Tilman Strasser - Seeleben
ØØØ
Edition art & science (St. Wolfgang 2007)
Zu beziehen über:
Edition art & science, Au 93, A-5360 St. Wolfgang.
E-Mail: werkraum.abersee@aon.at
ISBN 978-3-902157-22-5
Ein Deutscher in St. Wolfgang: Tilman Strassers Buch handelt vom Leben in einer österreichischen Tourismushochburg, wo es von kaiserlichen Erinnerungen und Kuckucksuhren nur so wimmelt. 20.11.2007
Der feuchte, von Bergen, Bäumen und Einheimischen eingerahmte Fleck in der der Natur heißt Wolfgangsee und ist vor allem dafür bekannt, daß er so heißt. Die lokale Tourismushochburg ist St. Wolfgang, eine oberösterreichische Gemeinde mit knapp 2800 Einwohnern, bei der man vor lauter Kitsch und Kaisererinnerungen sofort aus den Augen zu bluten beginnt (es sei denn, man hat ein Faible für Kuckucksuhren, Dirndln und seltsame Kopfbedeckungen).
Knapp 30 Gehminuten von St. Wolfgang entfernt liegt Strobl mit einer Bevölkerungsdichte von 38 Einheimischen pro Quadratkilometer; ohne irgendwelche Rössl-Hotels, dafür aber mit einer Brandauer-Villa und dem ausgezeichneten "Gasthaus zur Post" neben der Zufahrt zum Friedhof. See und Touristen sind auch hier omnipräsent; vor allem an Regentagen wird das Ausmaß der ländlichen Katastrophe erkennbar, wenn einem keine andere Betätigung bleibt, als sich einsam in seinem Quartier zu besaufen und auf den nächsten Tag zu hoffen. Man kann auch darauf warten, daß Taucher einen der alljährlich abgesoffenen Touristen finden - beispielsweise erst vor kurzem den Torso einer 48jährigen Frau aus Bremen, die "im Jahr 1956 mit ihrer Tochter beim Ochsenkreuz (Anm: nahe St. Gilgen) ertrunken war", wie der KURIER vom 11. Oktober zu berichten wußte: "Nach Angaben der Polizei gibt es noch weitere vier Unglücksfälle im Gebiet der Unfallstelle, die immer noch ungeklärt sind."
"Ich bin in dieser Jahreszeit gekommen, in der man von jedem Tag sagt, es sei der letzte mit schönem Wetter", schreibt Tilman Strasser in seinem Buch "Seeleben". Der gebürtige Deutsche verbrachte im Vorjahr als "Seeschreiber" drei Monate in der Region, und die meisten der im Buch enthaltenen Notizen, Texte und Gespräche stammen aus dieser Zeit. Es sind Miniaturen einer Begegnung mit einer nicht fremden, aber doch zumindest anderen Welt. Nach neun Tagen Aufenthalt notiert Strasser: "Man unterscheidet zwischen Männer- und Frauentoiletten durch goldene Figuren an der Tür. Die sind oft erst beim zweiten Blick einem Geschlecht zuzuordnen." Und das allerdings nicht nur für Gäste aus Deutschland - auch als Österreicher kann man manchmal nur am Geruch unterscheiden, wo man(n) sich für ein paar Minuten als kleiner Kaiser fühlen darf.
Mit "Seeleben" hat Tilman Strasser, der in Deutschland "kreatives Schreiben" studiert und mit 22 Jahren erst am Beginn seiner Karriere steht, ein auf den ersten Blick unauffälliges Buch geschrieben, dessen Witz sich im Detail versteckt. So begegnet er beispielsweise Leuten, die behaupten, in "Österreich nenne man die Wiener die Petersilie auf der Suppe" (was uns selbst Peter Wehle in seinem etymologischen Wörterbuch des Wiener Dialekts "Sprechen Sie Wienerisch?" vorenthalten hat). Oder er kommt zum Schluß, Österreich schmecke nach Spezi und Schnitzel. "Ich bestelle nichts anderes mehr. Das sagt sich gut. Spezi und Schnitzel."
Nach einem Monat Aufenthalt am Wolfgangsee zieht Strasser ein erstes Resümee. Österreich mag er aufgrund der Kaffeekultur, oder: endlich mehr Auswahl als Kaffee. 2,50 Euro." Auch die heimische Rauchkultur beeindruckt ihn, als wäre er ein Kettenraucher aus Amerika. In Strobl scheint es nämlich den "einzigen Automaten der Welt" zu geben, "der meine Lieblingsmarke führt". Ernüchtert zeigt sich Strasser von der Verabschiedungskultur, die Stilblüten wie "Baba Papa" hervorbringt. Und auch Sprachverwirrungen sind an der Tagesordnung: "Jemand sagt, er habe einmal eine Schlange angegriffen. 'Ein unglaubliches Gefühl, das mußt du mal machen. Eine Schlange angreifen.' Ich brauche ein bißchen, verstehe dann, muß im Weitergehen lachen. In Deutschland würde man sagen: anfassen. Oder eben: attackieren."
