Blumfeld - Verbotene Früchte
Sony BMG (D 2006)
Ein Schlag ins Gesicht der Berufsjugend-Kultur: Die deutschen Lieblinge wollen nicht mehr so, wie das Feuilleton will. Ernst Meyer setzt trotzdem auf ihre familienkompatible Version. 05.05.2006
Blumfeld sind noch immer für einen Kulturkampf gut. Die Verbalattacken ihrer Kritiker reichen von "Eskapismus als Lebensinhalt" (seriös) über "Neue Biederkeit" (lustig) bis hin zu "traurige Scheiße" (unseriös). Was ist da passiert? Zunächst einmal stellt man wenig überrascht fest, daß die bissigsten Anwürfe ausgerechnet aus Redaktionen kommen, die stets als Sprachrohr jenes Establishments fungieren, das linke Bands wie Blumfeld schon sei 15 Jahren bekämpfen. Die andere Seite hingegen findet gar nicht genug lobende Worte - sogar von "dem Besten und Tröstlichsten, was einem diesen Frühling passieren kann" war zu lesen. Wenn eine Band die Pop-Journaille so stark polarisiert, gilt normalerweise die alte Regel: Wo Rauch ist, ist auch Feuer. Doch in diesem Fall muß man abwinken. Der Skandal findet ausschließlich in den Medien statt, sozusagen um seiner selbst willen.
Am neuen Blumfeld-Album "Verbotene Früchte" gibt es nämlich im Prinzip nichts auszusetzen. Nur weil Band-Mastermind Jochen Distelmeyer nicht nach der Pfeife oder Erwartungshaltung irgendwelcher Kulturkritiker tanzt und vermehrt auf Naturlyrik statt Systemkritik setzt, hagelt es von seiten der üblichen Verdächtigen dennoch jede Menge Ohrfeigen. Stimmt schon - wer auf der Platte Stücke wie "Die Diktatur der Angepaßten" sucht, wird sie nicht finden. Na und? Wo steht denn geschrieben, daß eine Popband sich stets nur wiederholen muß? Ist es verboten, sich thematisch einmal auf etwas anderes zu konzentrieren? Schon Francis Picabia stellte fest: "Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann."
Wahr ist: Blumfeld haben noch nie zweimal hintereinander dasselbe Album gemacht. Warum hätten sie es also diesmal tun sollen? Außerdem hat niemand das Recht, einem Dichter vorzuschreiben, welche Texte er zu schreiben hat. Vielleicht hat Distelmeyers Verweigerung, sich im institutionalisierten Mikrokosmos des sogenannten deutschen "Diskurs-Pop" für ewige Zeiten einsperren zu lassen, ja auch mit dem protestantischen Recht auf freie Selbstbestimmung zu tun.
Statt Systemkritik und politischen Statements liefert der freundliche Jochen auf "Verbotene Früchte" wunderschöne deutsche Lyrik, verarbeitet seine Liebe zur Natur und blättert in unzähligen Kinderbüchern. Die Themenwahl des Albums läßt keine andere Schlußfolgerung zu. Na klar! Jochen D. ist Vater geworden und vielleicht ein bißchen religiös, aber auch das ist nicht unbedingt verwerflich ...
Die gesamte Debatte reduziert sich - wie so oft - auf eine armselig-dualistische Rhetorik. Dieses ewige "entweder-oder", das man so oft in Vorspännen lesen kann, funktioniert bei der Betrachtung einer komplexen Welt nicht; viel öfter muß es heißen: "sowohl als auch". Systemkritik und Naturliebe schließen einander nicht aus, ganz im Gegenteil - gerade im deutschen Sprachraum blickt man auf eine traditionelle kombinierte Betrachtungsweise beider Bereiche zurück. Die entsprechende Bibliothek erstreckt sich von Ernst Jünger über Hermann Hesse bis hin zu Martin Heidegger. Auch in der Popmusik findet man entsprechende Songwriter. Man denke nur an den viel zu früh verstorbenen Fad Gadget ("Back to Nature"). Nur ein Ignorant ist nicht in der Lage, die Vielschichtigkeit unserer Existenz zu erkennen. Wir alle gehen gerne in den Wald, erfreuen uns an der Natur und können ebendort auch während des Wanderns über politische Mißstände nachdenken.
Überdies hinaus kommt die Blumfeld-Debatte auch noch zu spät: Die antagonistischen Elemente Kritik und Natur waren schon seit jeher fixe Bestandteile der Distelmeyerschen Dichtung. "Ein Auge sieht den Himmel offen/der verspricht uns etwas Blaues/der Wind gerät in einen Taumel" ("Walkie Talkie", "L´etat et moi") etwa, "Graue Wolken" ("Testament der Angst") oder "Der Wind" ("Jenseits von Jedem"). Bereits auf "Old Nobody" (1999) zeichnete sich ab, daß sich Distelmeyer vom Diskurs-Popper zum folkigen Bänkelsänger wandeln wollte. Wer will schon sein ganzes Leben lang an der Unveränderbarkeit der Welt verzweifeln? Besonders dann, wenn jemand beschließt, eine Familie zu gründen, treten andere Prioritäten in den Vordergrund.
