Joel Lane - Lost District
ØØØØ
(Night Shade Books)
"Nothing ever changes. We just tell ourselves it does."
Man kann, wenn man will, Joel Lane als Kartographen betrachten. Die 24 Kurz- und Kürzestgeschichten in The Lost District führen auf jeden Fall von den geheimen, versteckten Plätzen städtischer und vorstädtischer Landschaften zu jenen der menschlichen Psyche. Gut, das gab´s alles schon - die Seele ist bekanntlich ein weites Land und so weiter. Macht aber nichts. Bei Lane haben wir es nämlich mit einem ziemlich desolaten (britischen) Hinterland zu tun, angesiedelt in einer nahen Zukunft, zu deren Schilderung der Autor unter anderem den allseits bekannten Thatcherismus (abgeschmeckt mit ein wenig EU-immanenter Dauerkrise) in einer postindustriellen Szenerie konsequent zu Ende denkt. Heruntergekommene Straßenzüge, aufgelassene Fabriken, dreckige - und illegale - Bars und Wohnhäuser, die nur noch Ruinen ihrer selbst sind, bilden das Setting für Lanes Protagonisten. Sein Personal rekrutiert sich aus Alkoholikern, Junkies, Nekrophilen oder einfach nur Eltern auf der Suche nach ihren verschwundenen Kindern. Gemeinsam ist ihnen allen der Weg in die verlorenen und verbotenen Zonen der Stadt, die Hoffnung auf Erlösung - oder wenigstens den ultimativen Kick: ein Pornodarsteller, der sich ausschließlich über seine (berufsbedingten) Wunden und Narben definiert; ein Musiker, der sich von einem toten Sänger verfolgt fühlt; ein Säufer auf der Straße zum Land aus Glas, das ihm in üblen Spelunken verheißen wurde; oder eine Schriftstellerin, deren veröffentlichte Erzählungen in einer Neuausgabe seltsam verändert erscheinen - und damit auch ihre eigene Realität nachhaltig (und nicht unbedingt zu ihrem Vorteil) beeinflussen.
Es sind astreine Horrorstorys, die Joel Lane hier vorlegt, allerdings unter Hinzunahme einer melancholisch anmutenden Posie, die auch den krudesten Phantasien innewohnt (wie etwa jener von den gelangweilten Büroangestellten, die den nahen Friedhof gleichsam zur Snackbar umfunktionieren). Fernab aller Gothic-Klischees liefert Lane in The Lost District einen mustergültigen Erzählband ab, der William-Burroughs-Leser genauso in seinen Bann ziehen dürfte wie Joe-Lansdale- oder auch Poppy-Z.-Brite-Fans. Mit letzterer verbindet ihn auch die zugegebenerweise etwas lästige Vorliebe, eigene sexuelle Befindlichkeiten auch ohne dramaturgische Notwendigkeit in die Geschichten einfließen zu lassen (Schwulsein ist ja soooo interessant!). Doch darf man bei Joel Lane dennoch gerne darüber hinwegsehen: Wer vor dermaßen vielen und brillant abseitigen Ideen förmlich übersprudelt und diese auch noch sprachlich pointiert umsetzt, wie er es auch schon in seinem Vorgänger-Erzählband The Earth Wire getan hat, darf sich durchaus den einen oder anderen Spleen leisten.
Zudem erweist sich Lane in all seinen Kurzgeschichten als ein Meister des jeweils letzten Satzes. Und (nicht nur) der fräst sich ins Hirn des Lesers wie ein gut geführtes Skalpell.
Und bleibt dort.
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