Print_Print-Tips 6/2004

Ein Sinn für Wunder

Die Zukunft ist auch nicht interessanter als die Vergangenheit: Da treten Alien-Artefakte gegen Hardboiled-Helden an, und Sherlock Holmes gegen Shub-Niggurath.    28.09.2004

 

Jürgen Fichtinger & Peter Hiess

Herbert W. Franke - Sphinx_2

(dtv premium)


Der Physiker und Elektronikkünstler Franke, geboren in Wien, ist einer der bekanntesten deutschen Science-Fiction-Autoren und legt mit seinem aktuellen Buch ein Alterswerk vor, das vom Verlag fälschlicherweise als "großer Gentechnik-Roman" beworben wird. "Sphinx_2" ist jedoch viel mehr als das - nämlich eine nach klassischem Muster aufgebaute und erzählte Utopie bzw. Dystopie, deren anfangs ahnungsloser Held durch seine Erlebnisse die Welt erklärt, in der er lebt. Es ist eine Welt mit Kuppelstädten für die Reichen und umweltverseuchten Landstrichen für die weniger Wohlhabenden, eine Welt, in der zwei feindliche, aber auf ihre Art gleich diktatorische Politsysteme herrschen, eine Welt, in der Menschen wie der Protagonist als Klon-Ersatzteilbanken für VIPs gezüchtet werden und eine sinnentleerte, überwachte Existenz führen. Ob und wie in einer solchen Gesellschaft Widerstand möglich ist und welche Gefahr Künstliche Intelligenzen darstellen, das wird in Form einer konventionellen Romanerzählung, aber auch durch Tagebucheintragungen, offizielle Verlautbarungen und Verhörprotokolle berichtet. Ein getragenes, aber sehr lesenswertes Werk.

 

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Jack McDevitt - Chindi

(Ace Books)


In einer 100 bis 200 Jahre entfernten Zukunft beherrscht die Menschheit den überlichtschnellen Raumflug, hat aber auf ihren Reisen durchs All keine hochentwickelten Zivilisationen entdeckt - nur Ruinen ausgestorbener oder durch interne Konflikte ausgerotteter Alien-Rassen, niedrige Lebensformen und eine Welt, deren Bewohner kurz davor stehen, einander mit Atomwaffen zu vernichten. Erst eine Expedition der Contact Society, die immer noch hofft, wirklich intelligentes Leben aufzuspüren, führt zur Entdeckung fremder Beobachtungssatelliten, eines galaktischen Funknetzes und eines gigantischen außerirdischen Artefakts. Die Abenteuer dieser Expedition im Raumschiff der erfahrenen Kapitänin Priscilla Hutchins führen von einem "Sense of Wonder"-Höhepunkt zum nächsten, sind Action-geladen, technisch versiert und aufregend erzählt. So soll Hard-SF sein, wenn sie mit alten Größen wie Arthur C. Clarke mithalten will. Gibt´s auch auf deutsch, aber da ist schon das Cover abschreckend.

 

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Mark Frost - Sieben

(Heyne)


Endlich neu aufgelegt: "The List of 7" (nachdem der Roman schändlicherweise jahrelang vergriffen war). Erzählt wird die - natürlich fiktive - Geschichte Arthur Conan Doyles, der durch eines seiner ersten Manuskripte in eine gar teuflische Verschwörung verstrickt wird und gemeinsam mit dem Geheimagenten Jack Sparks um Leib und Seele fürchten muß. Auf Frosts Konto geht übrigens auch die TV-Serie "Twin Peaks", die er gemeinsam mit David Lynch kreierte (wer´s nicht weiß!).

 

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Michael Reaves & John Pelan (Hrsg.) - Shadows Over Baker Street

(Ballantine Books)


Doyles weltberühmter Detektiv Sherlock Holmes lebt auch nach dem Tod des Autors in zahlreichen Romanen und Kurzgeschichten anderer Autoren weiter - so wie in dieser Anthologie, die den messerscharfen Kombinierer mit der Welt Cthulhus und der Großen Alten aus den Werken H. P. Lovecrafts (und wiederum dessen Nachfolgern) zusammenführt. An sich eine großartige Idee, an deren Umsetzung sich hier bekannte Autoren wie Brian Stableford, Barbara Hambly, Simon Clark und andere versuchen. Die erste Story aus der Feder Neil Gaimans ist auch tatsächlich ein Meisterstück, das dann alle nachfolgenden Geschichten in den Schatten stellt. Und das liegt daran, daß die meisten nach ein und demselben Muster funktionieren und sich somit einfach nicht im Hirn des Lesers festsetzen wollen. Vielleicht klappt´s ja beim zweiten Band (wenn denn einer kommen sollte).

