Stories_Coil

Der Tod ist nicht das Ende

Genau ein Jahr nach Jhonn Balances tragischem Abgang erscheint Coils endgültig letztes Studioalbum. "The Ape of Naples" ist aber mehr als bloß eine CD - sie ist ein Testament.    28.02.2006

Wer Coil kennt, weiß natürlich sofort, daß es sich bei dieser Veröffentlichung nur um ein Testament der Angst handeln kann. Wenn es je eine Band gab, die sämtliche unwägbaren Untiefen der menschlichen Seele vermessen hat, so waren es Coil. Keine Perversion war zu abartig, keine Todessehnsucht zu morbide, Psychosen stehen direkt neben Suizidgedanken und Drogenexzessen. Das alles und noch viel mehr fließt in Coils Werk ein. Dazu gehören selbstredend auch christliche Mythologie (z. B. die beliebte Offenbarung) und manisch betriebener Okkultismus, wie es sich für brave Mitglieder des Temple ov Psychick Youth gehört.

Aus solchen Ingredienzen kochten Coil 23 (!) Jahre lang ihre Suppe. Keine andere Industrial-Band prägte so viele Generationen von (Elektronik)-Musikern; alle kennen und lieben sie, von Autechre bis Nick Cave, von den Einstürzenden Neubauten bis Skinny Puppy. Die Alkoholsucht des Frontman Jhonn Balance war allen bekannt - bis zum bitteren Ende. Das ist die eine Hälfte.

Die andere Hälfte: Coil wurde 1983 als Kopfgeburt von Balance (Psychic TV) und Peter "Sleazy" Christopherson (Psychic TV, Throbbing Gristle) gegründet, um neue, bis dahin unentdeckte tonale Strukturen zu erzeugen, aufzuwickeln - "Coil" bedeutet ja "Spule", "Kondensator". In grauer Vorzeit, als es noch keine Sampler gab, also vor 1983, blieb dem Elektronikmusiker nichts anderes übrig, als seine "field recordings" mittels "tapeloops" zu loopen, hin und her zu spulen. Vielleicht ist Coil aber auch der englischen Redewedung "this mortal coil" entlehnt, grob übersetzt: "des Lebens Wirrwarr". Das würde auch passen.

Jhonn Balance war eine schillernde, extreme, mit Sicherheit bipolare Persönlichkeit, die mit allen Mitteln versuchte, der trostlosen Monotonie des menschlichen Alltags zu entfliehen. Doch statt dem oberflächlichem Hedonismus zu frönen, der in den "No Future"-80ern so beliebt war, gingen Coil in eine um 180 Grad verkehrte Richtung. Aufbauend auf den äußerst fruchtbringenden Experimenten von Throbbing Gristle, paarten sie Industrial mit Ritualmusik ("How To Destroy Angels"), um später dann nach und nach ein wahres Pandämonium psychischer Selbstzerfleischung zu entwickeln.

 

"The Ape Of Naples" steht ohne Zweifel direkt in Coils früher Tradition ("Horse Rotorvator") statt in jener ihrer späteren Releases (z. B. "Astral Desaster"). Die vorliegenden Tracks wurden mühevoll von den hinterbliebenen Freunden und Bandmitgliedern (Sleazy, Thighpaulsandra, Ossian Brown, Cliff Stapleton) zusammengetragen und neu abgemischt. Besagte Herren vermieden es peinlichst, aus dem Werk ein Compilation-Album à la "Unnatural History" zu machen. Auf "The Ape" finden sich ausschließlich Songs, die entweder noch nie oder nicht in dieser Form erschienen sind. Sechs der elf Tracks stammen aus den Sessions, die Coil vor rund zehn Jahren in Trent Reznors Nothing-Studio einspielten. Das damals entstandene Album "Backwards" wurde bekanntlich nie veröffentlicht.

Das Epitaph bzw. das Cover-Artwork verdient unsere besondere Aufmerksamkeit: Die vom Londoner Künstler Ian Johnston, dem letzten Lebensabschnittspartner Balances, auf kargem Weiß gemalte männliche Gestalt erinnert ob ihres weit aufgerissenen Mundes unfreiwillig an Edvard Munchs "Der Schrei". Allerdings hält sie ihre Hände über den Kopf zum Gebet gefaltet, so wie es etwa im Buddhismus Usus ist. Die Figur scheint nunmehr schreiend zu beten, möglicherweise fleht der Namenlose auch um Vergebung - für wen, bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen. Vielleicht betet sie für Jhonns schwarze Seele, oder für alle schwarzen Seelen dieser Welt.

