Belo Horizonte
(Photos © Manfred Wieninger)
Die unbekannte Metropole ist die drittgrößte Stadt Brasiliens. Wie viele Menschen dort genau leben, weiß jedoch niemand, da es weder Meldepflicht noch Volkszählungen gibt. Grund genug für Manfred Wieninger, auf seiner Tour einen Zwischenstop einzulegen. 23.01.2009
Würde man Afonso in einen Formel-I-Rennwagen setzen, dann wäre die Ära des amtierenden Weltmeisters möglicherweise bald vorbei - so exakt lenkt er seinen kleinen VW do Brasil durch den Stoßverkehr auf der vierspurigen Via Espressa. Er zischt, immer wieder Spuren wechselnd, mit 80, 90 Sachen auf der Hauptverkehrsachse der brasilianischen Metropole Belo Horizonte dahin: ein einziges permanentes, waghalsiges Überholmanöver.
Was heißt übrigens "lenkt"? Eigentlich bewegt der Motorista das Lenkrad nur mit dem kleinen Finger seiner linken Hand, plaudert dazu ununterbrochen, bekreuzigt sich bei jeder Kirche, an der wir vorbeibrausen, versucht einen Song von João Gilberto, dem jetzigen Kulturminister, im Radio mitzubekommen und hat auch noch allerhand Schlaglöcher und Straßenschwellen vorauszuahnen. Trotzdem fetzt er wie auf Schienen auf den Millimeter genau an den Rückspiegeln, Stoßstangen, Blinkern und Ladeflächen der anderen Autos vorbei.
Dabei sind auf unserer Strecke durch den dichten Verkehr letzten Endes pro Kilometer nicht mehr als 30, 40 Meter Vorsprung zu gewinnen - aber Autofahren, davon ist Afonso fest überzeugt, muß eben auch Spaß machen dürfen. Sein Privattaxi ist peinlich sauber und wird durch einen unübersehbar großen Aufkleber über dem Deckel des Handschuhfachs geziert: "Amo minha esposa - Ich liebe meine Frau." Vom Rückspiegel hängt ein ganzes Bündel von Marienmedaillons herab. Ziemlich wahrscheinlich, denke ich, daß sie alle geweiht sind. Manche Taxifahrer errichten ihren Lieblingsheiligen sogar kleine Hausaltäre in der einen oder anderen Ecke ihrer Fahrzeuge, manchmal mit Beleuchtung.
Rund ein halbes Jahrhundert vor dem megalomanischen Projekt Brasilia war Belo Horizonte die erste Stadt Brasiliens, die auf dem Reißbrett entworfen - und auf dem ausgedehnten, öden Weichbild erschöpfter Minen und gewaltiger Abraumhalden inmitten der steilen, roten Hänge der Serra do Curral verwirklicht wurde. 1898 wurde die ins Nichts gebaute colônia zur Hauptstadt des altes Bundesstaates Minas Gerais erklärt. Von der ursprünglichen Bebauung ist heute nicht mehr viel vorhanden, praktisch nur mehr ein paar Straßenachsen; die Stadt ist seit den sechziger Jahren heftig über sich selbst hinausgewachsen und hat so gut wie alles Alte aufgesogen und quasi überrollt.
Belo Horizonte zählt heute als drittgrößte Stadt Brasiliens rund 2,3 Millionen Einwohner. Mit dem dicht besiedelten Umland sind es wahrscheinlich sogar sieben oder acht; aber so genau weiß das niemand, denn es gibt keinerlei Meldepflicht, keine Volkszählungen, und ein relativ hoher Prozentsatz der Bevölkerung läßt sich vom Staat ein ganzes Leben lang nicht registrieren. Die meisten Menschen aus den noch immer wachsenden Favelas von Belo Horizonte verfügen in der Regel über keine Geburtsurkunden, Schulzeugnisse, Ausweise oder ähnliches. Dabei ist ein Leben in Brasilien ohne die amtliche CPF-Karte fast unmöglich. Ohne dieses kleine, dunkelorange Stück Plastik kann man zum Beispiel offiziell keine Wohnung mieten, kein Bankkonto eröffnen, keine angemeldete Beschäftigung aufnehmen, ja nicht einmal einen Fernseher oder eine Waschmaschine kaufen.
