die feine Kleidung der Abgebildeten, die sorgfältige Dekoration, ausgefallene Blumenarrangements und Accessoires. Wer sich das damals, in den 1840ern, leisten konnte? "Genau so ein Typ wie der auf dem Bild, der sich so einen großen Hut leisten konnte: die reiche Oberschicht", lacht Burns.

Der Nebenraum ist behängt mit Photos, auf denen Mütter mit ihren toten Babies posieren. Ob sich durch das Sammeln sein Verhältnis zum Tod verändert hätte? "Als Doktor gewöhnt man sich an den Tod, und ich war Chirurg während des Vietnamkriegs. Ich war nicht in Vietnam, sondern habe hier freiwilligen Dienst im öffentlichen Gesundheitssektor geleistet." Ob er nicht Objekte besäße, die ein unangenehmes Gefühl in ihm heraufbeschwören, sei es von Eingriffen, Krankheiten, oder Kriegshandlungen? "Ahmmm ... lassen Sie mich nachdenken ... nein, im Grunde nicht. Das sind einfach die Bilder, die ich sammle. Ich habe gerade einen Artikel für ein spanisches Buch geschrieben, und zwar über meine Arbeit und die Entstehung der modernen Kunst. Es wurde stets, auch in Fachkreisen, kolportiert, daß moderne Kunst sich aus dem Studium afrikanischer Masken primitiver Völker speist, und dazu wurde u. a. Picassos Gemälde 'Les Demoiselles d´Avignon' herangezogen. William Rubin (1927-2006, Kunsthistoriker, Chefkurator am New Yorker Museum of Modern Art) hat mich vor Jahren gefragt, ob ich mit ihm arbeiten möchte. Er hatte den Beweis dafür, daß moderne Kunst nicht von afrikanischen Masken kommt, sondern von an Syphilis erkrankten Menschen. William Rubin hat nachgewiesen, daß sich Picasso die Genehmigung besorgt hatte, die Syphilitiker in den französischen und spanischen Lazaretten sehen zu dürfen. Abgesehen davon, daß Picasso ein Frauenfeind war, zeigt 'Les Demoiselles d´Avignon' auch seine Angst vor dem weiblichen Geschlecht: er hat sie genommen und degeneriert. Die Idee dazu hatte er vom 'verlorenen Gesicht', das aus der vererbten Syphilis bekannt ist, und das einen genauso aussehen läßt wie die entstellten Frauen auf diesem Gemälde. Die meisten dieser Krankheitsphotos wurden zerstört, weil sie schrecklich aussahen, niemand wollte sie sehen. Obwohl Dr. Rubin das Museum of Modern Art hinter sich hatte, ließen sie sich nicht finden, sie waren weg - nur ich hatte sie in meinem Archiv."

 

 

Der Mensch ist ein dummes Tier

 

Nun geht es wieder abwärts, in den ersten Stock, in Stanley Burns Arbeitszimmer. Auf seinem riesigen Schreibtisch liegen Kuverts, in denen sich neue Ankäufe befinden: "Ich habe gerade ein Photo bekommen, das ich seit 40 Jahren gesucht habe. Entschuldigen Sie den Test, aber wissen Sie, wie man in Indien Leichen entsorgt?" In den Ganges werfen? "Ja, aber es gibt noch was." Verbrennen? "Ja, aber dann gibt es noch etwas." Die "Towers of Silence", wo sie langsam von Vögeln gefressen werden? "Genau! Und nach so langer Zeit habe ich endlich ein Photo gefunden, auf dem man sieht, wie sie den Körper im Turm arrangieren." Stanley Burns nimmt das Bild aus dem Kuvert, das wirklich eine magische Wirkung hat: der nackte Körper eines jungen Mannes wird in einen dieser von außen nicht einsehbaren gigantischen Türme gelegt, die bei Bestattungsritualen von Zoroastriern verwendet werden. In seiner Mitte ist ein rundes Loch, wo es einige Meter in die Tiefe geht. Rundherum ist der erhöhte Kreis, auf dem es drei Spuren gibt: eine für Kinder, eine für Frauen, eine für Männer. Der Körper wird hingelegt und an Armen und Beinen längsseitig aufgeschnitten, um die Geier anzulocken, die zu Hunderten kommen und die Leichenentsorgung verrichten. Ist das Fleisch weg, werden die Knochen langsam von Wind und Wetter in die mittige Senkung getragen. "Dieses Photo habe ich nun endlich gefunden, nicht einmal meine Spezialisten in Indien kannten es. Ich hab´ es aus einer englischen Sammlung, es muß etwa 1880 gemacht worden sein. Man sieht hier genau, wie sie den Körper präparieren, um es den Geiern einfacher zu machen. Das sind Phänomene, von denen man hört - so wie Sie -, aber niemand hat sie je gesehen. Der Mann mit dem Stock bewacht noch den toten Körper und scheucht die Geier fort. Aber man sieht sie schon warten, und kaum verläßt der Wächter den Turm, werden sie sich auf die Leiche stürzen und sie fressen. Sie sind ja ein schlauer Herr, aber ich wette mit Ihnen, Sie können sich an keinen einzigen Satz erinnern, den Sie letzte Woche gelesen haben. Und ich zeige Ihnen hundert Photos, an die Sie denken werden, bis zum Tag, an dem Sie sterben."

