Stories_Aus den Klassik-Archiven

Alt, aber gut

Plattenfirmen verstehen sich immer mehr als Lieferanten und Billig-Dienstleister. Darunter leidet naturgemäß die Qualität der Neuerscheinungen. Herbert Hiess flüchtet ins Archiv.    08.11.2006

Eifrige Klassikhörer wissen längst, worum es heute bei Neuerscheinungen geht: Da werden "Bestseller" lautstark angepriesen und beliebte Werke zum x-ten Mal malträtiert. Und was kommt dabei heraus? Eine im besten Falle vergessenswerte Aufnahme. Gute oder gar hervorragende Neuerscheinungen sind eine Seltenheit geworden und tauchen fast ausschließlich im symphonischen oder Kammermusik-Bereich auf. Besitzenswerte neue Opern-Gesamtaufnahmen kommen so gut wie gar nicht mehr auf den Markt - einerseits wegen der immer durchschnittlicheren Gesangskünstler, andererseits wegen der verrückten Sparpolitik der Plattenproduzenten, die bei Opernproduktionen fast nur inferiore bis mittelmäßige Dirigenten ans Pult lassen.

 

Angesichts dieser Tatsachen freut man sich umso mehr, wenn sich in den aktuellen Release-Listen eine Vielzahl von Wiederauflagen findet. Bei solchen Aufnahmen lesen sich schon die Namen der Orchester, Sänger und Dirigenten wie ein "Who´s who" der Interpretationsgeschichte. Beim Hören erlebt man ein längst vergessen geglaubtes Niveau an Unmittelbarkeit, Begeisterung und Qualität. Erinnerungen werden wach, wenn man Klänge vernehmen darf, die es heute nur mehr äußerst selten zu hören gibt; ganz abseits des "professionellen Abspulens" von Noten, das mittlerweile offenbar zum allgemein anerkannten Standard geworden ist.

 

Trauriger Anlaß für unsere Reise in die Archive ist der Tod der Primadonna Elisabeth Schwarzkopf, die diesen Sommer in Vorarlberg verstorben ist. Wie man ihre Stimme und Interpretationsweise findet, das ist natürlich Geschmackssache - doch Schwarzkopf war unbestritten die "Erste Frau" auf dem Konzertpodium und der Opernbühne. In den 50er und 60er Jahren nahm sie bei ihrem medialen Stammhaus EMI viele Schallplatten auf, die mittlerweile als ihr musikalisches Vermächtnis gelten dürfen. Eine davon ist die Aufnahme der Vier letzten Lieder und zwölf Orchesterlieder von Richard Strauss. Gemeinsam mit dem streng-rabiaten Dirigenten George Szell, der das Cleveland Orchestra zu einem Weltorchester machte, nahm sie zwischen 1966 und 1969 mit dem Radio-Symphonieorchester Berlin und dem London Symphony Orchestra diese Goldklänge auf. Die Produktion verweist viele Konkurrenzaufnahmen auf die hinteren Plätze - schon wegen des unsagbar ergreifend gesungenen und gespielten "Im Abendrot" aus den "Vier letzten Liedern".

 

Eine weitere Traumproduktion ist Ariadne auf Naxos mit Elisabeth Schwarzkopf, Rudolf Schock und Herbert von Karajan. Der österreichische Maestro mußte ja in den Nachkriegsjahren fast ein Auftrittsverbot hinnehmen und fand (gottlob) in London eine neue musikalische Heimat. Walter Legge, Produzent der EMI und nebenbei Ehemann der großartigen Sängerin Schwarzkopf, ermöglichte Karjan eine Vielzahl von Produktionen mit dem Philharmonia Orchestra London, das eigens dafür gegründet wurde. Eine davon war diese "Ariadne" aus dem Jahre 1954, die eine musikgeschichtliche Sternstunde wurde. Es gibt bis heute keine Gesamtaufnahme dieser Oper, die eine derart grandiose kammermusikalische Präsenz und dramatische Direktheit zugleich vermitteln kann. Karajan bewies allein mit der "Ariadne", daß er ein Weltklassedirigent war und immer sein wird. Schwarzkopf war die Primadonnenrolle der Strauss-Oper auf den Leib geschrieben; leider gibt es heute keine Sängerin (wie eine Anna Tomowa-Sintow oder Jessye Norman) mehr, mit der man diese Mordspartie besetzen könnte.