Es ist doch schön für Herrn Distelmeyer, daß er auf dem Lande leben kann. Das hat er sich selbst erarbeitet, und davon träumen doch selbst die mieselsüchtigsten Defätisten und Großstadthyänen. Genau diese Sehnsucht nach Familienidylle wirft man Distelmeyer aber nun vor. Völlig unverständlich. Immer mehr Frauen jammern darüber, daß Männer keine Kinder haben wollen. Da ist nun endlich einer, der nicht nur will, sondern auch kraft seiner lyrischen Sensibilität in der seltenen Lage ist, sich als Mann in die Seele seines Kindes hineinzuversetzen.
Die Tracklist der "Verbotenen Früchte" liest sich demnach auch wie das Inhaltsverzeichnis eines Mira-Lobe-Sammelbandes: "Schnee", "Der Apfelmann", "Tiere um uns", "Ich fliege mit Raben" etc. Alle Kinder lieben Apfelsaft, Tiere und Schnee. Warum also keine Lieder darüber schreiben? Weil sonst die bösen Kritiker mit der "Schlager"-Keule drohen? Deshalb sind diese Früchte also verboten: Weil sie Distelmeyer nicht vergönnt werden. Schlimmer noch - seine hervorragenden Texte werden plötzlich als infantil und degeneriert bezeichnet. Legte man diese extra für Blumfeld künstlich hochgesteckte Intelligenz-Meßlatte an die Gesamtheit des zur Zeit in Hitparaden befindlichen deutschen Liedguts an, das Ergebnis wäre erschütternd. Hoffentlich stellt niemand je die Frage, ob Xavier Naidoo, Silbermond, Tokio Hotel und ganz besonders Wir sind Helden intelligentere Texte schreiben.
Manche Bilder, die in "Verbotene Früchte" behandelt werden, erlauben auch noch andere Interpretationen. Es war der Apfel, der Adam und Eva das Paradies kostete. Wieviele Tiere nahm Noah auf seiner Arche mit? An anderer Stelle, im dadaistisch angehauchten "Strobohobo", heißt es explizit: "Beam mich zurück nach Babylon/Wo bleibt das Positive?" Das Vexierspiel mit alttestamentarischen Motiven hat andere Gründe. Distelmeyer beschäftigte sich intensiv mit Papst Ratzinger und Martin Luther: "Und ginge die Welt morgen unter, pflanzte ich heute noch eine Apfelbaum." Woher er sich Inspirationen holt, ist letzten Endes irrelevant - was zählt, ist die Qualität seiner Lyrik. Während die meisten anderen "Deutsch-Pop"-Bands, von den Sternen bis Silbermond, ihre Texte meist in breitestem Lokaldialekt trällern, setzt Distelmeyer auf das Hochdeutsche. Schon dadurch heben sich Blumfeld angenehm vom dicht besetzten Umfeld ab. Jochen Distelmeyer ist und bleibt der zur Zeit wichtigste deutsche Songwriter.
Und als würde Pop nur aus textlichen Inhalten bestehen, wird bei der aktuellen Kontroverse die Musik völlig vernachlässigt. Doch die kann sich auf "Verbotene Früchte" durchaus hören lassen. Auf den Einsatz von Stromgitarren hat man diesmal völlig verzichtet. Virtuos erklingen klassische Gitarre, Klavier, Trompete (!) und auf "Schmetterlings Gang" sogar eine zauberhafte Sitar, die den Hörer auf eine Zeitreise in die Vergangenheit entführt, als Ravi Shankar George Harrison unterrichtete und "große kosmische Musik" in Deutschland eine neue Bewußtseins-Ära einläutete. "Heiß die Segel!" gemahnt an Seefahrerlieder alter Tage, ohne jegliche Freddy-Quinn-Patina, versteht sich.
Insgesamt wirkt "Verbotene Früchte" aufgeräumter und eingängiger als sein Vorgänger. Frische Musiker sind dafür ebenso verantwortlich wie die richtige Entscheidung, endlich einmal ein Album ohne Chris von Rautenkrantz zu produzieren. Die 13 Songs sind klar strukturiert, verfügen meist über Gassenhauer-Refrains und sind absolut familienkompatibel, ohne je betulich, peinlich oder antiquiert zu wirken. Gute akustische Popmusik unterliegt halt nicht derselben Halbwertszeit wie Techno- oder Elektronik-Releases.
Wem die "neue" Blumfeld wirklich zu brav erscheint, der kann sich ja die alten anhören. Eines ist ihnen allen gemein: sie sind völlig zeitlos.
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