Print_Tarek Leitner & Peter Coeln - Hilde & Gretl - Über den Wert der Dinge
Das Geheimnis der alten Damen
"Sind am Friedhof - Bitte nicht klopfen". Was diese Notiz mit Engelsfiguren, Geheimnissen und dem Universum zweier Cousinen zu tun hat, weiß Armin Hell. Er begab sich auf literarische Spurensuche nach Gars am Kamp.
19.02.2018
Zwei Cousinen kleben, ordnen und verschnüren ein eigenes Universum in einem alten Haus in Gars am Kamp und hinterlassen darin eine enorme Anzahl an Aufzeichnungen über ihr penibel dokumentiertes Leben - fast ausschließlich dessen Alltag betreffend. Nach dem Tod der beiden Damen finden der neue Besitzer und dessen Freund unter einer großen Schar Engelsfiguren Nachrichten und Dokumente aus einer längst vergangenen Welt. Und weil sie uns ihr Erlebtes nicht vorenthalten wollen, haben sie ein Buch darüber geschrieben.
"Sind am Friedhof - Bitte nicht klopfen". Tausende Zettel mit Hinweisen wie diesem, beschriftet und angebracht an Fensterscheiben; Notizen, an alle möglichen Gegenstände geklebt - zur Erinnerung, als Mahnung; Kalendereinträge wie "Staubsauger überhitzt" (Mittwoch, 18. 1. 2006); später im Herbst ihres Lebens auch Blutdruckmeßergebnisse und Arzttermine. Briefpapier, auf dessen Kopf Gars am Kamp noch als im Niedergau liegend geführt wurde und das Gretl sich nicht scheute, auch lange nach dem Krieg noch zu verwenden, Photoalben, Briefe und einen versteckten, schweren, alten Safe, der anstatt diverser Wertgegenstände die Feldpost des in Rußland gefallenen Bruders Anton Höfler jun. und ein paar Dokumente enthielt. Und dann noch die Engelsfiguren, in unterschiedlichen Größen und aus verschiedensten Materialien gefertigt, sowie mittels in langen Streifen geschnittenen Strumpfhosenbändern verschnürte, zusammengehörende und abgeschlossene Akten und noch vieles mehr. Das alles fanden Tarek Leitner und Peter Coeln vor, als sie das ehemalige Haus der Cousinen Hilde und Gretl Höfler erstmals betraten.
Bis Coeln es von den Erben der Verstorbenen mit sämtlichem noch darin befindlichen Hausrat gekauft hatte, lag das Haus - samt dazugehörigem Garten - über viele Jahre hinweg im Dornröschenschlaf. Nun sollte es geräumt und behutsam für zeitgemäßes Wohnen adaptiert werden.
Daß gerade Coeln das Anwesen erworben hat, der einem Anrainer auf die Frage "Was machen Sie denn aus dem Haus?" antwortete: "Ein Buch" - das stellt sich nun buchstäblich als Glücksfall dar. Wir hätten sonst sicher nie etwas vom Leben der Höflerschen erfahren, und eine wirklich obskure Geschichte wäre uns verborgen geblieben, hätte die Liegenschaft irgendein Immobilienentwickler in seine schmierigen Finger bekommen, abgerissen und daraus schnellstmöglich eine ertragreiche Legebatterie für Humanoide aus dem Boden stampfen lassen.
Tarek Leitner, der - so glaube ich - den Text verfaßt hat und den manche wahrscheinlich aus dem österreichischen Fernsehen kennen, half bei der Sichtung, Auflistung, Verpackung und Sortierung der Dinge. Dabei schlüpften beide förmlich in die Haut der Damen und trugen sogar deren Kleidung und eine Kopfbedeckung, die sie "Sichthut" tauften. Sie durchforsteten den fremden Kosmos, innerhalb dessen es einst sehr geordnet zugegangen war.
Die Cousinen mit dem ausgeprägten Faible für Engel und Plastikkitsch - das Engelaufkommen im Haus lag bei 4,5 Stück pro Quadratmeter - lebten über Jahrzehnte zusammen und teilten sowohl Tisch als auch Bett miteinander. Jenen, denen an dieser Stelle die Phantasie durchgeht, sei gesagt, daß zumindest Gretl gelegentlichen Flirts mit Männern nicht ganz abgeneigt war, was durch Photographien belegt ist. Hilde, die weniger Fesche von beiden, war die Reiselustige. Gretl wäre lieber zu Hause geblieben und hätte gern an der Ordnung ihres gemeinsamen Kosmos weitergebastelt, statt sich in ferne Gefilde zu begeben, fuhr aber Hilde zuliebe doch jedesmal mit, wenn diese wieder das Fernweh packte. So sehr Gretl im Hause bestimmend gewesen sein mag und selbst jedes kleine Detail ihrer beider Leben vielfältig dokumentierte, so wenig hatte sie mit den Reiseaufzeichnungen der beiden zu tun. Diese waren allein Hildes Sache, die darüber ihrerseits ebenso penible Aufzeichnungen führte und zahlreiche Photoalben bestückte wie Gretl über das Leben daheim.
