Er beförderte mit "Rashomon" das japanische Kino zurück auf den Radar der internationalen Filmszene, sein "Die Sieben Samurai" feiert heuer 60jähriges Jubiläum, und sein Todestag jährt sich bald zum 16. Mal. Genau der richtige Zeitpunkt für Marcus Stiglegger, den Großmeister mit "Kurosawa - Die Ästhetik des langen Abschieds" zu würdigen. EVOLVER präsentiert auszugsweise die Einführung zum Buch.
11.03.2014
Der Name Akira Kurosawa wird wie kein zweiter als Prototyp eines japanischen Kinos im Westen wahrgenommen - eine Wahrnehmung, die nicht unbedingt mit der Rezeption und dem Erfolg des Regisseurs in seinem Heimatland korrespondiert. Das mag verschiedene Gründe haben. So machte er mit dem preisgekrönten Rashomon das japanische Kino nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt erst wieder für westliche Betrachter bekannt und initiierte so auch die Wahrnehmung seiner Kollegen Kenji Mizoguchi und Yasujiro Ozu. Zudem erfüllt das Werk, oberflächlich gesehen, am ehesten jene exotistische Erwartung, in einem japanischen Film habe es vornehmlich um die Vergangenheit des kaiserlichen Japans zu gehen, die von waffenklirrenden Samurais und geheimnisvollen Geishas beherrscht wird. Nicht von ungefähr gehören gerade jene jidai-geki wie Die sieben Samurai, Das Schloß im Spinnwebwald, Yojimbo und Sanjuro zu den meistzitierten Filmen von Kurosawas kreativer Hochphase, während seine gendai-geki jener jahre erst später entdeckt und gewürdigt wurden - eine Ausnahme mag Ikiru bilden, der eine noch zu erläuternde Ausnahmeposition einnimmt.
Im Sinne der klassischen politique des auteurs, wie sie im Umfeld der renommierten französischen Zeitschrift "Cahiers du cinéma" definiert wurde, kann Akira Kurosawa zweifellos von Beginn seiner Regiekarriere an als auteur - also ein Filmemacher mit dezidierter eigener Handschrift - gelten. Kurosawas Filme können als Ausdruck der "persönlichen Mythologie" (Roland Barthes) ihres (hauptsächlichen) Schöpfers betrachtet werden, sie sind der audiovisuell komponierte Ausdruck einer speziellen vision du monde. Da Film ein kollektives Medium darstellt und nicht auf eine individuelle kreative Leistung reduziert werden kann, ist es für den Filmemacher wichtig, einen verläßlichen Stamm von Mitarbeitern um sich zu scharen: Kameraleute, Komponisten, Architekten, Editoren und natürlich Darstellerinnen und Darsteller, die seine Vision verwirklichen können. Diese Ensemblearbeit etablierte Kurosawa von seinem ersten Film an.
Dazu kommt die Forderung, der auteur habe sein eigenes Drehbuch zu verfassen - eine streitbare Idee, denn letztlich zählt das Wie der Inszenierung, weniger die Eigenarten der Vorlage. Doch auch diese Forderung erfüllte Kurosawa, der nicht nur die Drehbücher selbst bearbeitete und verfaßte, sondern später zunehmend akribische Storyboards zeichnete.
Nirgendwo zeigt sich die Handschrift eines auteurs deutlicher als in seinen wiederkehrenden Stilmitteln. Ungeachtet gelegentlich wechselnder Ensemblemitglieder findet man von Anfang an in Kurosawas Filmen Wischblenden, die oft zeitraffende Ellipsen markieren, aber auch eine Dehnung der Zeit: Zeitlupe, die eine Dauer und Intensität der Beobachtungen ermöglicht.
Inhaltlich findet man in Kurosawas Filmen wiederkehrende Motive wie den Bezug zur japanischen Kriegerethik des Bushido, und zwar auch in zunächst ungewohnten Kontexten. So erfahren wir am Ende von Ikiru - Einmal wirklich Leben, daß der todkranke alte Verwaltungsbeamte in seinen letzten Lebenswochen nicht der Lebenslust frönte, sondern es vorzog, im Sinne der Gemeinschaft Gutes zu tun und einen Kinderspielplatz zu ermöglichen. Er stellt die Pflicht über sein eigenes Leben - bis in den Tod.
Die Beschäftigung mit dem Tod ist hier wie in vielen anderen Werken ein Hauptanliegen Akira Kurosawas. Biographisch motiviert durch eine kindliche Wanderung durch das vom Erdbeben zerstörte Tokio sowie den frühen Selbstmord des Bruders, wird der Tod zu einem über allem schwebenden Schlüsselmotiv, und das Leben erscheint als ein langer Abschied. Wie Jean Cocteau einmal feststellte, sieht das Kino dem Tod bei der Arbeit zu. Kurosawas Filme nehmen diese poetische These beim Wort und streben nach einer Ästhetik des langen Abschieds in Bild und Montage.