Es folgt eine weitere Probe aufs Exempel: "Hier, Wasserfolter im Sing Sing Prison. Man sieht, wie der Häftling festgebunden wird, und ein Tropfen nach dem anderen landet langsam auf seinem Kopf." Das Photo ist aus den 1860ern, und bis heute gibt diese Anstalt im Bundesstaat New York nicht zu, solche Praktiken je angewandt zu haben. Stanley Burns sitzt auf heißem Material, das ihn auch in Schwierigkeiten bringen könnte, doch er fährt unbeirrt fort: "Hier, auf diesem Photo wird jemand geteert und gefedert. Das nächste ist aus dem Panopticon in Kuba: 500 Häftlinge stehen, die Gitter sind offen, und nur zwei Wächter sitzen in der Mitte. Sie erschossen sie einfach. Die meisten Leute würden solche Photos vernichten, sie sind auf eine unangenehme Weise ungewöhnlich. Niemand will die negativen Aspekte festhalten - oder wie viele schlechte Photos von sich selbst haben Sie? Die werden alle zerstört oder gelöscht, und genauso sieht es mit der Geschichtsschreibung aus. Aber ab und zu finde ich diese Beweisstücke, weil jemand vergessen hat, sie zu vernichten." Aus dem Hintergrund hört man Liz Burns schreien: "Ich liebe Tatortphotos!"

Über dieses Panopticon, ein Gefängnis namens Presidio Modelo, das zwischen 1926 und 1928 unter dem Diktator Gerardo Machado erbaut wurde, gibt es eine Doku, die online leicht zu finden ist. Sie ist nicht gut gemacht, aber äußerst interessant. Es standen fünf dieser Gefängnistürme, die für 2.500 Insassen konzipiert waren, jedoch mit bis zu 8.000 überfüllt wurden. Die Zustände waren horrend. Erzählt wird auch über den "Shit Pit": eine Grube, in die sämtliche Fäkalien der Häftlinge gekommen sind, und die als - oft tödliches - Folterinstrument verwendet wurde. Nach der Revolution 1959 verwendete Fidel Castro das Gefängnis hauptsächlich für "Konterrevolutionäre" und Schwule; 1967 wurde es geschlossen.

Nach einer intensiven Zweistundenführung, die geladen war mit unglaublichen Informationen und den dazugehörigen Bildern, schreit Stanley Burns: "Kaffee, bitte!" Seine Tochter, routiniert: "Mit oder ohne Koffein?", woraufhin er antwortet: "Egal, einfach nur Kaffee. Ich habe so viel Arbeit."

Es ist Zeit zu gehen. Zum Schluß spreche ich Stanley Burns auf einen Satz an, den er einmal an anderer Stelle fallen hat lassen: nämlich, daß sich die Geschichte stets zyklisch wiederholt, da es nur zwei Generationen braucht, um sämtliche Erkenntnisse zu vergessen. Folglich werden die selben Fehler immer wieder begangen, womit jegliches "menschliche Wachstumspotential" zerstört wird. Ob er hier auch Referenzen zu gegenwärtigen Phänomenen wie Brexit, ISIS, Trump etc. sieht? "Das ist genau das gleiche, immer und immer wieder: läppische Stämme, die sich gegenseitig bekriegen. Dieselben Mechanismen, derselbe Schwachsinn. Oftmals einfach nur Dummheit.”

Danke.

Rokko’s Adventures

aus: Rokko´s Adventures #18


Text: Rokko

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