Stories_Cinecittà Revisited, Pt. 3: Flucht in die Dolomiten

Duell im Alpenglühen

Der Gardasee ist zwar wunderschön, stellt aber letztendlich keine wirkliche Herausforderung für einen alten Bergfex dar. Da kommt ein Mordverdacht gerade recht, um ihn wieder dorthin zu schicken, wo Enzian, Edelweiß und Eifersucht blühen.    01.09.2010

Made in Italy: Das bedeutet katastrophale Regierungsbündnisse, grauenerregende Schlager und nie endenwollendes Geplapper. Aber auch Filme. Wunderbare Filme. Fellini, de Sica, Visconti, Leone, Corbucci, Bava, Argento usw. usf. ...

Doch nicht um die kanonisierten Klassiker oder die von uns EVOLVERianern so verehrten Gialli und Western soll es hier gehen. Vielmehr wollen wir uns in Cinecittà Revisited mit kleineren, mitunter vergessenen Filmen beschäftigen, die sich - obgleich oftmals Genrefilme - einer eindeutigen Zuordnung entziehen. Gedreht zumeist von guten Handwerkern, die im Grunde jede Art von Film machten, den ihnen die Produzenten zuschanzten. Selten Meisterwerke, aber immer etwas davon enthaltend: was sie auch nach Jahrzehnten noch sehens- und liebenswert macht.

Giovanni Testa (Luis Trenker), Bootsbauer am Gardasee, ist ein Arbeitstier. Dennoch gedeiht seine kleine Werft mehr schlecht als recht. Obwohl er seine hübsche Frau Teresa (Yvonne Sanson) und seine beiden Kinder Pauletta und Carlino über alles liebt, macht er ihnen das Leben mit seinem andauernden Mißmut und übertriebener Strenge recht schwer.

Das nützt wiederum der wohlhabende Beppo Andreis (Enrico Glori) schamlos aus. Er scharwenzelt ständig um Teresa herum, was dem Gatten erst recht die Laune verdirbt.

Als die Werft unwiderruflich vor dem Konkurs steht, entschließt sich Giovanni, seinen Bruder Enzo - einen reichen Hotelier - um ein Darlehen zu bitten. Dieser lehnt ab; es kommt zu Handgreiflichkeiten. Am nächsten Tag wird Enzo tot aufgefunden - erstochen mit einem Messer, das Giovanni gehört. Die Polizei hält Letzteren postwendend für den Mörder.

Giovanni flieht. Unter falschem Namen nimmt er eine Arbeit am Staudamm in den Dolomiten an. Er freundet sich mit Sergio (Robert Freytag) an, einem jungen Kollegen. Der nimmt ihn eines Tages ins nahegelegenen Wirtshaus mit, wo Giovanni die Tochter des Wirtes (Umberto Sacripante) kennenlernt: Sergios großen Schwarm Graziella (Marianne Hold). Trotz des Altersunterschiedes verliebt sich Graziella in den geschickten und - nach außen hin - ruhig und ausgeglichen wirkenden Arbeiter, was wiederum Sergio zur Raserei treibt.

Ein Duell bahnt sich an in der bizarren Bergwelt. Und dann taucht auch noch ein Fahndungsphoto des vermeintlichen Mörders vom Gardasee auf …

 

Zugegeben: Einen Preis für Originalität wird der reine Handlungsverlauf der deutsch-italienischen Koproduktion Flucht in die Dolomiten (Il prigioniero della montagna, 1955) wohl nie bekommen. Doch, wie oft in unserer Reihe Cinecittà Revisited, sind es einzelne Elemente, die den Film über den Durchschnitt hinausheben und ihn auf die eine oder andere Weise sehens- und liebenswert machen.

So fängt Trenkers Lieblingskameramann Albert Benitz nicht nur Bilder einer im wahrsten Sinne majestätischen Bergwelt ein, er zeigt auch ebenso spektakulär den Einbruch der Moderne (Staudamm) in den - scheinbar - ewigen Frieden der Abgeschiedenheit. Hatten in Trenkers früheren Filmen die Berge immer etwas Läuterndes, Erhebendes an sich, so stellen sie hier ausschließlich eine - zugegebenerweise imposante - Kulisse dar, vor der sich die Protagonisten zu bewähren haben. Und zwischen den Versatzstücken See-Idylle / Alpenglühen / industrielle Revolution läuft auch die Heimatfilmgenre-immanente Liebesgeschichte etwas anders ab als noch ein paar Jahre zuvor.

Die beiden Typologien "väterlicher Freund" und "Liebhaber" wurden kurzerhand zusammengefaßt: in der Person des alternden, verheirateten Gelegenheits-Cholerikers Giovanni, der auf die junge Provinzschönheit Graziella trifft. Die Chemie zwischen Trenker und Hold stimmt. Erlösung durch Höhenluft darf man allerdings keine mehr erwarten - die "Naturträne" (© Nina Hagen) ist da schon ziemlich am Versiegen.