Tilman Strassers tagebuchartige Notizen nehmen nur einen kleinen Teil des Buches ein. Ebenfalls enthalten sind am Wolfgangsee verfaßte Prosatexte sowie Gespräche über das Schreiben an sich. "Wenn man den Politikbegriff sehr weit faßt, dann habe ich natürlich auch ein politisches Verhältnis zur Welt. Ich meine, das zeigt sich ja in jeder sozialen Interaktion. Ich habe aber Schwierigkeiten, mein Schreiben als politisch zu bezeichnen", hält er fest. Zum Schreiben sei er überhaupt erst durch Michael Ende gekommen, dessen Roman "Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch" er weiterschrieb, wonach er dann mit der Entwicklung eigenständiger Texte begann. Ein politischer Autor ist Tilman Strasser tatsächlich nicht - dazu ist er zu wenig konkret und auch zu zahm. "Seeleben" ist dennoch ein liebenswertes Buch, das einerseits die literarische Entwicklung eines jungen Autors dokumentiert und andererseits eine Gegend beschreibt, die schon mit dem Ansatz von Kritik Probleme zu haben scheint.
Bei den lokalen Geschäftsleuten und Regionalpolitikern haben die Seeschreiber bereits für Aufregung gesorgt. Nach einer gemeinsamen Lesung von Tilman Strasser und dem heurigen Seeschreiber Peter Wawerzinek hagelte es Anrufe beim Bürgermeister von St. Wolfgang (ÖVP): Man möge die Herren, wenn sie nicht nur Gutes über die Region zu sagen wissen, doch nach Hause schicken.
Wawerzinek hatte unter anderem die Ski-Rennsportlegende Rudi Nierlich erwähnt, die am 18. Mai 1991 mit dem Auto und überhöhter Geschwindigkeit in das (glücklicherweise leerstehende) Kinderzimmer eines Hauses gebrettert war, das ein böser Mensch genau in einer Kurve errichtet hatte. "Er kam mit seinem Fahrzeug bei starkem Regen von der Straße ab und prallte gegen eine Hausmauer", steht in der "Wikipedia" zu lesen. "... ist mit 170 Stundenkilometern, so wird erzählt, mit seinem schicken Wagen in einer Kurve einfach gradeausgefahren und ist im Aufprallaugenblick verstorben", schreibt Wawerzinek in seinen Notizen über den toten Lokalhelden.
Nierlich, der die Faszination der Geschwindigkeit nicht nur auf der Piste, sondern auch auf der Bundesstraße ausgelebt hatte, war tot, bevor man ihn ins Röhrchen blasen lassen konnte. An solchen Legenden, die in jeder Beziehung tragende Säulen der lokalen Gastronomie waren und sind, hat man nicht herumzumeckern - schon gar nicht, wenn man für seine Tätigkeit mit immerhin 1000 Euro pro Monat bezahlt wird (wofür ein guter Werbetexter nicht einmal die Augenbraue hebt). Prominente Nazis, die rund um den See begraben liegen, erwähnt Wawerzinek genauso wie den Hotelier, der in seinem Haus am Wolfgangsee ein Kinderverbot einführen wollte. (Eine der klügsten Ideen der heimischen Gastronomiegeschichte; Anm. d. Red.)
Gegen Wawerzineks Notizen nehmen sich Strassers Aufzeichnungen fast ein bißchen harmlos aus, weil er die Politik weitgehend aus dem Spiel läßt. Das ändert aber nichts daran, daß "Seeleben" eine interessante Lektüre darstellt, die einen Teil der österreichischen literarischen "Kleinkunstszene" dokumentiert - zumal die von Raimund Bahr herausgegebene Edition "art & science" auch mit einer Reihe weiterer viel zu wenig bekannter Titel aufwartet (unter anderem mit Arbeiten über Günther Anders, Konrad Bayer oder Marie Langer).
"Ich ahne, daß ich mir diese Aussage in fünf Jahren selbst um die Ohren schlagen werde, wenn ich sie dann wieder höre", sagt Tilman Strasser. "In allen längeren Prosatexten, die ich bis jetzt geschrieben habe, geht es um die Unmöglichkeit einer Kommunikation oder um die Unmöglichkeit, sich mit Sprache äquadat auszudrücken." Aber das ist eine andere Geschichte.
Tilman Strasser - Seeleben
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Zu beziehen über:
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