 

Bleiben wir bei Herbert von Karajan: Anläßlich seiner Wiener Staggione-Jahre 1977 bis 1979 nahm er in den Wiener Sofiensälen mit der Decca Le nozze di Figaro auf. Der dabei entstandene Tonträger erfährt (wahrscheinlich dank des Mozart-Hysteriejahrs) jetzt ein Revival der besonderen Art. Karajan spielte mit den - damals noch unvergleichlich guten - Wiener Philharmonikern und einem illustren Sängerensemble eine der besten Aufnahmen dieser Oper ein. Zu den Sängern gehören unter anderem die bereits erwähnte Anna-Tomowa Sintow als Gräfin und Ileana Cotrubas als Susanna. (Cotrubas stellt im direkten Vergleich die angeblich so grandiose Anna Netrebko rasch als Soubrettchen in einen musikalischen Schmollwinkel ...) Nebenbei wurde bei dieser Produktion Frederica von Stade entdeckt, die 1978 als werdende Mutter in den Sofiensälen stand.

 

Einen Geburtstagsgruß gibt es an den in Lausanne (Schweiz) geborenen Dirigenten Charles Dutoit, der am 7. Oktober 70 Jahre alt wurde. Dutoit war einmal vier Jahre lang (1969 bis 1973) mit der Pianistin Martha Argerich verheiratet, die den "Lebensbund" jedoch auch schon mit Claudio Abbado für kurze Zeit geschlossen hat. Charles Dutoit, der sich leider fast noch nie nach Wien verirrte, war von 1977 bis 2002 Chefdirigent des Symphonieorchesters von Montreal und ist derzeit Chefdirigent des Philadelphia Orchestra. In einer 6-CD-Box (inkl. einer Bonus-DVD) wurden seine wichtigsten Produktionen zusammengestellt - darunter Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung", Bartoks "Konzert für Orchester", Werke von Igor Strawinsky, Francis Poulenc, George Gershwin usw. Auf der Bonus-DVD sieht man die visualilsierte Interpretation von Ausschnitten aus Sergei Prokofjews Ballett "Romeo und Julia" sowie die "Symphonie Classique" - beide in skurril-lustigen Inszenierungen. Diese musikalische Weltreise suggeriert dem Hörer, daß Dutoit überall auf der (musikalischen) Welt daheim ist - bis auf Wien halt. Wenn das keine Schande für die hiesigen Konzertmanager ist ...

Herbert Hiess

Richard Strauss - Vier letzte Lieder/12 Orchesterlieder

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EMI Classics (D 2006)

 

Elisabeth Schwarzkopf, Sopran

 

Radio-Symphonie-Orchester Berlin, London Symphony Orchestra/George Szell

 

Links:

Richard Strauss - Ariadne auf Naxos

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EMI Classics (D 2006)

 

Elisabeth Schwarzkopf, Rudolf Schock, Erika Köth, Irmgard Seefried

 

Radio-Symphonie-Orchester Berlin, London Symphony Orchestra/George Szell

 

Links:

Wolfgang Amadeus Mozart - Le Nozze di Figaro

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Decca/Universal Classics (D 2006)

 

Anna Tomowa-Sintow, Ileana Cotrubas, Frederica von Stade, José van Dam, Tom Krause

 

Wiener Staatsopernchor, Wiener Philharmoniker/Herbert von Karajan

 

Links:

The Art of Charles Dutoit

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Werke von Igor Strawinsky, Modest Mussorgsky, Claude Debussy usw.


Decca/Universal (D 2006)

 

div. Orchester /Charles Dutoit

 

Links:

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