Print_Robert Musil - Der Mann ohne Eigenschaften (Hörbuch)

Kakanien, revisited

Das Werk gilt nicht nur als einer der wichtigsten Romane deutschsprachiger Literatur, sondern gemeinhin auch als einer der schwierigsten. Nun, man kann ihn sich ja von Wolfram Berger vorlesen lassen ...
Tina Glaser über ein außergewöhnliches Hörbuch.    27.10.2010

"Als er am 15. April 1942, erst 61 Jahre alt, in Genf starb, war das kaum noch eine Nachricht", so Herausgeber Adolf Frisé. Der beschriebene Autor: Ingenieur, Journalist, dekorierter Soldat im Ersten Weltkrieg; preisgekrönter Literat, 1938 emigriert, das Leben in Armut beendet.

Die Rede ist von Robert Musil, jenem österreichischen Schriftsteller, dessen Hauptwerk - je nach dem - den Ruf einer "Enzyklopädie der modernen Kultur" oder den eines "gescheiterten Romans" trägt. Das mag am essayistischen Stil liegen; oder schlicht an der Tatsache, daß der Verfasser das auf drei Bände angelegte Opus bis zu seinem Tode nicht mehr fertigstellen konnte.

Sicher ist, daß es sich bei "Der Mann ohne Eigenschaften" um einen jener seltenen Romane handelt, in dem versucht wird, die eigene Gegenwart - die "Jetztzeit" - im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft zu begreifen.

 

Die Geschichte des Skeptikers Ulrich (der den Bemühungen hochgestellter Verwandter beiwohnt, für 1918 zwei Kaiserjubiläen auf einen Nenner zu bringen) bildet den Hintergrund, vor dem ein Soziogramm entsteht: Das ironische Sittenbild einer Gesellschaft, die nach Orientierung sucht. Ulrich selbst kann sich dabei mit keiner der gängigen "Wahrheiten" anfreunden.

Musil glaubte nicht an das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, ebensowenig wie an ein handlungsorientiertes Erzählen (er nannte es das primitiv Epische). Seine Ablehnung narrativer Prinzipien rührte wohl von einem tiefgreifenden Mißtrauen gegenüber einer festen Ordnung, respektive gegenüber der Vereinfachung des Komplexen: "Man muß die Welt anders denken, als sie erscheint, denn sie könnte ebensogut anders sein."

So war der Roman einem ständigen Prozeß unterworfen. Kam eine neue Idee hinzu, schrieb er ganze Passagen um, überarbeitete die Texte immer und immer wieder. Im eidgenössischen Exil, in das er mit seiner Frau geflohen war, beeinträchtigt von den Nachwirkungen eines Schlaganfalles (und finanziell abhängig von den Zuwendungen einer Schweizer Hilfsorganisation), hinterließ er zu seinem Lebensende ein unfertiges Konvolut von abertausenden Textseiten.

Doch obwohl das Buch so ungeheuer klug, "jetztzeitig", witzig und mutig ist, gab es damals wie heute nur wenige, die es lesen wollten.

 

Im Jahr 2004 erschien im Verlag Zweitausendeins das Hörbuch "Der Mann ohne Eigenschaften/Teil1". Die Reaktionen darauf waren durchwegs Lobeshymnen, meist auch wieder mit dem Argument verknüpft, daß der Vortrag über den schwierigen Text des Romans hinweghelfe. Nun - so konnte man etwa in GEO (Ausgabe 9/2004) lesen - gäbe es keine Ausrede mehr, einen Bogen um dieses Werk zu machen.

Hier kann man durchaus fragen, inwieweit solches Lob der Edition gerecht wird: Wenn die Rezeption bestimmter Romane bloß eine bildungsbürgerliche Pflicht darstellt, wird das Hörbuch zu einer Art Hilfsmittel reduziert.

Die Idee zur Aufnahme stammt von Karl Corino (jenem großen Musilforscher, der eine Biographie über den Autor verfaßte, welche allein über 2000 Seiten lang ist).

Der erste Teil des Hörbuches (erschienen 2004; zwei MP3-CDs, Laufzeit: 35 Stunden) umfaßt den ersten Band; der zweite Teil (2006; zwei MP3-CDs, 27 Stunden) entspricht dem zweiten Buch und Kapiteln aus dem Nachlaß.

Die gesamte Lesezeit bestreitet eine einzige Stimme. Der wunderbare Wolfram Berger schafft es nicht nur, über den Tonfall unterschiedlichen Nuancen erklingen zu lassen. Seinen Vortrag prägt außerdem die Besonderheit, sich beim Schauspielern zurückzuhalten. Er erzählt nicht. Er liest langsam, zögert manchmal für den Bruchteil einer Sekunde, macht Pausen an ungewöhnlichen Stellen. Er läßt sich selbst und den Zuhörern Zeit.

Die Personen im Buch, allen voran die Hauptfigur Ulrich, entwickeln unentwegt Gedanken und handeln kaum. Ein Hörspiel, das auf das Stimmen-Spiel mehrerer Schauspieler setzt, wäre hier schon zuviel.

Auf die Frage, wie er sich auf Musils Text vorbereitet hätte, antwortete Wolfram Berger:

"Je schwieriger der Text ist, umso wacher werde ich. Vor allem, wenn ich vom Blatt lese. Daher habe ich nicht an jedem Satz gearbeitet, sondern mir jeweils vor der Lesung einen Überblick verschafft über den Verlauf des Kapitels, der Personen. Ich nütze im Gegenteil mein Erstaunen über den Verlauf des Textes aus, bringe das in die Lesung ein. (...) Hätte ich mich dem Text ein weiteres Mal hochintellektuell genähert, wäre er wohl zu trocken geworden. So erwacht eine andere Seite."

 

Dieser Lässigkeit Bergers gegenüber der Vorlage ist es wohl auch zu verdanken, daß das Hörbuch nicht zur bloßen Vorlesung gerät, sondern einen neuen Zugang eröffnet. In jedem Fall stellt es weit mehr dar als nur eine Krücke für die, die das Buch bislang gemieden haben.

Mit einer Gesamtlaufzeit von über 62 Stunden ist es auch nicht gerade kurz geraten. Kein Grund, deswegen in Panik zu verfallen! Es ist nicht notwendig, die Kapitel in einem Stück oder gar alles hintereinander anzuhören. Man nimmt Gedanken auf, spinnt sie weiter, verfranst sich ... und kehrt wieder zu Bergers Stimme und zu Musils Sprache zurück.

Denen, die ihr Lesepensum nach einem vorgegebenen Kanon ausrichten, wird dieses Hörbuch wahrscheinlich auch helfen; allen anderen bietet es es die Möglichkeit, ein großartiges Werk neu zu erfahren - und sich dabei immer wieder zu amüsieren.

Tina Glaser

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

ØØØØØ

Hörbuch, gelesen von Wolfram Berger

Leserbewertung: (bewerten)

(2006)

 

Erstausgabe des Originaltextes: 1930/1932

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