In seinem ersten Spielfilm als Regisseur, dem Kampfsportdrama Sugata Sanshiro (1941), finden sich diese Elemente und Motive deutlich wieder. In seinem ersten Viertel ist eine lange Montagesequenz zu sehen, die diese Ästhetik des langen Abschieds verdeutlichen mag: Nachdem der Titelheld Zeuge eines Überfalls seiner Ju-Jutsu-Schule auf einen konkurrierenden Judo-Meister war, mußte er erleben, wie dieser alle Angreifer elegant besiegte. Voller Ehrfurcht huldigt er dem Judo-Meister und bietet ihm seine Dienste an. Dazu ersetzt er spontan den Rikscha-Fahrer. Kurzentschlossen wirft er seine hinderlichen Holzsandalen von sich und zieht den Wagen davon. Doch statt sich nun auf den Protagonisten und seinen neuen Meister zu konzentrieren, bleibt Kurosawas Aufmerksamkeit auf einen der Schuhe gerichtet, der in den folgenden elliptisch montierten Einstellungen im Laufe der Jahreszeiten gezeigt wird - als nutzloses Objekt im Straßenschlamm, auf einem Zaunpfahl im Schnee und schließlich im Fluß schwimmend. Am Objekt - pars pro toto - verdeutlicht Kurosawa das Verrinnen von Zeit, das Verabschieden und Vergessen des früheren Lebens. Doch statt das nur auf ein Mittel ökonomischer Narration zu reduzieren, kann man bereits hier von einem performativen Verharren der Inszenierung sprechen. Statt also auf Dialoge und äußere Narration zu bauen, zeichnen sich Kurosawas Filme immer wieder durch solche performativen Exkurse aus - Momente der Reflexion, des Verharrens im Geschehen.
Das Verhältnis von Film und Performance ist nicht unproblematisch, gilt doch als Dispositiv der theatralen Performanz bereits die lebendige Koexistenz von Akteuren und Publikum [1], ein Dispositiv, das sich auf den ersten Blick eklatant von dem des Films unterscheidet. Das Verhältnis des Performancekünstlers und eines aktiven, gegebenenfalls interagierenden Publikums ist im Film nicht gegeben, wohl aber die performative Hervorbringung von Materialität, deren zentrale Kategorien Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit und Zeitlichkeit sind. [2] Die Filmvorführung mag nicht einmalig, sondern wiederholbar erscheinen - doch ein projizierter Film kann theoretisch unverändert immer neu rezipiert werden. Auch hat die Reaktion des Publikums keinen direkten Einfluß auf den vorgeführten Film, und dennoch gibt es Unwägbarkeiten, die zu einer Medienästhetik der Störung im Film führen: Filmrisse, Unberechenbarkeit des Publikums, Abbruch der Vorführung, Schatten auf der Leinwand. Doch auf einer anderen Ebene erscheint die filmische Performanz noch deutlicher: Auch hier gelten als Ebenen der Performanz Bewegung, Körper und Sinnlichkeit, die zu einem Appell an das affektive Gedächtnis [3] des Zuschauers kombiniert werden. Das Publikum kann darauf individuell mit spontanen emotionalen Ausbrüchen (Tränen in melodramatischen Momenten), psychosomatischen Affekten (Ekel, Furcht) und grundsätzlich mit Unberechenbarkeiten in der Filmrezeption reagieren. Die Filmwissenschaftlerin Martine Beugnet definiert es als geradezu bewußtseinserweiternden Akt, einen Film zu erleben:
"To open oneself to sensory awareness and let oneself be physically affected by an art work or a spectacle is to relinquish the will to gain full mastery over it, choosing intensity and chaos over rational detachment."[4]
Diese hier beschriebene Intensität entsteht, wenn Film nicht mehr nur als erzählendes Medium begriffen wird, sondern die Grenze überschreitet, die sichere Membran der Leinwand sprengt und sich über den Zuschauer ergießt, diesen konfrontiert wie ein performativer Akt - und dadurch zur unmittelbaren Anteilnahme verführt. [5] Das performative Kino agiert auf dem filmischen Körper, dem »Cinematic Body« [6], ein mitunter grausames Spektakel aus. Hier nähern sich filmische und theatrale Performanz zweifellos an: »Ziel dieses Verfahrens ist nicht mehr das Kunstobjekt, sondern der Prozeß«, wie Johannes Lothar Schröder es ausdrückt. [7] Es zählt nicht mehr, was erzählt wird, sondern das momentane Wie. Eine filmische Illusion, die einfache Mimesis des sozialen Alltags, wird dabei unter Umständen ebenso aufgegeben wie die psychologische Dimension der Figuren. Wichtig ist zunächst, was diese Filme mit dem Betrachter anstellen, und vor allem, wie sie das tun.