Als der damals 37jährige Juscelino Kubitschek de Oliveira 1939 zum Bürgermeister von Belo Horizonte ernannt wurde, erhielt die Moderne in Brasilien erstmals eine Chance. Kubitschek holte den 32jährigen Oscar Ribeiro de Almeida de Niemeyer Soares, der gerade erst sein Architekturstudium beendet und bis dahin nur als einer von fünf Architekten bei einem Ministeriumsbau in Rio mitgeplant hatte, und ließ ihn in der Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais einen kleinen Stadtteil aus dem Boden stampfen: Pampulha. Auf großzügigen Flächen und inmitten eindrucksvoller Gärten rund um einen See entstanden aus Beton, Glas und Stahl ein Casino, ein Ballhaus und die Kirche Igreja de São Francisco de Assis de Pampulha.
Niemeyers innovative, plastische Architektur der Kurven und Wellen, die den rechten Winkel mied wie der Teufel das Weihwasser, war damals aber nicht leicht durchzusetzen. So weigerte sich etwa der Erzbischof von Belo Horizonte bis 1959, die Kirche von Pampulha zu weihen. Heute ist sie eine der bekanntesten Bauten von Minas Gerais, ja von ganz Brasilien - und Oscar Niemeyer der letzte noch lebende Großmeister der modernen Architekturgeschichte. "Die Kurve ist die Natur: Berge, Körper, Wasser. Alles fließt. Und man darf die Natur nicht immer überall gegen rechte Winkel rennen lassen", sagt er noch heute. 1956 wurde Juscelino Kubitschek brasilianischer Präsident, und diesmal ließ er Oscar Niemeyer nicht nur einen Stadtteil, sondern gleich eine ganze (Haupt-)Stadt entwerfen: Brasilia. Der Rest ist (Architektur-)Geschichte.
1987 erklärte die UNESCO das in knapp vier Jahren hochgezogene Brasilia zum Weltkulturerbe. Der Futurismus war endgültig zur neuen Klassik geworden.
Wenn es so etwas wie einen regulären Hauptplatz von Belo Horizonte gäbe, dann wäre das sicher die Praça da Liberdade. Welche Freiheit mit dem Platznamen gemeint sein könnte, ist Afonso und den meisten Einheimischen nicht so recht klar. Es könnte die Befreiung von der portugiesischen Kolonialherrschaft, aber auch von der Militärdiktatur der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bedeuten.
Wer jemals auf der Praça da Liberdade gestanden ist, kann sich die Lektüre eines Buches über brasilianische Architektur ersparen; hier sind alle Stile und Richtungen vertreten: vom Palácio da Liberdade - einst Staatspalast und Sitz des Gouverneurs, heute Museum, als eines der wenigen noch existierenden Gebäude aus der Gründungszeit der Stadt - im Stil des französischen Neoklassizismus über die ebenfalls neoklassizistischen Ministerien von Minas Gerais und das Neorokoko-Palais Pantas des italienischen Architekten Luiz Olivieri bis zur Igreja Nossa Senhora de Lourdes, einer neugotischen Basilika aus dem Jahr 1923. Erst Oskar Niemeyer brach der Moderne hier die Bahn. Auf dem Freiheitsplatz ist er mit einem unverwechselbaren Hochhaus in Form einer mächtigen, wogenden Welle - dem Edifício Niemeyer - vertreten, das längst zum heimlichen Wahrzeichen Belo Horizontes geworden ist.
Seitdem hat sich die Moderne nicht mehr aus der Stadt vertreiben lassen. Mit dem Memorial da Mineracão, in dem das sehenswerte Mineralogiemuseum des Bergbaustaates Minas Gerais untergebracht ist, ist mittlerweile auch die Postmoderne auf dem Platz vertreten. Allerdings war gerade die Errichtung dieses eklektizistischen Baus aus Seifenstein und Stahl, Quarz und Metall nicht unumstritten und von wilden Polemiken überschattet. Schnell hatte das Gebäude einen abfälligen Spitznamen weg: Rainha da Sucata - Müllkönigin. Dabei würde diese Bezeichnung viel besser auf ein leicht vergammeltes Hochhaus am Ende des Platzes passen, auf das Hauptquartier der Militärpolizei aus den sechziger Jahren. Was für ein zynischer Witz der damals herrschenden Militärjunta, die Folterpolizisten gerade mitten am Freiheitsplatz anzusiedeln!