"Hilde & Gretl - Über den Wert der Dinge", das Buch von Leitner und Coeln samt den darin enthaltenen Photos, entführt den Leser und Betrachter in eine heute surreale, längst vergangene Welt, die mittels der Geschichten und Bilder wie ein Windhauch in unsere Gegenwart weht, wie etwas, das durch einen kurz gelüfteten Vorhang kommt oder plötzlich unter zerrissenen Spinnweben auftaucht. Es ist ein sehr skurriles Werk geworden - liebevoll gestaltet, in (gerade noch) handlichem Format, das uns viel mitteilt, aber auch einige Fragen offenläßt. Und genau das ist schön. Einerseits, weil sich so der geneigte, neugierige, detektivisch veranlagte Leser gezwungen sehen mag, selber weitere Nachforschungen anzustellen, andererseits, weil derart den Cousinen noch das eine oder andere Geheimnis bleibt. Tarek Leitner beschlich während der "Räumarbeiten" einmal das Gefühl, die ehemaligen Bewohnerinnen hätten all ihre Notizen, Aktenbündel und Hinweise bewußt hinterlassen, um jenen, die nach ihnen das Haus bewohnen würden, Hinweise auf ihr Dasein zu geben, ihnen über diverse Hindernisse hinweg Einblick zu gewähren und vielleicht auch, um ihrer Existenz und ihrer Neigung zum Dokumentieren im nachhinein noch einen zusätzlichen, unbewußten, übergeordneten Sinn zu geben. Die Akribie, mit der sie ihr Leben sozusagen für die Nachwelt festhielten, mag manchen Leser unweigerlich darüber spekulieren lassen, welch´ Freude Hilde & Gretl heute wohl eventuell mit Facebook, Twitter und Instagram hätten, würden sie noch leben - und sollten sie doch nicht nur (wie Leitner annimmt) Interesse daran gehabt haben, sich ausschließlich ihren unmittelbaren Nachbewohnern mitzuteilen.
Wer von uns hat nicht schon irgendwann einmal im stillen Kämmerlein den Wunsch gehegt, seine Existenz möge nicht zugleich mit seinem Sarge auf Nimmerwiedersehen vom Erdenrund verschwinden, hat noch nie überlegt, was in der gerade neu bezogenen Wohnung oder dem Haus früher passiert sein mag, wer vorher darin gelebt hat und wer wohl nach ihm darin leben und hoffen wird?
Sollten Sie, obwohl Sie nicht dort wohnen und wahrscheinlich auch nie dort wohnen werden, dennoch mehr darüber erfahren wollen, was im Haus Reinharterstraße 100 in Gars am Kamp vor sich ging, dann kaufen Sie sich dieses wunderbare Buch, tauchen Sie ein in eine Welt von gestern, in der Kitsch noch etwas Tröstendes und Ordnung noch oberste Priorität hatten, ehren Sie die Höfler-Damen mit Ihrem Interesse und belohnen Sie die Autoren für ihren emphatischen und zugleich scharfen Blick auf den Wert der Dinge, des Lebens und der wahren Geschichten, die sich darin verstecken.
Erste Auflage 2018, erschienen im Verlag Brandstätter, einhunderteinundvierzig Seiten, zahlreiche Photos, 24 cm hoch, 21 cm breit, 1,8 cm dick, 464,5 g schwer. Photos von Peter Coeln und Engelbert Reis, Coverphoto "Tarek & Peterl", von Katrin Steinbacher
"Sind am Friedhof - Bitte nicht klopfen". Was diese Notiz mit Engelsfiguren, Geheimnissen und dem Universum zweier Cousinen zu tun hat, weiß Armin Hell. Er begab sich auf literarische Spurensuche nach Gars am Kamp.
Hängen Sie auch schon am Kabel? Armin Hell traf in einem entlegenen Winkel seines Gehirns auf Karl-Heinz Kabel - einen sonderbaren Herrn, der ihm ein obskures "Dossier" überreichte, das ein Beitrag zur demnächst erscheinenden, erweiterten Ausgabe von Klaus Ferentschiks "Kabelenzyklopädie" sein möchte. Sowas hat natürlich nur im EVOLVER Platz.
Heutzutage ist jeder ein Star - und die Medien werfen mit Begriffen wie "Kult" und "Legende" wahllos um sich. In einer Zeit, da sogar einbeinige, rinnaugerte Kammbläser und blade, ungelenke Tanzbären ihre fünf Minuten Ruhm kriegen, bleibt einer unverdientermaßen unerwähnt: der Video-Kurtl. Armin Hell porträtiert den wohl wichtigsten Dokumentaristen der Wiener Musikszene.
Der Blues ist immer und überall. Er ist nicht nur eine Musikrichtung, sondern auch eine Lebenseinstellung. Al Cook ist mit ihm aufgewachsen - und wir sind mit Al Cook aufgewachsen, ob wir das wußten oder nicht. Daher freuen wir uns auch so über seine Autobiographie. Armin Hell hat das Buch gelesen.
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