 

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Christie Golden - Warcraft: Der Lord der Clans

(Dino/Panini)


Wieder einmal ein Roman nach einem der beliebtesten Echtzeitstrategie-Computerspiele der letzten Jahre. In "Warcraft 3", der bisher letzten Inkarnation des Games, tauchte ein junger Ork namens Thrall ("Sklave") auf, der neuerdings die Horde der brutalen Grünhäutigen anführt und sie aus der Gefangenschaft zu neuen Siegen führt. Der vorliegende Roman der hauptsächlich als Merchandising-Autorin tätigen Christie Golden schildert, wie es so weit kommen konnte: Versoffener Menschenritter beschließt, das Ork-Baby selbst aufzuziehen, trainiert Thrall später zum Gladiatorenkämpfer, behandelt ihn aber so schlecht, daß das sehr wohl zu Gefühlen fähige "Monster" irgendwann ausbricht und beschließt, seine Artgenossen aus den Lagern der Menschen zu befreien. Flott geschrieben und wie immer, wenn einmal vom Standpunkt der "anderen" aus erzählt wird, ganz amüsant.

 

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George P. Pelecanos - Shoedog

(Warner Books)


Fernab seiner historischen Washington-Trilogie, der Nick-Stefanos-Abenteuer und der Derek-Strange-Romane steht dieses Pelecanos-Buch. Der Held des gerade neu aufgelegten Hardboiled-Romans ist nämlich der ruhelose Herumtreiber Constantine, der nie zu lange an einem Ort verweilt und emotionale Bindungen jeglicher Art scheut. Als ihn seine Wege als Anhalter ins Auto des alten Ganoven Polk führen, bahnt sich dank brüderlich geteilter Zigaretten und der Aussicht auf eine Menge Geld beinahe so etwas wie eine Freundschaft an. Doch bei dem geplanten Doppelraub auf zwei Spirituosenhändler läuft etwas schief, und Polk geht drauf. Nebenbei hat Constantine ein Verhältnis mit der Braut des manipulativen Auftraggebers angefangen. Höchste Zeit also, reinen Tisch zu machen - und genau das tut der Protagonist auch. Lesenswert, wie jeder Pelecanos.

 

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Bill Fitzhugh - Fender Benders

(Harper Torch)


Egal, für welche Welt sich Fitzhugh entscheidet - sei es die der Pharmaindustrie in "Organ Grinders", der Kammerjäger/Profikiller in "Pest Control" (dt. Titel "Der Kammerjäger") oder der katholischen Kirche/Werbeindustrie in "Cross Dressing" (dt. Titel "McJesus) - jeder Roman ist ein Treffer voll irrwitziger Einfälle, liebenswerter Charaktere und gelungener Pointen. So verhält es sich auch mit "Fender Benders", der Geschichte des Journalisten Jimmy Rogers. Rogers will die Biographie des jungen Country-Sängers Eddie Long schreiben, dessen Laufbahn er seit dem ersten Auftritt verfolgt. Als Longs Frau ermordet wird, danach Selbstmord begeht und schließlich einem Raubmord zum Opfer fällt (wie sowas geht, das müssen Sie schon selbst lesen), steht der Karriere des aufstrebenden Musikers nichts mehr im Wege, und er braust gen Nashville. Dort erwarten ihn allerdings nicht nur Ruhm und Ehre, sondern auch zwei knallharte Produzenten und ein habgieriges Luder (Megan, die zufälligerweise zuvor mit Herrn Rogers liiert war). Die Freundschaft geht entzwei - und Jimmy fördert vermeintlich Erstaunliches in Eddies Vergangenheit zutage. Großartig.