Heute dagegen sind die gutbürgerlichen Jogger im weitläufigen Park auf der Praça da Liberdade froh über die Präsenz der Polícia militar. Inzwischen habe ich ein wenig die Orientierung in der Millionen-Metropole verloren. Wir fahren neugebaute, steile Straßen unter schroffen Abhängen aus dunkelroten Felsen und rostroter Erde hinauf, deren Ränder dicht bebaut sind mit den jüngsten Kreationen der selbstbewußten Hochbauingenieure von Belo Horizonte, mit kühnen Glas-Stahl-Hochhäusern auf Stelzen, wuchtigen Einkaufspalästen, trutzigen Wohnburgen und großzügigen Niederlassungen von Autoimporteuren und Elektronikhändlern.
Neben den neuesten Modellen der brasilianischen Autoindustrie sind in dieser Gegend aber auch Eselskarren unterwegs und sogenannte Müllmenschen, spindeldürre Gestalten, die ihre Handwagen - meterhoch beladen mit Karton, Papier und Plastik - selbst ziehen müssen. Wie überall in Brasilien ist auch hier die Armut dunkelbraun bis schwarz. Als wir an einem großen Einkaufszentrum vorbeikommen, meint Afonso lapidar: "Dort haben sie einen Kopf gefunden. Auf der Toilette. Einen Männerkopf in einem Plastiksack. Ist jedenfalls in der Zeitung gestanden."
"Und?" frage ich neugierig.
"Am nächsten Tag ist nichts mehr in der Zeitung gestanden."
Wahrscheinlich gehören, denke ich, solche Storys zur Folklore in einer brasilianischen Großstadt. Warum sollte ausgerechnet Belo Horizonte eine Ausnahme machen?
Im Haus meines Vermieters Senhor Schall, dem Ziel unserer Fahrt, gibt es einen grünen, steinalten und ziemlich bösartigen Papagei, der an einem Fuß angekettet auf einer Stange in der Küche permanent irgendwelche nervenden Stimmübungen veranstaltet. Sein Besitzer versucht ihm nun schon seit Jahren vergeblich beizubringen, das Wort "Cruzeiro" auszusprechen, und das in einem möglichst jubelnden Ton. Cruzeiro ist nicht mehr und nicht weniger als der erfolgreichste Fußballverein der Stadt, dessen Heimspiele im Mineirão, dem zweitgrößten Fußballstadion der Welt, stattfinden und dessen erklärter Anhänger Senhor Schall ist. Cruzeiro ist dabei mehr als ein bloßer Verein, es ist eine Weltanschauung. Wenn der Papagei also wenigstens nur stumm bliebe bei Senhor Schalls unentwegten Versuchen, ihm die drei Silben "Cru-zei-ro" zu entlocken. Stattdessen trompetet das Federvieh laut schallend "Atlético" und wiederholt den Namen des Fußball-Stadtrivalen auch noch mehrmals mit tiefer Befriedigung - Senhor Schall hat sein trautes Eheweib im Verdacht, das dem Papagei heimlich beigebracht zu haben. Trotz all der Widerworte läßt er es sich nicht verdrießen, mich mit seiner Canchaca-Sammlung zu traktieren. Gerade Minas Gerais ist besonders reich an verschiedenen Sorten und Lagen des Zuckerrohrschnapses. Praktisch jede Fazenda, die über ein paar Hektar leidlich feuchter Wiesen etwa in der Nähe eines Flüßchens verfügt - nur auf solchen Böden gedeiht das Zuckerrohr prächtig -, brennt auch Canchaca.
Und wirklich, nach dem zweiten oder dritten Stamperl schmeckt man Unterschiede im Aroma, in der Süße oder Herbheit, im Abgang, je nachdem, wie lange der Schnaps gelagert wurde und worin - ob in Stahltanks, Betonwannen oder bestimmten Holzfässern, die aus einem Baum hergestellt werden, der nur rund um das minerische Städtchen Jequítiba vorkommt. Zum Essen wird dann aber ausschließlich Bier getrunken, eiskaltes Bier, so kalt, daß einem der Magen einfrieren könnte. Wie viele Mineiros besitzt Senhor Schall einen eigenen Kühlschrank für seine Biervorräte, der noch ein paar Grade tiefer kühlt als der sozusagen normale Familieneisschrank im Haus, der für Milchprodukte, Fleisch, Obst usw. bereitsteht. Selbstverständlich kommt die Flasche mit dem Gerstensaft im Bierkühler aus Styropor auf den Tisch. Dieser Tisch biegt sich übrigens nicht nur unter den Getränken. Die Mineiros lieben herzhafte Gerichte in herzhaften Portionen. Das kommt mir, der ich kein guter Koch, aber ein guter Esser bin, natürlich sehr entgegen.
