Print_Wolfgang Freitag - Wo Wien beginnt

Livin´ on the edge

Stellt man sich die 136,5 Kilometer lange Wiener Stadtgrenze als Gerade vor, so würde die von Wien bis ungefähr ins steirische Eisenerz reichen. Bei einer Wanderung dorthin könnte man unterwegs einiges sehen und erleben. Aber was bietet eine Wanderung rund um Wien?    20.03.2015

1974 erscheint im Amalthea-Verlag der Reisebericht "Reise um Wien in achtzehn Tagen" des österreichischen Schriftstellers und Journalisten Adelbert Muhr, der die Stadt hauptsächlich zu Fuß in einem großen Bogen umrundet. Ohne im Buch ein konkretes Datum vorzufinden, läßt sich der Zeitpunkt der Reise aufgrund diverser Hinweise auf die späten 1950er Jahre datieren.

Das ist historisch betrachtet sehr interessant. Vieles, was der Autor sieht, ist mittlerweile nämlich verschwunden: Es fahren keine bäuerlichen Pferdefuhrwerke im Wienerwald mehr, keine Raddampfer auf der Donau, keine Motorbootfähre über die Donau bei Greifenstein. Es gibt keine Schiffswerft mehr in Korneuburg, keine Häuser, die noch mittels Petroleum beleuchtet werden, keine Dörfer, in denen die Straßen nicht asphaltiert sind, und keine Gänse, die am Dorfplatz schnattern. Auf den meisten von Muhr benutzten Eisenbahnlinien im Weinviertel und im Marchfeld fährt heute kein Personenzug mehr, dafür müßte er mancherorts Autobahnen und Schnellstraßen überwinden.

 

2014 erscheint im Metroverlag der Reisebericht "Wo Wien beginnt" des österreichischen Schriftstellers und Journalisten Wolfgang Freitag. Freitag zieht den Bogen etwas enger und versucht, die 136,5 Kilometer lange Wiener Stadtgrenze so gut wie möglich auf und - wenn das nicht geht - so nah wie möglich an der offizielen Grenze entlangzuwandern. Er verarbeitet seine Erlebnisse allerdings nicht in einem "klassischen" Reisebericht und erzählt nicht über die Wegstrecke, sondern bringt 24 kleine, in sich abgeschlossene Reportagen über unterwegs entdeckte, mehr oder weniger bekannte Orte und Unorte, intakte und desolate Bauwerke, Menschen und/oder Landschaften.

Eine der Stationen ist der Zentralverschiebebahnhof Wien Kledering, Österreichs größter Verschubbahnhof. Der Leser erfährt ein wenig über die Geschichte der Anlage, aber auch, wie Logistik funktioniert und Güterzüge zerlegt sowie neu zusammengestellt werden. Man wird aber auch darüber informiert, daß der Bahnhof einem amerikanischen Bankenkonsortium gehört und nach dem Verkauf zurückgeleast wurde ...

Ein anderer Zwischenstop ist der Sender Bisamberg, von wo aus seit 1933 Radio gesendet wird. Das Sendegebäude aus den 1950ern wurde 2007 generalsaniert und war bis zum 31. Dezember 2008 noch in Teilbetrieb. Drei Jahre nach der Sanierung zogen alle Büros aus, und die beiden Sendemasten (der größere war das damals höchste Bauwerk Österreichs) wurden gesprengt. Das architektonisch spannende, innen mit alter Radiotechnik ausgestattete Gebäude dämmert generalsaniert, funktionslos und öffentlich nicht zugänglich am Bisamberg dahin.   

 

Und so geht es weiter. Freitag beschreibt, oft von einem Kundigen geführt, Institutionen, von deren Existenz oder zumindest Innenleben man eigentlich nichts weiß. Die verfallenden Relikte der Hammerbrotwerke, die Anlage der Power Grid Control oder die ehemalige Standseilbahn auf den Leopoldsberg, deren Spuren in der Landschaft noch erkennbar sind, lassen staunen, was es in Wien so alles gibt - oder gab. Sind die beschriebenen Örtlichkeiten wie zum Beispiel der Lainzer Tiergarten allgemein bekannt, so überrascht Freitag mit interessanten Details: Wer weiß schon, daß dort im Schnitt täglich zwei bis drei Wildschweine geschossen werden?

 

Die kleinen Reportagen und kurzen Momentaufnahmen lesen sich leicht und locker und bringen Kurioses, Interessantes, Verborgenes und Wissenswertes in einem angenehmen Plauderton. Bloß die allerkürzesten Stories können nicht immer überzeugen. Selbst Wiener und Umlandbewohner werden hier völlig unbekannte Facetten der Stadt entdecken - und vielleicht Lust bekommen, selbst an die Grenze zu gehen. Denn das Buch funktioniert auch als Stadterkundungsbuch.

Man sollte jetzt losstarten, bevor man, wie bei der Lektüre des eingangs erwähnten Adelbert Muhr, wehmütig draufkommt, sich an das Beschriebene zwar irgendwie erinnern zu können - aber es aus welchem Grund auch immer nie gesehen zu haben.

Martin Zellhofer

Wolfgang Freitag – Wo Wien beginnt. Eine Erkundung der Stadt vom Rand her

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Metroverlag (2015)

 

(Photos: Wolfgang Freitag)

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