Keith Richards: Life
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Heyne (D 2010)
auch als Audiobook erhältlich
"Taa-damm ... Tatt/taa-damm ..." Niemand außer ihm kann Tausende zum Toben bringen, indem er bloß fünfmal den gleichen Ton spielt. Und das, ohne die Linke dabei auch nur zum Gitarrenhals zu heben. Jetzt hat er seine Autobiographie vorgelegt: Sie liest sich wie das literarische Äquivalent zu einem großen Rock-Album. 20.11.2010
Keith war (fast) immer der letzte. Auch wenn er das manchmal anders sieht. Er war der letzte Rolling Stone, der eine Soloplatte gemacht hatte. Als Mick Jagger 1985 sein erstes Soloabum herausbrachte, meinte er trotzig: "Ich mache seit 20 Jahren Soloplatten mit einer Begleitband namens Rolling Stones."
Jagger hatte 1982 auf Grundlage eines Exposés seine Autobiographie an Weidenfeld für einen Millionenvertrag verkauft. Aber irgendwie wurde das nichts mit dem Buch, und Jagger zahlte den Vorschuß zurück.
Und jetzt also die Autobiographie von Mr. Richards, die gleichzeitig eines der dicksten Bücher über die Stones ist (735 Seiten in der deutschen Ausgabe). Um es gleich vorweg zu sagen: Es ist das Buch, auf das wir Stones-Fans schon immer gewartet haben. Keith und sein Koautor sind so gut, daß es das literarische Äquivalent zu einem großartigen Rock-Album von Richards & Co. ist.
Es liest sich runter wie "Eileen" oder "Struggle" zu hören, ist nie langweilig, und so witzig, intelligent und anarchisch wie sein Autor. Es gibt komische Passagen, bei denen man sich vor Lachen auf dem Boden wälzt, genauso wie bedrückende. Es gibt kluge Bestandsaufnahmen unserer Kultur im Wandel der vergangenen 60 Jahre und tiefe Liebeserklärungen an die Musik, die Keith letztlich alles überleben ließ.
Und es geht sofort fulminant los. Gleich im ersten Kapitel erzählt Keith von einer Fahrt 1973 durch den Bible Belt. Das Auto ist so vollgestopft mit Drogen, daß sie eigentlich noch Hunter S. Thompson hätten mitnehmen können. In einer kleinen Stadt in Arkansas werden Keith und seine Kumpels von den Bullen hochgenommen und vor einen volltrunkenen Richter geführt.
Wie und was da ablief, muß man selber lesen - und lacht Tränen dabei. Keith und sein Koautor James Fox sind sicherlich keine Literaten vom Kaliber eines Hunter, aber die Stories über Keith und die Stones halten locker mit. Die anschließenden bittersüßen Beschreibungen von Keiths Jugendjahren im zerbombten England sind beeindruckend. Richards gelingt es blendend, die Atmosphäre zwischen Armut, Leidenschaft und Trotz in einem klassengeprägten England, das seine Weltmachtansprüche nicht aufgeben, aber auch nicht wahren kann, erfahrbar zu machen.
Deutsche, die in derselben Zeit zwischen Bombenkratern, Trümmern und wilden Strauchwäldern am Stadtrand aufgewachsen sind, werden verblüffende Parallelen entdecken. Das empfindet Keith ähnlich. Im Interview mit der "Frankfurter Rundschau" sagte er: "Ich hatte nie feindselige Gefühle gegenüber Deutschland verspürt. In Berlin oder Frankfurt sah es ja nach dem Krieg nicht besser aus als in London, vielleicht sogar noch schlimmer ... Ich habe mich den Menschen in Deutschland immer auf seltsame Weise verbunden gefühlt. Vor allem mit denjenigen, die damals so alt waren wie ich, mit Menschen, die aus dem Nichts, das sie umgab, etwas machen wollten. Das hat uns über die Ländergrenzen nach dem Krieg verbunden."
Wir hatten den Marshall-Plan und das damit verbundene Wirtschaftswunder, England kam erst durch 007 und die "British Invasion" wieder auf die Beine.
Natürlich gibt es in dem Buch reichlich Skandale und Skandälchen. Keith hat sie bewußt reingepackt "weil sie dazugehören und die Presse sowas haben will". Geradezu peinlich, wie sich der Boulevard darauf stürzt und seine hirnentkernten Medienkellner nicht mitbekommen, daß es sich bei dieser Autobiographie, die ehrlicher ist als die jedes verlogenen Politikers, um ein großartiges Stück Zeit- und Kulturgeschichte handelt.
Das Buch ist wie Keith: ehrlich, witzig, respektlos und voller unerwarteter Riffs. In meinem Buch über die Stones ("2000 Lightyears From Home", BoD 2010) habe ich versucht zu erklären, welche spezielle Bedeutung Keith im Vergleich zu Jagger gerade für frühe Stones-Fans hat. Hier ein Auszug aus dem Kapitel über die siebziger Jahre:
"Für die Stones, die von den Punkern erstmal eine vernichtende Abfuhr erhielten, war die neue Rebellion die Rettung. Sie mußten sich endlich wieder zusammenreißen und einer echten Herausforderung stellen, um nicht endgültig als Yesterday’s Paper abgeschrieben zu werden. Das Interesse der Hardcore-Fans (soweit noch vorhanden) hatte sich inzwischen auf Richards konzentriert. Während Jagger vor keiner Peinlichkeit mehr zurückschreckte, hielt Keef schwankend die Fackel des Außenseiters hoch. Deutschlands bester Gangsterromancier Ulf Miehe starb Ende der 80er. Er erzählte mir mal, wie er Keith in einer Münchener Disco zur Zeit von IT’S ONLY ROCK’N’ROLL vollgekotzt auf dem Fußboden vorgefunden hatte. 'Aber es war noch immer der große Keith Richards, der da lag', sagte der Mann, der neben Dylan nicht viel gelten ließ. Keith war Weltmeister der Junkies und sah furchtbar aus. Während er sich um Punk kümmerte, entdeckte Jagger ein für ihn wie gemachtes Spielzeug: Disco. Der Club 54 war ohne Mick und Bianca und ihren ganzen beschissenen Hofstaat gar nicht denkbar. Koks, Schampus und jede Menge Sex. Ein Schlaraffenland für Besserbetuchte ..."
