Print_Greg Rucka & Steve Lieber - Whiteout

Ice Ice Baby

Wann war Ihnen das letzte Mal kalt? So richtig kalt? Wann und wie auch immer: Es war auf jeden Fall ein Lercherlschas gegen jene Kälte, die Marshal Stetko zu ertragen hat. Und dabei muß sie auch noch einen Mordfall aufklären.    23.06.2009

"Eisiger Wind macht alles schwerer. Als mich der Wind zum dritten Mal fast mitreißt, frage ich mich wieder ... Warum tue ich das?"

(Aus: "Whiteout")

 

Carrie Stetko hat´s nicht leicht. Sie ist etwas übergewichtig, ihrer sexuellen Ausrichtung nicht so sicher und zudem auch noch US-Marshal am so ziemlich unwirtlichsten Ort der Welt: in der Antarktis. Sechs Monate Sonne, sechs Monate Nacht und eine Kälte, daß sogar den Eisbären das Lachen vergeht. Dazu weht ein eisiger Wind, der die - nicht nur gefühlte - Temperatur in Untiefen absinken läßt, die sogar einem H. P. Lovecraft zur Ehre gereicht hätten. Das jeweilige Personal der wenigen Forschungsstationen hier im ewigen Eis versucht das Beste aus der klaustrophobischen Situation zu machen: Man verläßt sich aufeinander und hält Aggressionen tunlichst im Zaum.

Allerdings nicht immer, wie Marshall Stetko zu Beginn von "Whiteout" herausfinden muß. Eine tiefgefrorene Leiche im Eis läßt nämlich auf ganz anderes schließen. Die Ermittlungen gestalten sich als extrem mühselig, da die Verdächtigen über den ganzen Kontinent verstreut sind. Und auch die notwendige Kooperation mit den von verschiedenen Staaten betriebenen Forschungsstationen erweist sich als frommer Wunsch. Zu allem Überfluß schickt der britische Secret Service auch noch die Geheimagentin Lilly Sharpe, die den Mord aufklären und die Amerikanerin Stetko im Auge behalten soll.

Und dann geschieht ein zweiter Mord ...

 

Eis, Schneestürme und das Problem, beinahe die einzige Frau unter mehreren Hundert Männern zu sein: Roman- und Comic-Autor Greg Rucka ("Queen & Country", "Gotham Central", "Ein Job in Taschkent") und Zeichner Steve Lieber ("Hawkman", "Civil War: Frontline") haben einen im wahrsten Sinne des Wortes eiskalten Thriller geschaffen, in dem kein "Ding aus einer anderen Welt" nötig ist, um einer von den Kälte-Unbillen der Natur eingeschlossenen Gemeinschaft ordentlich einzuheizen (!).

Und "Whiteout" überzeugt in jeder Hinsicht: glaubhafte Charaktere, eine spannende Story mit einigen hübsch gemeinen Wendungen und - gleichsam über all dem thronend - wunderbare Schwarzweiß-Zeichnungen, wie man sie so tatsächlich noch nicht gesehen hat. Mit einer Detailfreudigkeit, die ihresgleichen sucht, lassen uns Autor Rucka und Zeichner Lieber die Kälte förmlich am eigenen Leib spüren - eine Kälte, die schon von den Protagonisten Besitz genommen und zu einer Vergletscherung ihrer Gefühle und auch der Lebensentwürfe geführt hat.

Und, um Irrtümern gleich vorzubeugen, damit ist definitiv kein Befindlichkeitsschmus gemeint. Ein atmosphärisch dichter, zum Teil recht harter Plot sorgt für klassischen Suspense, die Zeichnungen passen sich dem kongenial an. Wie man aus dem Nachwort von Steve Lieber erfährt, hat dieser die verschiedensten Techniken und Hilfsmittel (inklusive Fingerabdrücke) verwendet, um unterschiedliche Texturen und Weißtöne für die schneeverwehte Szenerie zu kreieren. Harte Schwarz-Weiß-Kontraste fehlen, beinahe weichgezeichnet erscheinen manche Passagen. So wie jene, die den titelgebenden whiteout ins Bild setzen: einen Sturm, der mit einer Geschwindigkeit von bis zu 320 km/h heran fährt und die Minustemperaturen in dreistellige Bereiche rasseln läßt, sodaß man die Hand vor Augen nicht mehr sieht, geschweige denn spürt. Ein Horizont existiert dann einfach nicht mehr.

Daß sich übrigens auch Hollywood von dem eisigen Thrill angetan zeigen würde, war letztendlich zu erwarten. Daß man die lesbisch angehauchte Carrie Stetko mit ihrer unterspickten Rubensfigur dann zur brav-heteroorientierten und dem US-Idealmaß des beginnenden 21. Jahrhunderts entsprechenden Kate Beckinsale mutieren ließ, ist halt systemimmanent und sollte die Vorfreude auf den von Dominic Sena ("Passwort Swordfish") inszenierten und voraussichtlich im kommenden Herbst anlaufenden Film nicht trüben.

 

In der Fortsetzung, "Whiteout: Melt", ausgezeichnet mit dem Eisner Award für die beste Miniserie, kehrt Carrie übrigens wieder zurück ins Eis. Eigentlich wollte sie in ihrem Urlaub ja die Wärme Neuseelands genießen. Doch 14 tote Polarforscher, verschwundene Atomwaffen und das nicht eben zur Entspannung beitragende resolute Auftreten russischer Söldner sind Grund genug, wieder ihre Dienste anzufordern. Setzte "Whiteout" eher auf Fingernagelkau-Spannung und eine bedrückende Stimmung des Eingeschlossenseins, so stellt "Whiteout: Melt" die Action-Variante eines Antarktis-Thrillers dar. Was auch nicht das Schlechteste und im Grunde völlig naheliegend ist. Denn:

 

"Es war Krieg. Jedes andere Wort wäre schlicht und einfach Blödsinn."

(Aus: "Whiteout: Melt")


Und das läßt eigentlich nur eine Frage offen: Wann gibt´s das dritte Eis?

Thomas Fröhlich

Greg Rucka & Steve Lieber - Whiteout

ØØØØØ

Cross Cult (Asperg 2007)

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Links:

Greg Rucka & Steve Lieber - Whiteout: Melt

ØØØØ 1/2

Cross Cult (Asperg 2008)

Leserbewertung: (bewerten)
Links:

Whiteout - der Film


USA 2009

Regie: Dominic Sena

Darsteller:  Kate Beckinsale, Gabriel Macht, Tom Skerritt u. a.

 

(Voraussichtlicher US-Starttermin: 11. 9. 2009)

Links:

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