Stephen King: Der Anschlag
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11/22/63
Heyne (D 2012)
... man den Lauf der Geschichte verändern könnte? Wäre dann tatsächlich alles besser? Eine Frage, die der US-Autor auf mehr als 1000 Seiten zu beantworten versucht - und dabei einen großartigen Roman schafft. 16.02.2012
Dabei ist die Geschichte, die Stephen King in dem Ziegelstein von Buch ausbreitet, nicht einmal spektakulär. Sie handelt von Jake Epping, der von Al Templeton, einem guten Bekannten und Betreiber eines Imbißladens, erfährt, daß sich hinter dessen Diner ein "Portal" befindet. Ein "Kaninchenloch", wie Al es nennt.
Tritt man hinein, gelangt man zurück ins Jahr 1958, um genau zu sein, zum 9. September 1958, 11:58 Uhr vormittags. Von da an kann man soviel Zeit in der Vergangenheit verbringen, wie man möchte, im Zweifelsfalle bis zur Jetztzeit. Kehrt man allerdings durchs Kaninchenloch heim in die Gegenwart, sind dort gerade einmal zwei Minuten vergangen. Wagt man danach einen neuerlichen Sprung in die Vergangenheit, gelangt man wieder zum 9. September 1958, 11:58 Uhr vormittags. Quasi ein kompletter Neustart.
Al, der viele Jahre in der Vergangenheit verbracht hat (oder von jetzt aus betrachtet: nur zwei Minuten) und dabei zwischenzeitlich schwer an Krebs erkrankt ist, bittet Jake, seinen Job fortzuführen (bzw. noch einmal anzufangen): nämlich herauszufinden, ob Lee Harvey Oswald am 23. November 1963 tatsächlich Teil einer Verschwörung oder doch nur ein Einzeltäter war, um anschließend dessen Attentat auf John F. Kennedy zu verhindern. Würde dies gelingen, wäre das Schicksal Amerikas und das der ganzen Welt zweifellos ein anderes. Ein besseres, davon sind Al und Jake überzeugt.
Also begibt sich Jake zurück ins Jahr 1958, wo er fünf Jahre lang auf den Moment warten muß, in dem Lee Harvey Oswald das Gewehr auf den Präsidenten richten wird. Fünf Jahre, in denen gar nicht so viel passiert. Und andererseits verdammt viel.
Was nun? Ein Science Fiction-Roman aus der Feder des King of Horror? Mitnichten, denn am allerwenigsten ist "Der Anschlag" SF, auch wenn Stephen King sich bemüht, die üblichen Paradoxon-Fragen einer Zeitreise aufzuwerfen. Aber um schlüssige Erklärungen geht es ihm dabei nicht, ging es ihm noch nie, auch nicht in seinen populärsten Horrorromanen, in denen man das Grauen, das schleichend in unsere heimelige Welt einbrach, einfach akzeptieren mußte - oder es bleibenließ.
Horror bietet Kings neuer Roman aber ebensowenig, obwohl es eine traumhafte Szene gibt, die in Derry spielt, wenige Wochen, nachdem die Stadt das erste Mal von ES heimgesucht worden ist. Jake trifft dort sogar auf Beverly und Richie, zwei aus dem "Club der Verlierer", die glauben, ES besiegt zu haben. Doch Jake spürt das Böse, das noch immer in den Kanälen unter der Stadt haust - und daß es irgendwann zurückkehren wird.
Wenn überhaupt, ist "Der Anschlag" ein historischer Roman, in dem der Autor, mit 400 Millionen verkauften Büchern einer der erfolgreichsten Schrifsteller der Welt, das ruppige, rassistische, aber auch das schlichte, durchaus liebenswerte Leben der 60er Jahre vor den Augen der Leser entfaltet. Dabei ist Stephen King ganz in seinem Element. Mit scheinbarer Beiläufigkeit taucht er in den Alltag seiner Protagonisten, denen der Leser nur zu gerne auf ihrem Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens folgt. Menschen wie du und ich, die er deshalb lieben lernt und mit denen er leidet.
So sehr, daß er sich auch nach 1000 Seiten nicht von ihnen trennen möchte. Darin, in der liebevollen Figurenzeichnung, seiner mitreißenden Betrachtung des Lebens, der fesselnden Analyse einer Gesellschaft und ihrer Befindlichkeit, ist Stephen King tatsächlich ein König. Gerade das macht seine Geschichten so ... großartig!
Doch in diesem Fall ist die Geschichte unerbittlich, im doppelten Sinne sozusagen. Denn je näher der verhängnisvolle Moment rückt, der 23. November 1963, den Jake Epping verhindern soll, umso mehr wehrt sich die Vergangenheit gegen ihre Korrektur, und zwar mit allen Mitteln. Klingt ein bißchen wie "Final Destination", und irgendwie ist es das auch: Jede Veränderung der Vergangenheit, und sei sie noch so winzig und unbedeutend, ruft eine Gegenreaktion hervor, mit der die Geschichte ihren ursprünglichen Lauf wiederherzustellen versucht. Denn wird ihre "Harmonie", wie Jake es nennt, zu oft durchkreuzt, könnte das Ergebnis verheerend sein. Könnte.
King wollte seinen Roman schon 1972 schreiben, wie er in diesen Tagem wiederholt in Interviews erklärt, aber er konnte es nicht, weil die Ereignisse des November 1963 noch zu nahe waren. Erst jetzt, nach der Wahl Barack Obamas, begab er sich endlich an die Umsetzung von "Der Anschlag". Weil erneut ein junger Präsident gewählt worden war, der als Hoffnungsträger galt. "Aber Obama hat die übergroßen Erwartungen nicht erfüllt", sagt King. "Kennedy hätte es wohl auch nicht gekonnt."
Tatsächlich?
Womit wir bei der Moral der Geschichte angelangt wären, bei der Frage: Wäre tatsächlich alles besser, wenn man die Vergangenheit verändern könnte?
Wenn man die Vergangenheit ändern könnte, würde sich dies "vielleicht als Wohltat für die Welt erweisen", denkt Jake kurz vor Schluß. "Oder nicht. Ich weiß es nicht."
Eines aber ist sicher: "Der Anschlag" ist zwar nicht ganz so gut (und schon lange nicht so komplex) wie "Es", das zweifellos als Opus Magnum des US-Autors gilt, aber es ist fast ein ebenso großer Wurf. Nicht zuletzt dank der rührendsten Schlußszene, die King je geschrieben hat.
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Das muß einem Autor erst einmal gelingen: einen Roman schreiben, in dem nichts passiert. John Grisham hat es geschafft.
Kommentare_
Danke für diese Kritik! Es stimmt: Stephen King ist immer eine Reise wert, auch wenn diese 1000 Seiten weit führt. Auch wenn sie in ein anderes Jahrhundert führt, auch wenn sie in finsterer Nacht endet. Im Detail liegt Kings Kraft!