Kate Bush - Aerial
EMI (GB 2005)
Unzählige Male wurde Tori Amos in der internationalen Musikpresse schon mit Kate Bush verglichen. Wie sehr dieser oberflächliche Vergleich hinkt, analysiert Ernst Meyer. 01.02.2006
Tori Kant Be Kate.
Sieht man einmal von der unterschiedlichen Staatszugehörigkeit ab - Amos ist Amerikanerin und Bush Britin -, drängen sich sofort die verschiedenen Familienchroniken in den Vordergrund. Hier gibt es so gut wie keine Parallelen - abgesehen davon vielleicht, daß beide Damen ausgezeichnet Klavier spielen.
Tori Amos, eigentlich Myra Ellen, stammt aus einer amerikanischen Missionarsfamilie. Ihre Großeltern waren Angehörige der baptistischen Christian Church in Virginia, ihr Vater arbeitete als wortgewaltiger Prediger. Daher verwundert es auch kaum, daß sich in Toris Lyrics zahlreiche Querverweise zu christlicher Mythologie finden lassen (God, Father Lucifer etc). Ihr ungezügeltes Temperament wiederum dürfte sie von ihrer Urgroßmutter geerbt haben, die angeblich eine vollblütige Cherokee war.
Tori entwickelte schon im zarten Alter von drei (!) Jahren eine exorbitante Faszination für das Piano. Mit vier schrieb sie erste Eigenkompositionen, und mit sechs Jahren wurde sie zur jüngsten Studentin des angesehenen, konservativen Peabody-Konservatoriums von Baltimore. Ihr Vater nahm sie all die Jahre immer wieder zu Messen und anderen frommen Zusammenkünften mit - kirchliche Harmonielehre hatte sie somit auf ewig intus.
Doch Tori gelüstete es nach etwas ganz anderem, als ein Leben als Konzertpianistin fristen zu müssen. Sie wurde von einem tiefen Sendungsbewußtsein erfaßt und im Alter von elf Jahren aufgrund des Vortrags eines etwas gewagten Musikstücks vom Konservatorium verwiesen.
Kate Bush wiederum, die eigentlich Catherine heißt, ist um vier Jahre älter als Tori, und wuchs in einer wohlbehüteten mittelständischen Familie in Bexleyheath im britischen Kent auf. Ihr Vater war praktischer Arzt, und ihre Mutter kümmerte sich um Kate und deren beide Brüder. Auch Kate war schon als Kind vom Klavier fasziniert, fiel jedoch vor allem wegen ihrer bezaubernden Stimme auf. Im Alter von 17 Jahren verschickte einer ihrer Freunde Demotapes, auf denen sie sang. Eines dieser Tapes gelangte in die Hände von David Gilmour (Pink Floyd), der von Kates Gesang und Songwriting so begeistert war, daß er einige ihrer Demos finanzierte - und schon hatte sie einen Plattenvertrag bei EMI. Wer solch prominente Förderer hat, dem stehen ja wirklich alle Wege offen ...
Die gute Tori hingegen hatte es in ihren Jugendjahren gar nicht einfach. Nach ihrer Matura 1981 schmiß sie ihre vorgezeichnete Karriere über Bord, verwandelte sich 1984 kurzfristig in ein Punk-Girl und übersiedelte nach Los Angeles. Dort gründete sie mit ein paar Musikern, darunter dem späteren Guns-N´-Roses-Schlagzeuger Matt Sorum) eine Punkband namens Y Kant Tori Read. Atlantic Records brachte ihr Album heraus, das sich jedoch als veritabler Flop erwies. Kein Wunder - Punk war damals schon ziemlich out, und an einer ausgeflippten Retro-Mischung aus Pat Benatar und Cyndi Lauper war wohl auch niemand ernsthaft interessiert.
Währendessen feierte Kate in England bereits fulminante Erfolge. Die Manager von EMI Records hatten ihr ungeheures Potential erkannt - aber anstatt sie gleich zu verheizen, wie das heute üblich ist, finanzierte ihr das Label eine solide Musiker- und Gesangsausbildung. Ihr unvergessenes “Wuthering Heights” (von der LP "The Kick Inside") von 1978, benannt nach einem Roman von Emily Brontë, belegte vier Wochen lang die Spitze der UK-Charts. Danach trat der Song seinen Siegeszug rund um die Welt an.
Von nun an ging es Schlag auf Schlag. Die zweite Single-Auskopplung "The Man With the Child in His Eyes" katapultierte sie ebenfalls wieder in die Top Ten, und spätere Songs wie "Babooshka" festigten ihren Ruf als romantisch-sensible Elfe mit einem Hang zu Verkleidungen. Auf dem Cover von "Lionheart" (1979) posiert sie als Raubkätzchen, und das Gatefold von "Never for Ever" (1980) zeigt sie als grimassierende Fledermaus.
Hier tritt ein weiterer Unterschied zu Tori Amos klar zutage: Tori tanzt nicht, Kate schon – und wie! Bushs Background ist der des 70er-Jahre-Bourlesque-Musicals; ein Schuß clownesker Humor gehört genauso dazu wie eine wilde, expressive Mimik, die an alte Stummfilme erinnert - von den aufwendigen Bühnenaufbauten gar nicht zu reden. Es folgten eine Gemeinschaftsarbeit mit Peter Gabriel ("Games Without Frontiers") und dann ihr Album "Hounds of Love/The Ninth Wave" (1985), das sämtliche Rekorde brach. Die eigenwillige Mischung aus Programm-Musik, C.-G.-Jungscher Psychologie und dem König-Arthur-Mythos sicherte Kate für ewige Zeiten einen fixen Platz am Popstar-Himmel.
