Stories_Chosen

Das Ende der Mittelschicht

Dramaturgische Präzision, Gesellschaftskritik und Spannung zeichnen die aktuelle Serie "Chosen" von Ryan Lewis und Ben Ketai aus. Martin Compart weiß mehr.    17.03.2015

Die modernen Crime-Serien der Briten und Amerikaner scheinen sich nur noch aus Traumata über den Niedergang der westlichen Gesellschaften zu speisen - als seien die Dystopien der Science Fiction längst Wirklichkeit. Ich muß mir keine Horrorserien wie "The Walking Dead" anschauen, wenn ich Zombies sehen will; das erledigt ein Spaziergang durch die Fußgängerzonen. So gesehen, sind diese Noir-Crime-Serien die wahren Horrorgeschichten.

 

 

"Chosen" dürfte die beklemmendste Paranoia-Serie sein, die je über meinen Monitor gerauscht ist. Wie kaum eine andere aktuelle TV-Produktion spiegelt sie im Subtext den Endzeitzustand unserer degenerierten Zivilisation. Randbemerkung: Das ist etwas, das deutsche Serienmacher anscheinend nicht begreifen. Serien ohne Subtext bleiben fade, flach und langweilig, weil sie das Unterbewußtsein nicht erreichen und auf dieser Ebene nichts ansprechen, was den Zuschauer zusätzlich emotionalisiert und somit Spannung erzeugt.

Die Prämisse ist: Die dekadente Elite versaut das Leben aller anderen. In "Chosen" sind es Angehörige der Oberschicht, sogenannte "Wächter”, die aus bösartiger Langeweile - nichts gibt ihnen mehr Kick (de Sade läßt grüßen) - Angehörige der unteren Schichten dazu zwingen, sich gegenseitig zu töten. Ihre Verkommenheit ließe Caligula aus dem Fenster kotzen.

Plautus´ alter Satz, in dem "der Mensch dem Menschen ein Wolf (ist)”, wird sehr schön durchdekliniert und zeigt die Endphase des Kapitalismus als noch weniger wünschenswert als etwa den Hobbes´schen Naturzustand (dem er sich immer mehr annähert). Die moderne NSA-Bespitzelungstechnologie ermöglicht diesen Wächtern ihr voyeuristisches Vergnügen und die Kontrolle über die Mörder, die gleichzeitig auch Opfer sind (denn auch auf sie ist wiederum ein anderer angesetzt).

 

Wenn du in dieser schönen, entsolidarisierten Gesellschaft überleben willst, mußt du bereit sein, deine Partner, Verwandten oder deine Familie über die Klinge springen zu lassen oder gar selbst zu töten - auch wenn du deine Opfer liebst. Wer das nicht tut, wird immer nur fliehen können. Um zu fliehen, muß man alles vernichten, was einen an die Gesellschaft bindet: sozialen Status, ortbare Technik und jedes Dokument, das die eigene Existenz nachweist. Das Spiel in "Chosen" geht darum, daß jeder jeden umbringen soll und muß.

Der Konsum von Menschenleben zur Unterhaltung oder als letzter Kick ist seit Richard Connells Kurzgeschichte "The Most Dangerous Game" aus dem Jahre 1924 (erste Verfilmung 1932) ein gern genutzter Topos der kapitalistischen Unterhaltungsmedien. Zumeist sind aber die Initiatoren auch die Jäger. Erst seit Robert Sheckleys "The 10th Victim" (1966) ist die Menschenjagd zum Unterhaltungsfaktor von Schreibtischtätern mutiert.

Die Serie zeichnet eine gnadenlose dramaturgische Präzision aus. Ihr unglaubliches Tempo erinnert an die literarischen Thriller eines Simon Kernick (das ist Cornell Woolrich auf Speed). Die Zahnräder der einzelnen Figurenstränge greifen so genau, daß die Personenkonstellation glaubwürdig ergänzt und erweitert wird. Dabei vermittelt der Subtext, daß jeder, der nicht zum Establishment gehört, ohne erkennbaren Verlust für das System austauschbar ist.

"Chosen" ist sowohl emotional als auch psychologisch von einer bisher ungeheuren Brutalität. Falls es sie nach dem ökonomischen und ökologischen Zusammenbruch noch geben sollte, werden künftige Historiker in der Serie eine Menge Material finden, das mentalgeschichtlich Auskunft über den Zustand der westlichen Welt am Anfang des 21. Jahrhunderts vermittelt.