Die beachtliche Länge von Kurosawas filmischen Hauptwerken, die mitunter drei Stunden überschreitet, arbeitet diesen performativen Exkursen und Kadenzen zu. Ungeachtet der fabelhaften Einfachheit seiner Plots konzentriert er sich in Bild und Klang ganz auf jene vermeintlichen Nebensächlichkeiten, die er intensiv ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und so das Wie über das Was der filmischen Narration stellt. Eine der radikalsten Entscheidungen diesbezüglich traf Kurosawa, als er in der finalen Schlacht aus seinem Historienepos Kagemusha - Der Schatten des Kriegers (1980) das Kampfgeschehen herausschnitt, obwohl er es aufwendig inszeniert hatte. Es geht hier um das Abschlachten eines mit Blankwaffen angreifenden Samurai-Clans durch verschanzte Musketiere, die die todgeweihten Ritter auf Distanz von ihren Pferden schießen. Dieses Ende einer Ära des ehrenvollen Schwertkampfs läßt und der Regisseur nur mehr hören: Immer neue Reiter kommen ins Bild, wir hören die Schüsse, und auf den gezeigten Gesichtern der Augenzeugen bildet sich das Grauen ab.
Nur oberflächlich dienen diese Momente der dramaturgischen Ökonomie, indem sie die Zeit raffen. Tatsächlich dehnen sie Momente des vermeintlich Nebensächlichen zu enormer Bedeutung. Das Gesicht als Affektspiegel bereitet den Rezipienten auf das vor, was tatsächlich kommen wird: das Schlachtfeld, überdeckt mit Leichen von Tieren und Menschen, manche noch in den letzten Todeszuckungen. Statt auf das flüchtige Spektakel des würdelosen Kampfes zu bauen, konzentriert sich die Inszenierung in den folgenden Minuten ganz auf die Präsenz des ultimativen, allumfassenden Todes. Und Kurosawa verlangsamt die Bilder, dramatisiert sie mit vereinzelten Teiko-Trommelschlägen: das letzte Aufbäumen eines Soldaten, das vergebliche Austreten eines blutüberströmten Pferdes in den letzten Momenten. Kurosawas Kino voller Schönheit und Grauen sieht dem Tod bei der Arbeit zu. Seine Ästhetik des langen Abschieds macht den Tod sinnlich erfahrbar. Hier wird die Vergänglichkeit der Dinge im Fluß der Zeit deutlich. Die Ästhetik des langen Abschieds ist bei Kurosawa eine Lichtung des Todes auf der Leinwand.
Und doch sollten dies nicht Kurosawas letzte Bilder bleiben, denn er selbst war nicht immer pessimistisch (auch wenn er sich um 1971 das Leben nehmen wollte). Selbst im rituellen Grundmodell seines Spätwerkes Madadayo ("Ich bin noch hier") wird das trotzige Aufbäumen des Lebens gegen die Unausweichlichkeit des Verfalls spürbar.
Marcus Stiglegger - Kurosawa: Die Ästhetik des langen Abschieds
Edition Text und Kritik (D 2014)
Fußnoten:
[1] Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Berlin 2004
[2] Ebd., S. 129f.
[3] Stanislawski: Stanislawski Reader. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst und an der Rolle, Berlin 2007
[4] Martine Beugnet: Cinema and Sensation. French Film and the Art of Transgression, Carbondale 2007, S. 3.
[5] Siehe zur Seduktionstheorie des Films: Marcus Stiglegger: Ritual & Verführung, Berlin 2006
[6] Steven Shaviro: The Cinematic Body, Minneapolis 1993
[7] Johannes Lothar Schröder: Performance, in: Manfred Brauneck, Gerard Schneilin (Hg.), Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1986, S. 675
Sollten Sie noch einige Lücken in Ihrer Biblio- oder Videothek zu schließen haben, legen wir Ihnen an dieser Stelle die DVD-Veröffentlichungen der Criterion Collection ans Herz. Während die umfangreichen Editionen von "Seven Samurai" und "Kagemusha" nicht zu überbieten sind, liegen auch Akira Kurosawas andere Werke (ein Großteil davon mit Audiokommentar) als digitale Datenträger vor. Lediglich "Ran" ist längst vergriffen, der deutsche Release von StudioCanal ist allerdings über jeden Zweifel erhaben. Kurosawas Drehbuch "Dora-heita" wurde übrigens noch 2000 von Kon Ichikawa mit Kôji Yakusho in der Hauptrolle verfilmt. Sollten Chanbara-movies für Sie noch Neuland sein und Serienhelden wie Zatoichi, Kyoshirō Nemuri oder Ogami Itto nicht auf Ihrer Wellenlänge liegen, probieren Sie Masaki Kobayashis Anti-Samurai-Streifen "Harakiri" (erhältlich als GB-Import bei Eureka) aus.
Naben Marcus Stigleggers Beitrag empfehlen wir Ihnen noch Alain Silvers großartiges "The Samurai Film" (mittlerweile dank Neuauflage wieder erhältlich), James Goodwins "Akira Kurosawa and Intertextual Cinema", Audie Bocks "Japanese Film Directors" und natürlich Kurosawas "So etwas wie eine Autobiographie" sowie Teruyo Nogamis "Waiting on the Weather: Making Movies with Akira Kurosawa".
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