Nach dem Top-Ten-Erfolg "Don´t Give Up" (1988), einem Duett mit Peter Gabriel, wurde es etwas ruhiger um Kate Bush. Das 1989 erschienene "The Sensual World" ist eine eklektizistische Wanderung durch folkloristische Musikstile verschiedener Jahrhunderte, von “Uilean Pipes” bis zu einem bulgarischen Choir ist alles vorhanden. Trotz ausgezeichneter Presse konnte Kate mit diesem Album nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen. 1993 erschien das vorläufig letzte Studioalbum: "The Red Shoes" ist überproduziert und läßt jene spielerische Leichtigkeit vermissen, die früher für Kates Kompostionen so charakteristisch war. Sicherlich war dafür auch die Vielzahl prominenter Gastmusiker mitverantwortlich. Auf dem Album finden sich klingende Namen wie Prince, Eric Clapton, Jeff Beck oder Gary Brooker.
Fast gleichzeitig brachen für Tori goldene Zeiten an. Enttäuscht hatte sie sich Ende der 80er Jahre nach England zurückgezogen, um in London an einem Soloalbum zu basteln. Fast vier Jahre arbeitete sie an "Little Earthquakes", das 1992 veröffentlicht und von den Kritikern bejubelt wurde. Tori demonstrierte ihr gesamtes angestautes kompositorisches Genie - und "Crucify", "Winter" sowie natürlich "Silent All These Years" gelten vielen heute noch als Toris beste Arbeiten.
Der A-cappella-Song "Me and a Gun" erlangte auch noch auf anderem Wege Berühmtheit: Tori verarbeitete darin ihre Erlebnisse einer Fast-Vergewaltigung. Ihr "Outing" wurde zur Hyme der amerikanischen Organisation RAINN (Rape, Abuse and Incest National Network). Auf ihrem 1994 erschienenen "Under the Pink" wurden Toris christliche Obsessionen ("God") besonders deutlich.
Nun stellte sich auch bei ihr der verdiente Erfolg ein. Das weckte Toris Experimentierfreude am Herumspielen mit verschiedenen Dance-Stilen. Ihre Musik durchlief verschiedene Stadien. "Boys for Pele" (1996) zeigte eine unglückliche junge Frau, zerrieben zwischen Selbstvorwürfen und Trauer über verblichene Liebhaber - vielleicht ihr intensivstes, aber auch schwierigstes Album. Auf "From the Choirgirl Hotel" wechselte sie flugs ins Lager des TripHop: gar nicht schlecht, aber die Fans fragten sich schon besorgt, wo genau das hinführen sollte. Für endgültige Verwirrung sorgte "Strange Little Girls" (2001), ein Album voller Coverversionen mit einem Artwork am Rande der Persönlichkeitsspaltung.
Welches von den vielen Mädchen ist sie nun? Die männerfressende Femme fatale? Das amerikanische Farm-Girl mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn? Die postmoderne Intellektuelle, geschult in NLP? Eine blonde Metall-Tussi? Oder vielleicht doch das "nette" Girlie von nebenan, das im Geheimen bei Kerzenlicht am Piano romantischen Gefühlsräuschen frönt? Irgendwo dort scheint Tori gelandet zu sein. Auf ihren letzten beiden Alben, "Scarlet´s Walk" (2003) und schließlich auf "The Beekeeper" (der EVOLVER berichtete), verzichtete sie auf religiöse Fixationen und präsentierte sich als nüchtern-bescheidene Songwriterin, die zu sich selbst und ihrem ureigensten Stil gefunden hat. Tori schildert in ihren nunmehr folkigen Songs nach wie vor ihre Sicht der Dinge in der Ichform; allerdings ist ihr Blick jetzt nach außen gerichtet, auf die gesamte Welt, so wie sie ist, mit all ihrem Makel und ihrer Schönheit. Fleißigen Bienen gleich schwirren Tori Lyrics und Melodien im Kopf herum, durch ihre Stimme und ihre Finger fließt alles spielerisch zusammen und ergibt eine harmonische Einheit, der man sich schwer entziehen kann.
Tori schätzt Bienen, Kate Vögel. Auf Kate Bushs aktueller Doppel-CD "Aerial" ist eine CD ihren gefiederten Freunden gewidmet. Ihre Herangehensweise ist noch immer dieselbe wie früher, sie hatte es ja nie notwendig, fremde Stile zu kopieren: Programm-Musik, gepaart mit viel Ambience und zartgesponnenen Klaviermedidationen. Während Tori ihren heißgeliebten "Bösi" (Bösendorfer Grand, Anm.) mitunter sehr harsch behandelt, streichelt Kate den ihren meist mit samtenen Händen.
Zu guter Letzt sei noch erwähnt, daß Tori in ihren Lyrics stets eigene Probleme, kognitive Dissonanzen und Weltschmerz verarbeitet, Kate hingegen auf jedem Album ihre eigene, persönliche Phantasiewelt erfindet. Mit den beiden Künstlerinnen verhält es sich wie mit den zwei Seiten einer Münze: sie füllen ihre jeweilige Nische bis an den Rand aus, aber ihre Nischen sind in keiner Weise dieselben.
Die einzige Gemeinsamkeit bleibt: Beide Damen spielen ausgezeichnet Klavier.
Kate Bush - Aerial
EMI (GB 2005)
Tori Amos - The Beekeeper
Sony BMG (USA 2005)
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