Interessant ist auch das Format, das für die Serie gewählt wurde: Die einzelnen Folgen sind lediglich 22 Minuten lang (damit hat eine Staffel 132 Minuten, also Spielfilmlänge). Normalerweise wird dieses kurze Format nur von Sitcoms genutzt. Aber das erklärt auch das hohe Tempo, in das die Serie gehen kann und muß. "Chosen" überzeugt nicht nur durch aberwitzige Cliffhanger, sondern auch durch die überzeugende Art, wie das Schicksal der Personen miteinander und über die einzelnen Staffeln hinaus verwoben wird. Trotz des atemberaubenden Tempos, das nicht viel Zeit läßt, um die Figuren auszuloten, gelingt es den Autoren durch kurze, markante Dialoge und Reflexionen, den Charakteren Dreidimensionalität zu geben. Sie zeigen ihr Zaudern, ihre Hilflosigkeit, einen Ausweg zu finden, und die Auswirkungen, die ihr mörderisches Handeln auf sie hat.

Die Web-Serie wird von Crackle ("The Unknown", "Comedians in Cars Getting Coffee", "The Bannen Way") für Sony produziert. Schöpfer und Autoren sind Ben Ketai ("30 Days of Night: Dark Days") und Ryan Lewis ("High School", "Fat Kid Rules the World"). Der Hauptdarsteller der ersten Season, Milo Ventimiglia (bekannt aus "Heroes"), war zugleich auch Executive Producer der Serie, die direkt fürs Internet produziert wird. Die vierte Season ist bereits unterwegs.

Anläßlich eines Besuchs von Milo Ventimiglia (bekannt aus "Heroes") in Wien berichtete der "Standard":


"Beim Drehen verlangt einem eine solche Rolle alles ab, erzählt Ventimiglia im Gespräch mit dem Standard. Jeden Tag sei er 'mit blauen Flecken und Kratzern' nach Hause gegangen. Gleich am ersten Drehtag habe er sich im Nahkampf die Nase gebrochen: 'Wir drehten noch keine drei Stunden. Ich schlug in die eine Richtung, mein Filmpartner in die andere - und traf mich. Es blutete wie die Hölle.' Er bewies Talent zur Härte gegen sich, steckte Tampons in die Nasenlöcher, bis es aufhörte zu bluten - und spielte weiter: 'Das ist das Geschäft. Wir haben nicht den Luxus, einfach abzuhauen', sagt Ventimiglia. 'Chosen' ist im Serienkosmos, was '24' in den 2000er-Jahren war: rasantes Actiondrama, das die Möglichkeiten des Abspielkanals optimal ausnützt. Waren das bei der Fernsehserie '24' noch Spielereien mit Echtzeit und Splitscreens, so ist in Zeiten der Onlinenutzung die Experimentiermasse die Länge der Episoden."

 

 

Daß Ventimiglia kein Idiot ist, bewies er in einem Interview aus dem Jahr 2013:

 

"Man, I love the reach, you know, I´m just so excited about digital because of the reach. With the actual releases sometimes some countries don´t get movies. Sometimes, they´re in and out of theaters, TV - maybe you don´t have the channel, maybe you don´t have pay cable. Maybe you live in a remote part of the world that just doesn´t have what the network is showing or studio is putting out. Digital I kind of feel like anybody can access it, anybody can get to it. And for me being a part of projects like 'Chosen', you know, working with Crackle and just being a guy who´s been in the digital space for kind of a long time now. I know it´s something that I´m going to continue to do and hopefully as it builds and the profile builds and people understand that, look, you´re going to get the same quality on digital as you can in a movie theater if you actually have a bandwidth for it then great, you know. So I love digital, I´m in to digital."

Deutsche Produktionen können da einfach nicht mehr mithalten - jedenfalls im Crime-, Comedy- oder Action-Bereich. Die Öffentlich-Rechtlichen sollten in dieser Disziplin einfach den Laden dichtmachen und die Gebühren kürzen. Auf internationalem Niveau schaffen sie es ohnehin seit Jahrzehnten weder handwerklich noch intellektuell. Sie können nicht mal so noir denken, wie andere produzieren. Man sollte Seriengelder einsparen und das Geld lieber für Reportagen und Dokus von Jürgen Roth und Egmont R. Koch ausgeben. Oder, wenn man die Zielgruppe der Hirntoten noch stärker bedienen will, mit mehr Bundestagsübertragungen oder noch mehr Volksmusikschlager-Shows.

 

 

 

PS: Die Serie läuft bei uns momentan auf dem Kabel-Sender 13th Street. Der Soundtrack ist ebenfalls bemerkenswert.

Martin Compart

Chosen

Leserbewertung: (bewerten)

(USA 2013)

 

Created by: Ryan Lewis & Ben Ketai

Darsteller: Milo Ventimiglia, Rose McGowan, Chad Michael Murray u. a.

 

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