Damit keine Irrtümer aufkommen: Es handelt sich immer noch um ein konventionell-solides Stück Filmhandwerk, das (und da verrate ich jetzt wohl nicht zuviel) auf ein damals zielpublikumsgeeignetes Happy End zusteuert. Weit entfernt von heutigen Sozialdramen hatte Trenker als Regisseur wie als Darsteller in erster Linie die Unterhaltung seiner Zuschauer im Auge; was ihm durchaus gelingt, obwohl die mythisch-visionäre Kraft der Bilder seiner Klassiker früherer Jahre fehlt. Von den Rändern her dringen allerdings harsche Veränderungen in den Trenkerschen Alpin-Kosmos ein - wenngleich der bei ihm auch in der Vergangenheit nie heil oder gar "hübsch" war.

 

Trenker selbst erkannte die Zeichen der Zeit: Es sollte sein vorletzter Auftritt vor der Kinokamera sein. Er, dessen Todestag sich 2010 zum 20. Mal jährt, wurde 1892 in Gröden geboren. Schon während seiner Schulzeit verdingte er sich regelmäßig als Bergführer und Skilehrer. Sein Studium der Architektur beendete er (nach Unterbrechung durch den ersten Weltkrieg) 1924. Der erste Kontakt zum Film ergab sich 1921, als ihn Arnold Fanck für den Film "Berg des Schicksals" als Bergführer engagierte - und, nachdem sich der Hauptdarsteller als nicht sehr bergerfahren herausgestellt hatte, auch gleich für die Hauptrolle.

Weitere Filme folgten; 1928 führte Tenker zum ersten Mal selbst Regie. Auf Berge, Eis, Schnee und große Gefühle spezialisiert, drehte er Filme wie "Der verlorene Sohn" (1934) oder "Der Berg ruft" (1937), beide voller Dramatik und alpenländischer Naturmystik. Er machte aus seiner Heimatliebe und seinem "Hochgebirgspatriotismus" nie einen Hehl, was ihm unter anderem zur Nazizeit Lob und Ärger gleichzeitig einbrachte. Letzteres auch deshalb, weil er sich den "Walschen" zeitlebens verbunden zeigte und Heimat für ihn nicht unbedingt gleichbedeutend mit Nation war.

Nach dem Krieg hatte Trenker als Schriftsteller von Bergromanen großen Erfolg und machte auch im Fernsehen mit Serien wie "Luis Trenker erzählt" eine gute Figur. Sein legendärer Hut war schon in den 1930er Jahren ein Markenzeichen. Eine eigene Modelinie ließ ihn im Laufe der Zeit zum Vorbild unzähliger Bergtouristen und Freizeitalpinisten werden. Medial von den 30ern bis in die 60er dauerpräsent, war er wohl eine der wenigen popkulturell bedeutsamen Personen Tiroler Provenienz, deren Ruhm auch Jahre nach ihrem Tod beinahe ungebrochen andauert.

 

Mit der 1933 geborenen und '94 verstorbenen Marianne Hold ist in "Flucht in die Dolomiten" der große Stern am Himmel des 50er Jahre-Heimatfilms an Trenkers Seite zu sehen. Er selbst hatte die blonde Schönheit fünf Jahre zuvor für sein ebenfalls in Italien produziertes "Duell in den Bergen" entdeckt.

Das Drehbuch schrieben übrigens - nach Gustav K. Bieneks Roman "Die Flucht des Giovanni Testa" - Luis Trenker, Giorgio Bassani und ein gewisser Paul Pasolini: besser bekannt unter dem Namen Pier Paolo Pasolini, geboren 1922 in Bologna, ermordet aufgefunden 1974 am Strand von Ostia. Es war ein ziemlich weiter Weg für den Linksintellektuellen von "Flucht in die Dolomiten" bis zu den "120 Tagen von Sodom". Inwieweit sich Pasolinis Einfluß aufs Drehbuch von erstgenanntem Film über bloße Lohnschreiberei tatsächlich hinaus erstreckt hat, läßt sich im Nachhinein schwer sagen. Einige Szenen, in denen die Alltagswelt der Arbeiter am Staudamm recht eindrücklich geschildert wird, lassen Vermutungen in diese Richtung zu.

 

Bei "Flucht in die Dolomiten" handelt es sich auf jeden Fall um großes, gefühlsträchtiges Heimatkino, das die Anfechtungen der modernen Zeit nicht ausklammert, Kino, das dem neoveristischen Romantiker Vittorio de Sica auch gut zu Gesicht gestanden wäre - so er sich denn jemals ins Hochgebirge verirrt hätte.

Wir aber haben fürs erste genug von ländlicher Frischluft und begeben uns das nächste Mal wieder in urbane Gefilde. Genauer gesagt an den römischen Straßenstrich, mit Ugo Tognazzi als "ungewöhnlichem Zuhälter".

Doch bis dahin: Ciao, amici!

Thomas Fröhlich

Flucht in die Dolomiten

ØØØØ

Il prigioniero della montagna

Leserbewertung: (bewerten)

VZ (D 2010; Produktionsjahr 1955)

DVD Region 2

80 Min., dt. u. engl. Fassung

Regie: Luis Trenker

Darsteller: Luis Trenker, Marianne Hold, Robert Freytag, Yvonne Sanson, Enrico Glori u.a.

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