 

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Joan Lindsay - Picknick am Valentinstag

(dtv)


Australien, um 1900: Ein paar Schülerinnen eines exklusiven Mädcheninternats verschwinden während eines Picknicks am Hanging Rock spurlos. Was sich nach einer angestaubten Mystery-Story für Großmütterchen anhört, entpuppt sich als hypnotisch spannendes Lesevergnügen. Joan Linsday gelingt es mühelos, den Leser in ihren Bann zu ziehen und vor ihm ihre literarische Welt zu entfalten, während die eigentliche Vermißtengeschichte immer mehr in den Hintergrund tritt. Daß im entscheidenden Moment wieder kleine Hinweise eingestreut werden und man hinter die Fassade der "ehrenwerten" Dorfbewohner blicken darf, erhält die Spannung. Das Ende des Romans durfte übrigens erst 20 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung publiziert werden. Als Zusatz gibt es ein Alternativende vom deutschen Übersetzer.

 

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Ursula Vossen (Hrsg.) - Von Neuseeland nach Mittelerde: Die Welt des Peter Jackson

(Schüren)


Wer hätte wohl gedacht, daß Mr. "Bad Taste" Jackson einmal einen derartigen Erfolg haben würde? Niemand. Doch mit Filmen wie "Braindead" und "Meet the Feebles" schuf sich der Neuseeland-Bär schon sehr früh eine treue Fangemeinschaft. Inzwischen machte er mit seinen "Herr der Ringe"-Filmen Kinogeschichte, und die Kritiker können ihn nicht mehr ignorieren (ernstzunehmende taten dies ohnehin nie, spätestens seit "Heavenly Creatures"). Und so verwundert es auch nicht, daß sich ein paar kluge Köpfe zusammengetan haben, um teils Fakten zusammenzutragen, teils aber auch furchtbar zu schwadronieren.

 

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Alan Moore - League of Extraordinary Gentlemen #2

(Speed Comics)


Zum zweiten Mal führt Alan Moore die größten Helden der viktorianischen Literatur in seiner "Liga der außergewöhnlichen Gentlemen" zusammen: Rider Haggards großen weißen Jäger Allan Quatermain, Jules Vernes Captain Nemo, Bram Stokers Mina Murray, Robert Stevensons Dr. Jekyll (und Mr. Hyde) sowie H.G. Wells Unsichtbaren Griffin. Diesmal trifft die illustre Abenteuergruppe im Dienste ihrer Majestät (Captain Nemo natürlich ausgenommen) auf die außerirdische Bedrohung aus Wells´ "Krieg der Welten". Doch auch in den eigenen Reihen keimt das Böse. Moore gewährt in Band zwei tiefere Einblicke in das Innenleben seiner Recken und wartet mit intensiven zwischenmenschlichen (und stellenweise keineswegs erfreulichen) Momenten auf. Wie schon Band eins ein wunderbares - und natürlich mitreißendes - Lesevergnügen.

 

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Das Synonymwörterbuch

(Dudenverlag)


In Zeiten von E-Mail-Sprache und SMS-Kürzeln muß man eigentlich froh sein, wenn sich jemand noch halbwegs klar und verständlich ausdrücken kann. Weil es den eigenen Sprachschatz ständig zu erweitern und Wortwiederholungen prinzipiell zu vermeiden gilt (nein, wir reden hier nicht von pseudowissenschaftlichen Anglizismen, die einen klaren Satz bis zur Unkenntlichkeit entstellen, damit der Benutzer gescheiter klingt, als er ist), sollte der "Synonym-Duden" in keinem Haushalt fehlen. Nebenbei ist er wahrscheinlich das erste Nachschlagewerk seiner Art, das durch Extrakästchen für "brisante Wörter" zum Schmunzeln anregt. So sollen in Hinkunft politisch überkorrekte Ausdrücke wie "Arbeitsmigrant" oder "ausländischer Mitbürger" statt "Ausländer" verwendet werden - oder "Alkoholkranker" statt "Trunkenbold". Das kann doch nicht euer Ernst sein, Burschen! Zusätzlich zur regulären Ausgabe gibt es den "Synonym-Duden" auch inklusive CD-ROM. Kaufen und studieren.

 

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Martin Compart - Crime TV

(Bertz)


Auch nach vier Jahren immer noch DIE Bibel, wenn es um Krimiserien geht. Noch nie wurde im deutschen Sprachraum ein so umfassendes und vor allem gelungenes Werk über Fernsehkrimireihen veröffentlicht. Über eine aktualisierte Version würden nicht nur wir uns freuen. Lesen Sie dazu die ausführliche EVOLVER-Besprechung.

 

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