 

Der Opener "Fire Of The Mind" setzt aufgrund der tragenden Orgelklänge sofort eine markante Headline über das gesamte Album. Die Orgel erzeugt schaurige Trauer, das Drehleier-Spiel von Cliff Stapleton akzentuiert das gemächliche Stück. Als Jhonns Stimme jäh aus dem Äther aufsteigt, "Does death come alone or with eager reinforcements?" fragend, taucht eine schreckliche Vorstellung in uns auf: Wußte Jhonn, was auf ihn zukommen würde? Eine Vorahnung? Gewiß. Aber eine, die er stets mit sich herumschleppte - schon auf früheren Alben finden sich zahlreiche Textpassagen, die solche Rückschlüsse zulassen, allen voran: "Death - he´s my friend ... He´s promised me a quick end" ("Blood From The Air" von "Horse Rotorvator") oder "Most accidents occur at home" ("Sex With Sun Ra" von "Black Antlers").

"The Ape" klingt stellenweise vielleicht etwas nostalgisch, aber vor allem: zauberhaft und wunderschön. "The Last Amethyst Deceiver", "Triple Sun" und "Teenage Lightning 2005" werden dem einen oder anderen Kenner schon von Live-Releases und Konzerten bekannt vorkommen. Wie gesagt, waren diese Versionen jedoch bisher noch nie auf Tonträger erhältlich.

"Tattooed Man" steht in der klassischen Tradition französischer Moritaten/Chansons; ist es ein Liebeslied an einen verblichenen Geliebten, einen Seefahrer? Auf jeden Fall vermitteln die Beserln und die Marimbas sehr gekonnt eine nach Alkohol duftende Hafenkneipe.

Elektronischer und verquerer ist "It´s In My Blood". Jhonn schmatzt und quietscht, schreit und kreischt sich seine brennende Seele aus dem Gedärm. Der Song erinnert einerseits an "Circles Of Mania", vom textlichen Inhalt andererseits an "Heartworms". Am Ende dieses Exzesses fragt Jhon etwas ähnliches wie "´s that enough, Sleaze?" So, als wären diese Ausbrüche für ihn etwas ganz Normales, als könnte er den Dämon kontrollieren. Wir alle wissen, das dem nicht so war.

Gleich danach folgt "I Don´t Get It”, ein düsteres Instrumentalstück, mit Jhonns Stimme zerstückelt und pulverisiert, verloren irgendwo im Mix. Ein nebelverhangenes Violin- und Bläser-Thema eines 70er-TV-Krimis hebt an, freilich verzichten Coil auch hier nicht auf ihre psychotronisch-psychedelische Bearbeitung. Der Track ist ultra-perfide und garantiert schlechte Träume. Eine etwas downgegradete, abgespeckte Version namens "Spastiche" stand einst auf der "Brainwashed" Coil-Homepage zum Gratis-Download bereit.

"Heaven´s Blade" katapultiert den Hörer mitten hinein in Coils dunkle Mythologie. Dieses harsche, hypnotische und pulsierende Stück stammt ebenfalls aus den "Backwards-Sessions". Eine blutrote Sonne strahlt über dem jüngsten Gericht. Jhonns reizvolle Prosa hat auch nach seinem Tode nichts an Strahlkraft verloren. Sicher einer der feinsten Coil-Tracks, wenn nicht überhaupt, dann zumindest des Albums.

"Cold Cell", eine von Balances seltenen politischen Wortmeldungen ("Save us from the death penalty"), erschien bereits auf einer Compilation-CD des "Wire"-Magazins. "Amber Rain" ist ein romantisches, medidatives Mantra. Fast schafft es Balance, die Balance zu halten zwischen Zuversicht und Verzweiflung, zwischen Schlaf und Wachsein.

Das Album endet mit dem würdigen "Going Up". Der Song erinnert athmosphärisch an "The First Five Minutes After Death", durchaus geeignet als Begräbnisbegleitung zu Balances Himmel- oder Höllenfahrt, je nachdem. Tatsächlich basiert er jedoch auf der Vorspannmusik der in England bekannten BBC-Serie "Are You Being Served?" Statt Jhonn taucht einem Schutzengel gleich die zwischenweltliche Sopran/Falsett-Stimme Francois Testorys auf. Wie ein Gebet schweben seine/ihre Worte hinauf in den wolkenlosen Himmel. Ob Jhonn wirklich je im Paradies angekommen ist, entzieht sich der Überlieferung, doch keine Sorge: Wir tragen ihn für immer in unserem Herzen.

Ernst Meyer

Coil - The Ape Of Naples

ØØØØØ


thresholdhouse (GB 2005)

 

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