Irgendwie repräsentierten die Glimmer Twins, wie sie sich jetzt höhnisch nannten, auch die eigene Veteranensituation: auf der einen Seite Jagger, der seinen Frieden mit dem System gemacht hatte und nichts als ein gutes Leben wollte, und auf der anderen Seite Keith mit dem Ehrgeiz, schlimmster Mann Europas werden zu wollen. In Kanada haben sie ihn dann erwischt und endgültig festgenagelt. Er war so zu, daß er die Bullen, die sein Gepäck durchsuchten, für Roadies hielt. Stu über Keith: "eine Tragödie auf zwei Beinen". Eine Spritze in Ehren kann keiner verwehren.
Keith mußte mal wieder vor Gericht, und diesmal sah es ernst aus. Tunte Jagger überlegte lautstark, wer Keith ersetzen könne - eine Tour stand bevor -, wenn Keith in den Kasten müßte. Das Überleben der Stones hing wieder einmal am seidenen Faden. Zum Glück fand Keith einen humorvollen Richter; es muß ein wirklich netter Prozeß gewesen sein. Ein blindes Mädchen hatte den Richter aufgesucht, um sich für Keith einzusetzen. Oder, wie Jagger einem offenbar bekloppten Reporter auf die Frage antwortete, warum er dem Prozeß beiwohne: "Ich lasse grundsätzlich keinen guten Prozeß aus." Mit Benefizkonzerten für Blinde und Gehörgeschädigte war die Sache dann erledigt.
Für uns Hardcore-Fans mit der Neigung, immer etwas am Abgrund rumzutorkeln, war bis in die 90er Keith immer der GUTE Rolling Stone, während das Verhältnis zu Jagger bestenfalls ambivalent war/ist. Eben primitiv-binäre Betrachtung.
Der Jagger-Kerl trieb sich einfach zuviel mit Leuten herum, die man gerne auf der Transferliste des Friedhofs gesehen hätte, kaufte sich Schlösser, holte sich Models, statt sich was vom Groupie-Strich zu fangen, und schielte auf den Adelstitel. Der hochgekommene Kleinbürger, für den Rock’n’Roll nur eine Gelddruckmaschine war. ER war schließlich für die explodierenden Konzertpreise verantwortlich, denn sein wahres Talent lag in der radikalen Beutelschneiderei. Statt uns zu helfen, den Ulk des Daseins zu ertragen, verspürte er keine Gewissensbisse, dem Pöbel das zu geben, wonach er verlangte. Jagger war in ein anderes Universum abgehoben, was Punkteabzug bedeutete. Er gehörte deprogrammiert und neu verkabelt.
Dagegen der GÖTTLICHE Keith. Kaputter als man selbst (trotz Kohle, hähähä). Er war der natürliche Reiseleiter durch die finstersten Eingeweide der Innenstadt. Ein friedhofsreifer Nomade, der außerhalb des bürgerlichen Moralcodes existierte. Ein Barbar in Cowboystiefeln, der manchmal nicht wußte, auf welchem Kontinent er gerade war, und sein Bestes tat, jede Droge aus der Welt zu schaffen.
Er war unser Traum vom verlorenen (Rock’n’Roll-)Paradies, dem "mörderischsten und schlimmsten aller Träume" (Malcolm Lowry). Und dann kam 1977 ausgerechnet Charlie mit folgendem Statement:
"Wir haben mit Mick wirklich Glück gehabt. Ihm macht es Spaß, die Band in der Öffentlichkeit zu vertreten. Er beherrscht dieses Spiel mit den Medien auch besser als jeder andere, den ich kenne. Keith ist froh, daß er es nicht selbst machen muß. Wenn Keith den Job von Mick übernehmen würde, wäre er nicht mehr lange der gute Stone - sie würden ihn genauso hart rannehmen, wie sie jetzt Mick rannehmen. Weil Mick diesen Job macht, behält Keith seine Glaubwürdigkeit und wird von allen geliebt."
Und Keith kam vom Junk runter. Das war 1978, vor SOME GIRLS. Wolfgang Doebeling nannte ihn einmal die "immerhin unzerstörbarste Lebensform dieses Planeten".
Ich habe in den letzten Jahren wenige Bücher gelesen, die mich ähnlich begeistert und beeindruckt haben. Als Quelle für kulturgeschichtliche Betrachtungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird man künftig nicht um "Life" herumkommen. Kauft euch zwei CDs (falls ihr noch kauft) weniger und legt € 26,99 für dieses Buch hin. Laßt euch von elenden Bankern nichts erzählen: Besser kann man momentan seine Euros nicht anlegen.
Keith Richards: Life
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Heyne (D 2010)
auch als Audiobook erhältlich
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