Als Vorspeise kommen große Schüsseln mit Pasteis - das sind mit Faschiertem oder Käse gefüllte, in heißem Fett herausgebackene Blätterteigtaschen - und Salpicão - das ist eine Art Salatplatte vor allem mit Karotten, Erbsen, Mais, kalter, kleingeschnittener Hühnerbrust und seltsamerweise mit Knabbergebäck, winzigen Pommes frites garniert - auf den Tisch. Dann wird es aber deftig-fleischig. Es gibt riesige, gegrillte, gebratene Stücke des vorzüglichen einheimischen Rindfleisches; als Beilagen werden Reis, Maniok und der typische Bohneneintopf Feijoada gereicht, der nicht nur aus schwarzen Bohnen, sondern auch aus Ohren, Rüssel, Schwänzchen und Füßchen vom Schwein und der Schweinsschinkenwurst Paio besteht. Dazu gibt es noch Farofa, das sind geröstete Maniokbrösel mit Speck, Grammeln, Zwiebel, Knoblauch und zerkleinerten harten Eiern, sowie Vinagrete, das ist kleinwürfelig geschnittenes Gemüse in Essig. Alles in allem einst ein Essen für die Schwerarbeiter in den Minen des Bergwerkstaates Minas Gerais, heute jedoch das minerische Nationalgericht.
Als erste Nachspeise wird ein großer, weißer Laib des berühmten Minas-Käses serviert. Der Gastgeber schneidet sich eine Scheibe herunter und legt eine Schnitte einer eingedickten, festen Marmelade - Goijabado aus Goiabas - darauf, um beides mit sichtlichem Genuß wie ein belegtes Brot zu verzehren. Ich bin zuerst ein wenig skeptisch, tue es ihm dann aber gleich, schließlich will man sich ja nicht als Gringo gebärden. Als weitere Nachspeisen kommen ein zuckerrohrsüßer, überirdisch köstlicher Bananenkuchen und diverse Schüsselchen Crema - eingedickte, gesüßte Milch mit verschiedenen Geschmacksrichtungen - auf den Tisch. Um danach die sehr in Anspruch genommene Verdauung anzuregen, wird wieder ausgiebig Canchaca kredenzt.
Mir ist es schon einmal schlechter ergangen, denke ich - und es könnte schon sein, daß Gott ein Brasilianer ist.
Belo Horizonte
(Photos © Manfred Wieninger)
Ich habe Maschinenbau studiert und bin auf all das hier nicht angewiesen. Schließlich habe ich im Gegensatz zu Ihnen etwas Vernünftiges gelernt. Außerdem bin ich voll und ganz davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben ...
Das Schlimmste ist, daß sie den Kopf zu mir drehen und mich anzusehen versuchen, während ich sie über den Haufen fahre. Sie ziehen nur den Kopf ein wenig ein und schauen mich irgendwie traurig an ...
Am 4. Dezember 2000 verstarb Hans Carl Artmann, einer der größten Literaten Österreichs. Anläßlich des zehnten Todestages: Eine Hommage von Manfred Wieninger.
Es könnte der Titel eines modernen Romanes aus deutschsprachiger Feder sein. Doch auch anderswo werden verkrampfte Begriffe ersonnen. Beim Militär zum Beispiel.
Massaker in Hofamt Priel: Revierinspektor Winkler und eines der größten ungelösten Rätsel der österreichischen Kriminalgeschichte.
Von Manfred Wieninger
Es gibt sie noch, die legendären Wiener Cafés, mit ihren Geschichten und ihrer Vergangenheit - wenn auch manche Änderungen ein wenig eigenwillig anmuten. Manfred Wieninger hat eines davon besucht.
Kommentare_
Herr Wieninger,
waren Sie in Belo Horizonte denn auch in diesem wunderbaren japanischen Restaurant im torre Alta Vila? Nun gut, Scherz beiseite. Einen sehr interessanten Artikel haben Sie da verfasst. Für Stadtplaner muss Brasilien mit skizzierten Machwerken wie Brasilia, Goiânia und eben BH aber auch ohne hochwertige Küche immer wieder ein reinster Gaumenschmaus sein. Ich hingegen habe auch nach ausgiebigen und teilweise fatalen Auswirkungen noch keinen besonderen Unterschied zwischen dem 51 und diversen Cachaça-Marken aus Minas Gerais ausmachen können, eventuell muss man dazu aber auch etwas tiefer in die Tasche greifen.
Gruß,
Andreas